"Solche Menschen braucht Europa"

Laudatio von Kardinal Lehmann auf EU-Parlamentspräsident Martin Schulz anlässlich der Verleihung des "Hammer-Preises"

Datum:
Donnerstag, 8. Oktober 2015

Laudatio von Kardinal Lehmann auf EU-Parlamentspräsident Martin Schulz anlässlich der Verleihung des "Hammer-Preises"

Wir dokumentieren im Folgenden den Text des Redemanuskriptes von Kardinal Lehmanns Laudatio zur Verleihung des Hammer-Preises 2015 der Kreishandwerkerschaft Mainz-Bingen an Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, am 08.10.2015 in Mainz (Gutenberg-Museum). Es gilt das gesprochene Wort.

Die Kreishandwerkerschaft Mainz-Bingen hat beschlossen, mit dem Hammer-Preis alle zwei Jahre einen Menschen des öffentlichen Lebens zu ehren, der mit Worten und Taten dem Handwerk zur Seite steht. Ich freue mich, dass für dieses Jahr Herr Präsident Martin Schulz ausgezeichnet wird und vor allem auch, dass er in diesen äußerst angespannten Wochen die Zeit findet, diesen Preis in Mainz in Empfang zu nehmen. Ich habe die Ehre, als der Preisträger des Jahres 2013 die Laudatio zu halten, tue dies sehr gerne und trage diese Entscheidung mit Freude mit.

Ich will dies in drei kurzen Gedankengängen mit folgender Motivierung begründen: Einmal im Blick auf das Leben von Herrn Präsident Schulz im Ganzen, seinen langen Einsatz für ein wirklich gemeinsames Europa, das er besonders nachdrücklich in seinem Buch „Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance" (Berlin, Rowohlt-Verlag 2013, es gibt schon eine zweite Auflage im Jahr 2013) vertieft und seine Nähe zum Handwerk, die ja für die Preisverleihung wichtig 

I.

Nicht jede Biografie sagt auch zugleich viel aus über den Menschen, der mit ihr zusammenhängt. Im Fall von Herrn Präsident Martin Schulz ist es, so denke ich, anders. Aber auch da ist Vorsicht geboten, denn diese Lebensgeschichte lässt gerade in der ersten Hälfte seines Lebens nicht ohne weiteres auf das schließen, was nachher geworden ist. Umso mehr lohnt es sich, dieses Leben eines Menschen, der im Kreuzungsgebiet von Belgien, Holland und Luxemburg auf deutschem Boden geboren und aufgewachsen ist, genauer zu betrachten. Martin Schulz ist am 20.12.1955 in Hehlrath geboren, heute zu Eschweiler gehörend. Seine Vorfahren waren im Bergbau tätig. Der Vater war Polizist. Er besuchte das katholische Heilig-Geist-Gymnasium im heutigen Würselen. Er verließ die Schule nach der Mittleren Reife. Aufgrund seiner Talente wollte er ursprünglich Profi-Fußballspieler werden, musste aber wegen einer Verletzung seine Karriere vorzeitig beenden. Dies waren für den jungen Martin Schulz eine harte Herausforderung und ein schwerer Schlag. Mit einer erstaunlichen Offenheit erzählt er selbst, dass er danach dem Alkohol verfiel und alles verlor: Freunde, Wohnung, Arbeit. Er war 24 Jahre alt und sah keinen Ausweg für ein sinnvolles Leben. Er hat heute im Rückblick keine Hemmungen zu sagen: „Ich war mal ganz unten in der Gosse". Aber er konnte auch mit großer Kraft und Intensität das Steuer herumwerfen und überwand für immer die Sucht. Schon vorher hatte er eine kaufmännische Ausbildung als Buchhändler gemacht. Er war in den folgenden Jahren bei verschiedenen Verlagen und Buchhandlungen tätig. Im Jahr 1982 gründete er eine eigene Sortiments- und Verlagsbuchhandlung in Würselen, deren Mitinhaber er bis 1994 war. Heute führt eine frühere Mitarbeiterin die Buchhandlung, die in Würselen noch existiert.

Schon früh zeigt sich die politische Neigung. Er trat mit 19 Jahren 1974 in die SPD ein. Hier hat er sich vor allem bei den Jungsozialisten engagiert und wurde 1984 in den Stadtrat von Würselen gewählt. Fast zwei Wahlperioden, insgesamt 14 Jahre, gehörte Martin Schulz dem Stadtrat an und hat dort von unten auf politische Erfahrungen gesammelt. Im Jahr 1987 wurde er Bürgermeister von Würselen. Er war damals der jüngste Bürgermeister von Nordrhein-Westfalen. Man spürt diese lange Zeit der Tätigkeit auf der Gemeindeebene, denn Martin Schulz denkt bei höchster Verantwortung auch heute immer noch und immer wieder an „die da unten". Er schaut immer auf die konkreten Wirkungen und Folgen von Beschlüssen im täglichen Leben und an der „Basis".

Bei der Europawahl im Jahr 1994 wurde Martin Schulz ins Europäische Parlament gewählt. Von 2000 bis 2004 war er Vorsitzender der deutschen SPD-Landesgruppe. Seit der Europawahl 2004 hatte er den Vorsitz der sozialistischen Fraktion im Europa-Parlament inne. 2009 wurde er neuer Europa-Beauftragter der SPD, um die Parteiarbeit mit der EU-Ebene zu koordinieren. Martin Schulz erlangte in diesem Zusammenhang immer mehr Aufmerksamkeit. Im Streit um die Wahl des Präsidenten der Kommission fand man nach einigem Hin und Her eine informelle Einigung, zu der auch gehörte, dass Martin Schulz im Jahr 2012 dem polnischen Mitglied der EVP, Jerzy Buzek, als Präsident des Europäischen Parlamentes nachfolgen sollte. Am 17.01.2012 wurde Martin Schulz bereits im ersten Wahlgang mit der erforderlichen Mehrheit zum Präsidenten des Europäischen Parlamentes gewählt. Im Jahr 2014 wurde er auf dem Kongress der Europäischen Sozialisten mit 91,1 % der Stimmen zum gemeinsamen Spitzenkandidaten für die Europa-Wahl 2014 gewählt. Die Präsidentschaft der Kommission konnten die Sozialisten mit ihren Verbündeten zwar nicht besetzen, aber Martin Schulz wurde am 01.07.2014 mit fast 70 Prozent erneut zum Präsidenten des Parlaments gewählt. Zehn Jahre hatte er den Vorsitz der Fraktion inne, die seit 2009 den Namen Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament trägt.

Seitdem hat sich die Stellung von Martin Schulz auf der Europäischen Ebene überhaupt nicht nur gefestigt, sondern seine Autorität ist immer mehr gewachsen. Dazu haben ein wenig auch einige berühmte Kontroversen beigetragen, wie 2003 mit dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi wegen seiner Doppelfunktion als Regierungschef und als Medienunternehmer. Er sprach von einem „Virus der Interessenkonflikte". Bei einer anderen Gelegenheit, als er 2014 in der Knesset den israelischen Siedlungsbau kritisierte und die gerechte Verteilung der Wasserressourcen ansprach, gab es Entrüstung, freilich auch Unterstützung. Auch andere Politiker haben in der Knesset ähnliches erfahren.

Aber es waren natürlich auch und zuerst andere Faktoren, die seinen Ruf stärkten: sein Redetalent, seine Sprachenkompetenz, seine rasche Reaktionsgeschwindigkeit, die Treffsicherheit und Schlagfertigkeit seiner Antworten. Aber er ist bei aller Heftigkeit der Reaktion und bei allem temperamentvollen Einsatz präzise und am Ende auch immer wieder kompromissbereit. Dies hat ihm auch von Gegnern immer viel Anerkennung und Respekt verschafft. Und bei aller Treue zum sozialdemokratischen und sozialistischen Erbe konnte er die Qualitäten und Verdienste von Menschen in anderen Parteien anerkennen. So ist dies gegenüber Angela Merkel bekannt.

II.

Solche Menschen braucht Europa. So wie Martin Schulz sich in einer erstaunlichen Karriere aus einer desolaten Situation herausarbeitete und damit auch besonders jungen Menschen vorlebte, dass es sich auch bei einem großen Missgeschick lohnt, sich von Hindernissen zu befreien und nach oben und in die Zukunft zu streben, so gibt es in unserer Gesellschaft auch für andere ähnliche Chancen. Wenn dies gelingt, ist freilich ein selbständiges Urteil mit Entschiedenheit und Zivilcourage notwendig. Dies ist nicht die Stunde von Funktionären und Glücksrittern, sondern es setzt einen festen erkannten Willen und auch eine Konsequenz im eigenen Leben voraus. Der Präsident des Europäischen Parlamentes ermutigt damit alle Menschen, besonders die jungen, bei einem Straucheln nicht aufzugeben.

Martin Schulz hat diese Einstellung und dieses Temperament in sein Engagement für Europa eingebracht. So begeistert er dafür auch noch ist, hat er doch Sorge, diese großartige Idee könne zu einem Scheinriesen werden. Unter der Überschrift „Ein zu sicher geglaubter Friede" schreibt er in seinem Buch: „Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance", Berlin 2013, gleich zu Beginn: „Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ist das Scheitern der Europäischen Union ein realistisches Szenario. Dieses Scheitern ist nicht unabwendbar, aber es wird immer häufiger diskutiert und hat für manchen seinen Schrecken verloren. Vor ein paar Jahren wäre das noch unvorstellbar gewesen. Inzwischen hat sich die Stimmung radikal gewandelt und die öffentliche Debatte wird von EU-kritischen Tönen dominiert. Darum schreibe ich dieses Buch. Es ist ein Buch, in dem ich die Idee der europäischen Einigung verteidigen will. Ich bin davon überzeugt, dass sie zu den wichtigsten Errungenschaften der vergangenen hundert Jahre gehört. Deshalb können die europäischen Bürger auch stolz darauf sein, dass dieses Aufbauwerk im Dezember 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist." (S. 7) Am Ende dieses Buches bekennt Martin Schulz, dass er stolz ist, ein Europäer zu sein. (vgl. S. 265-268). Aber dies ist nicht erreichbar ohne den Mut zu grundlegenden Entscheidungen. Martin Schulz ist überzeugt, bei der Vielzahl von Problemen gehe es am Ende nur um eine Frage: „In welchem Europa wollen wir leben? Hierfür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Optionen und Alternativen. Deshalb werden wir uns der Mühe unterziehen müssen und eine breite Diskussion führen: Wollen wir ein soziales und ein solidarisches Europa, das versucht, seine Kräfte zu bündeln? Oder wollen wir ein Europa, in dem nur der Wettbewerb zählt und nationale Standortpolitik betrieben wird? Wollen wir unser soziales und demokratisches Gesellschaftsmodell auch im 21. Jahrhundert verteidigen, oder wollen wir dem angloamerikanischen oder dem chinesischen Gesellschaftsmodell folgen. Wollen wir international für eine Weltinnenpolitik eintreten, die das Völkerrecht zum Maßstab nimmt, oder wollen wir als Falken die Militarisierung der Außenpolitik vorantreiben? Über diese Frage möchte ich gerne streiten. Dieser Streit muss geführt und entschieden werden, damit wir über die politische Richtung bestimmen, die Europa einschlagen soll." (S. 262ff)

Ich bin überzeugt, dass diese Einstellung mit ihrem leidenschaftlichen Mut an die Bereitschaft und Vision der Gründergeneration des neuen Europa anknüpft und diese fortführt. Dies beginnt bei Churchills Mahnungen gegen Kriegsende und geht über Adenauer, de Gasperi, de Gaulle und viele andere bis eben zu den Männern von heute wie Martin Schulz und andere. Gerade heute dürfen wir für sein unentwegtes Engagement dankbar sein, für die vielen Reisen, die unendlichen Dialogversuche und das unverdrossene Ringen. Matin Schulz ist ein solcher leidenschaftlicher Europäer, der auch den Konflikt nicht scheut.

III.

Präsident Martin Schulz erhält vom Kreishandwerk Mainz-Bingen den sogenannten Hammer-Preis. Der Preisträger erhält - wie schon gesagt - einen geschichtsträchtigen Hammer aus einem Gewerk des Handwerks. Was hat Präsident Martin Schulz mit dem Handwerk und einem solchen Hammer zu tun?

Es ist zunächst einmal seine Herkunft. Er wird uns vielleicht selbst sagen, wie er in seiner Ahnenreihe tüchtige Handwerker hat. Er ist stolz auf sie. Erst vor kurzem hat er mir in Berlin davon erzählt. Von da aus kann er auch die oft harte Arbeit des Handwerks schätzen. Im Miteinander am Bau und an einem „Werk" weiß man besser um Solidarität als vielleicht anderswo. Das Handwerk in seinen vielen Spielarten gehört in ganz besonderer Weise auch zu Europa, zu seinen Bauten und Denkmälern. Sie findet nicht zuletzt auch in unseren Domen, in den Handwerkszünften und ihren Bräuchen lebendigen Ausdruck. Wer aus der Nähe von Aachen kommt, dem ist dies so geläufig wie einem Menschen aus unserer Region, sei es Mainz oder Bingen.

Martin Schulz hat von dem neuen Europa nicht die Vision, alles müsse neu aus dem Boden gestampft werden. Er ist gewiss kein Konservativer, der nichts verändern könnte und wollte. Aber er ist auch keiner, der vieles aus unserer Tradition modernistisch preisgibt und alles eintönig niederwalzen und einebnen würde. Für diesen Wert der Überlieferung stehen eben auch für ihn das Handwerk und seine Kunst.

Dies gilt aber noch in einer zweiten Hinsicht für unsere Gegenwart und auch für Martin Schulz. Auf europäischer Ebene soll es gewiss auch gemeinsame Spielregeln für das Handwerk geben. Wir sind in Deutschland überzeugt, dass wir dabei einiges erworben haben, was vielleicht der Erneuerung, aber nicht einfach einer totalen Umgestaltung bedarf. Es ist dies z.B. der duale Ausbildungsgang im Handwerk und auch die Bedeutung z.B. des Meistertitels. Hier hätten wir etwas zu verlieren, wenn man auf diese Errungenschaften verzichten würde. Ich bin mir aus anderen Erfahrungen und manchen Gesprächen gewiss, dass das Handwerk selbst und auch die politischen Vertreter, die für es eintreten und es schätzen, dafür kämpfen werden. Ich bin mir auch gewiss, dass das Kreishandwerk bei der Auszeichnung Ihrer Person, Herr Präsident, an diese Ihre Nähe zum Handwerk und gewiss auch an Ihre Verteidigungsbereitschaft gedacht hat. Ganz gewiss ist der Hammer dafür ein wichtiges Symbol und auch ein wichtiges Werkzeug. „Draufhauen" können Sie ja. Mit dem Hammer geht es noch besser.

Herr Präsident Schulz, ich darf Ihnen zu dieser Auszeichnung herzlich gratulieren. Es freut mich, dass wir beide die ersten beiden Preisträger sind. Vor allem möchte ich Ihnen danken, dass Sie heute zu dieser Preisverleihung nach Mainz gekommen sind. Wenn ich in die Zeitung hineinschaue und die Bilder betrachte, wie Sie gestern mit Francois Hollande und Angela Merkel im Europa-Parlament in Straßburg waren und heute den Weg zu uns machen, dann sind wir besonders dankbar, aber auch ein wenig stolz. Herzlichen Dank und für alles Gottes Segen!

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz