Solidarität – ein Leitmotiv

Einige Überlegungen zum Verhältnis von Arbeitsmarkt und Kirche ZIRP-Konzert – 60 Jahre Rheinland Pfalz am 10. März 2007 in Mainz, St. Stephan

Datum:
Samstag, 10. März 2007

Einige Überlegungen zum Verhältnis von Arbeitsmarkt und Kirche ZIRP-Konzert – 60 Jahre Rheinland Pfalz am 10. März 2007 in Mainz, St. Stephan

I.

Solidarität und Subsidiarität sind wie zwei wichtige Pfeiler in der Sozialethik, wie sie besonders auch in der kirchlichen Soziallehre schon seit langer Zeit gelehrt werden. Subsidiarität bedeutet die Förderung der Eigenverantwortung statt Fremdverantwortung, von Selbstständigkeit statt Abhängigkeit. Sie fordert den Vorrang des Handelns der kleineren Einheiten gegenüber dem Zugriff der größeren. Zugleich aber verlangt die Subsidiarität die Unterstützung dieser kleineren Einheiten, wenn sie ihre Aufgaben nicht selbst bewältigen können. Während früher dieses so genannte Subsidiaritätsprinzip umstritten war und gelegentlich wenig beachtet worden ist, hat es im jüngsten Europa-Recht eine neue Aufmerksamkeit gefunden und wirkt heute weit über die kirchliche Sozialethik bzw. Soziallehre hinaus.

Subsidiarität steht in enger Beziehung zur Solidarität, ein Begriff der in aller Munde ist, aber am Ende doch nicht so einfach ist wie es scheint. Das Wort, das vom lateinischen „solidus“ herkommt, bezeichnet zunächst den Zusammenhalt einer Gruppe oder der Gesellschaft, und zwar in einer verlässlichen, soliden Form. „Solidum“ heißt ja auch fester Grund und Boden. Dabei kann die Motivierung für den Zusammenhalt von verschiedener Seite her unterschiedlich sein. Man denke z.B. an den Blickwinkel der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Der Einzelne soll jedenfalls für diese zumeist ethisch begründete Form des Zusammenhalts eintreten und sich mit dem Ganzen identifizieren. So ist es auch verständlich, dass der Begriff der Solidarität nach der französischen Revolution (1789) an die Stelle der „Brüderlichkeit“ (fraternité) tritt, ohne dass dieser Begriff einfach verdrängt wird. Im 19. Jahrhundert wird Solidarität zunehmend auch gegen alle Formen der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit abgegrenzt und im Sinne einer sozialen Pflicht und eines sozialen Anspruchs interpretiert. In der Arbeiterbewegung nach 1848 wird Solidarität die durchschlagende politische Parole. Vor allem die Arbeiterklasse bringt damit ihr Zusammengehörigkeitsbewusstsein, ihren Selbstbehauptungswillen und das Ethos der Selbsthilfe zum Ausdruck. Karl Marx benutzt den Begriff in radikaler Form. In der beginnenden sozialwissenschaftlichen Diskussion bekommt Solidarität immer stärker den Grundsinn, ein „soziales Band“ zwischen den Menschen zu bilden. Mehr und mehr soll Solidarität als Integration moderner, funktional differenzierter, arbeitsteiliger Gesellschaften verstanden werden. In der Folgezeit wird Solidarität besonders auch in der christlichen Soziallehre entfaltet, ebenso in allen Konzeptionen, die eine Synthese von Liberalismus und Sozialismus versucht haben, eben einen Ausgleich von Gemeinwohl und Einzelwohl, von Bindung und Freiheit. Weiter braucht in diesem Zusammenhang der Begriff nicht verfolgt zu werden.

Damit ist auch deutlich geworden, wie Solidarität und Subsidiarität zusammengehören. Eine Gesellschaft wird nur dann solidarisch sein, wenn sie dem Einzelnen und den kleineren Einheiten einen möglichst weitreichenden, eigenverantwortlichen Spielraum gibt. Sie wird nur dann dem Leitsatz der Subsidiarität entsprechen, wenn sie dem Einzelnen und den kleineren Einheiten bei Überforderung Hilfe gewährt.

Dieser Zusammenhang scheint mir zuerst wichtig zu sein im Bereich der fundamentalen Lebensmöglichkeiten, die von der nackten Existenz bis zu einem menschenwürdigen Leben reichen. Wenn ein Mitglied einer Gemeinschaft an einem grundsätzlichen Mangel hinsichtlich dieser elementaren Lebensmöglichkeiten leidet, dann ist die Gemeinschaft verpflichtet, ihm wenigstens im Sinne eines minimalen menschenwürdigen Lebens Hilfe zu leisten. Dies ist vor allem notwendig, um die Teilhabe eines jeden an der Entwicklung des menschlichen Lebens sicherzustellen. Durch die gemeinsame Menschennatur und die Gottesebenbildlichkeit bzw. Menschenwürde, die jedem zu Eigen sind, gibt es hier auch die Notwendigkeit, nicht nur den Menschen zu einem Existenzminimum zu verhelfen, sondern auch dafür zu sorgen, „dass möglichst viele Menschen tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl zu erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für sich selbst und andere einsetzen zu können“. Deshalb ist besonders auch die Chancengerechtigkeit wichtig.

II.

In dieser Grundhaltung ist jede Form von Solidarität begründet. Sie kann aber gerade im Horizont des wechselseitigen Nehmens und Gebens nie eine Einbahnstraße sein, sondern setzt immer schon bei der Partnerseite die Bereitschaft zum Geben voraus. Darum ist eine ausgleichende Teilgabe von Lebensmöglichkeiten zunächst auch immer auf die Wiederherstellung der eigenen Fähigkeiten gerichtet. Es ist eine Form der temporären Leihe von Kräften, so wie z.B. die Sozialhilfe ursprünglich eine Art Überbrückungsmöglichkeit ist. Man kann dafür auch das heute viel gebrauchte Wort von der „Eigenverantwortung“ verwenden. An sich würde das Wort „Verantwortung“ schon genügen. Aber die Solidarität, die jemand selbst von anderen her erfährt, setzt voraus und hat zur Konsequenz, dass der von ihr Begünstigte auch seinerseits zu einem konkreten verantwortlichen Mitgestalten der Gemeinschaft bereit ist. Wenigstens in einem Minimum sollte erkennbar sein, dass dieses grundsätzliche Engagement überhaupt existiert. Sonst müsste man ja eher davon sprechen, dass jemand die Gemeinschaft rücksichtslos und schamlos ausnützt und so durchaus auch zu einem „Schmarotzer“ werden kann.

Selbstverständlich ist dies niemals gegeben, wenn einer von Natur oder durch ein erlittenes Geschick schwach ist. Dann bedarf er der solidarischen Unterstützung. Dies wird vielleicht besonders deutlich an chronisch Kranken, an alten Menschen mit ihren Grenzen und nicht zuletzt an behinderten Menschen, die bestimmte Leistungen nicht erbringen können. Hier ist es ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, andere, die an einer solchen Schwäche leiden, an den eigenen Lebensmöglichkeiten teilhaben zu lassen und die Mängel im Rahmen und nach den Möglichkeiten einer Gemeinschaft zum Ausgleich zu bringen. Diese Verantwortung setzt aber voraus, dass auch der Empfänger zu einer – und sei es noch so minimalen – Gegenleistung bereit ist. Der behinderte Mensch kann z.B. - wenn er dazu imstande ist - in einer Behindertenwerkstatt zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Der Arbeitslose sollte nicht zögern, eine weniger attraktive Arbeit anzunehmen und auch vielleicht längere Entfernungen zu akzeptieren, wenn ihm ein Angebot gemacht wird. Es gibt gewiss noch viele Austauschmöglichkeiten im ideellen Bereich.

III.

In diesem Zusammenhang ist dann auch der Begriff der Sozialen Gerechtigkeit angebracht, den ich jetzt nicht voll entfalten kann . In jedem Fall geht es um eine ausgleichende Gerechtigkeit, wie es der recht verstandene Begriff des „Tausches“ im Denken des großen griechischen Philosophen Aristoteles zur Sprache bringt (vgl. die Forschungen von Prof. Dr. O. Höffe, Tübingen).

Die verschiedenen Dimensionen im Verständnis der sozialen Gerechtigkeit kann man vielleicht in folgender Weise zu einer Synthese bringen, wobei ich mich von einigen Formulierungen und Assoziationen Oswald von Nell-Breunings leiten lasse, ohne sie jetzt im Einzelnen nachzuweisen.

Sozial gerecht ist ein Gemeinwesen, wenn es allen Bürgerinnen und Bürgern hilft beziehungsweise ermöglicht, durch ihr eigenes Handeln ihr Wohl zu erreichen. Sozial gerecht handeln Menschen, wenn sie bereit sind, in das Gemeinwesen all das einzubringen, was um des Gemeinwohls willen notwendig ist, ob es gesetzlich vorgeschrieben ist oder darüber hinausgeht. Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Eine Gesellschaft muss sich vielmehr immer wieder vergewissern, was hier und jetzt gerecht ist.

Zunächst einmal enthält diese Definition wohl das, was die meisten unter sozialer Gerechtigkeit verstehen: Ich spreche von sozialer Gerechtigkeit als Eigenschaft eines Gemeinwesens. Doch geht es in diesem ersten Satz nicht um Leistungen allein des Gemeinwesens. Wesentlich ist, dass die Leistungen des Gemeinwesens an die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit des Bürgers rückgebunden sind. Die Leistungen des Gemeinwesens unterstützen den Einzelnen und ermöglichen ihm, selbst dafür tätig zu werden, sein Wohl zu erlangen. Weiterhin geht es um das personale Wohl eines jeden Einzelnen, auf das das Gemeinwohl hingeordnet ist.

Die zweite Aussage betrifft das sozial gerechte Handeln des Menschen: Soziale Gerechtigkeit ist nicht nur das Merkmal eines Gemeinwesens, sondern schließt auch das Handeln von Menschen ein. So wie das Gemeinwesen ist auch jeder Einzelne gefordert, nach seinen jeweiligen Möglichkeiten zum Gemeinwohl und dadurch auch zum Wohl der anderen beizutragen – mit anderen Worten: Solidarität zu üben.

Drittens: Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Es ist für das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zentral, dass die Bestimmung dessen, was sozial gerecht ist, niemals abschließend geschehen kann, sondern kontinuierlich und situationsbezogen vorgenommen werden muss. Für das politische Handeln bedeutet dies die Notwendigkeit einer fortlaufenden Analyse der sozialpolitischen Bemühungen und einer dauerhaften Bereitschaft zur Veränderung. Gerade um des angemessenen Verstehens von sozialer Gerechtigkeit, von Solidarität und Subsidiarität willen, darf man sich Reformen des Sozialen nicht verschließen.

Dass Reformen auch mit Einschränkungen für den Einzelnen verbunden sind, darf keinesfalls übersehen werden. Gerade die Kirche erwartet, dass Zumutungen auch zumutbar sind. Entscheidend ist letztlich nicht der Vergleich mit dem Besitzstand, sondern die Sensibilität für Leistungsfähigkeit einerseits und Bedürftigkeit andererseits. Ist unter diesem Blickwinkel wirklich jede Form von Eigenheimförderung unveränderbar, wirklich jede Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen unzumutbar? Absolut inakzeptabel ist aber gewiss die Tatsache, dass Kinder in vielen Fällen ein Armutsrisiko darstellen.

IV.

In diesem Zusammenhang muss nun auch die Frage nach der Arbeit, Arbeitslosigkeit und dem Arbeitsmarkt gestellt werden. Die Kirche kann selbstverständlich hier nicht die globalen, gesellschaftlich umfassenden Probleme direkt lösen oder lösen helfen. Aber sie kann einzelne Situationen, die sich besonders als schwer überwindbar zeigen, ins Auge fassen. Dazu gehören vor allem die Arbeitslosen in der Jugendszene und nicht zuletzt die Langzeitarbeitslosen. Sie sind exemplarisch im Blick unserer Initiativen. In verschiedenen Maßnahmen, gehen wir seit mehr als zwei Jahrzehnten diesen Problembereichen genauer nach. Dies will ich etwas eingehender und genauer beschreiben.

Seit also mehr als 20 Jahren widmet sich das Ketteler-Cardijn-Werk und die Jugendberufshilfe Gelbes Haus (Offenbach) der Aufgabe, Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen wieder eine berufliche und soziale Perspektive zu eröffnen. Am 18. Mai 2006 (Verfassungstag in Rheinland-Pfalz) gründete sich als Trägerverein dieser beiden Einrichtungen die „Initiative Arbeit im Bistum Mainz e.V.“. Unter ihrem Dach sind derzeit 28 Personen (18,5 Vollzeitstellen) beschäftigt. Diese begleiten insgesamt 173 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in unterschiedlichsten Maßnahmen.

Für so genannte Teenie-Mütter und junge Frauen bis 25 Jahren finden Coachingprojekte und Grundqualifikationen statt. Dabei geht es darum, die in aller Regel alleinerziehenden Frauen zu unterstützen, ihr Leben wieder selbst in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus werden berufliche Perspektiven erarbeitet, um mittelfristig ein Auskommen zu ermöglichen.

Die so genannte Produktionsschule ist ein Angebot in dem in aller Regel nicht mehr beschulbare Jugendliche durch praktische Tätigkeit und theoretischen Unterricht auf den Hauptschulabschluss vorbereitet werden. Hier bieten wir eine Gruppe Holz in eigener Holzwerkstatt und eine Gruppe Verkauf mit einem eigenen Eine-Welt-Laden an.

Im Werkstattkurs Holz/Metall können Jugendliche ebenfalls ihren Hauptschulabschluss nachmachen und berufliche Perspektiven für sich erarbeiten.

Über den Jugendbereich hinaus betreiben wir derzeit drei Teams für Langzeitarbeitslose. Die Großküche in Rüsselsheim, die vorwiegend Frauen im hauswirtschaftlichen Bereich qualifiziert, sorgt für die Mittagsverpflegung von rund 300 Schülerinnen und Schülern an Rüsselsheimer Schulen. Darüber hinaus werden Cateringaufgaben im gemeinnützigen und kirchlichem Kontext erledigt.

Das Team Renovierung kann ebenfalls für gemeinnützige Tätigkeiten beauftragt werden, so waren in der Vergangenheit das Tierheim Rüsselsheim, die Maria-Ward-Schule Mainz oder der Caritasbezirksverband Mainz wichtige Auftraggeber, darüber hinaus werden Räumlichkeiten der Kirchengemeinden und Pfarrhäuser renoviert.

Das Team Garten- und Landschaftsbau kümmert sich schwerpunktmäßig um Außenanlagen bei Kindergärten und Pfarrgemeinden. Außerdem werden noch Aufträge in verschiedenen Kommunen im Rahmen der Projekte „Soziale Stadt“ erledigt.

Darüber hinaus fungiert der Verein Initiative Arbeit im Bistum Mainz e. V. als Förderverein für Arbeitnehmerpastoral; hier werden Projekte aus Pfarrgemeinden und Verbänden unterstützt. So besteht in Mainz-Kostheim ein Café „Regenbogen“ als Treff für arbeitssuchende Menschen, ebenso bietet die Arbeitsloseninitiative Kompass regelmäßige Treffen für Arbeitssuchende an, in denen auch eine qualifizierte Beratung stattfindet. Pfarrgemeinden und Verbände, die sich in besonderer Weise um Arbeitssuchende oder prekär beschäftigte Menschen kümmern, können bei der „Initiative Arbeit im Bistum Mainz e.V.“ eine finanzielle Unterstützung für ihr Projekt beantragen.

Ich will Ihnen auch konkrete Angaben über die Struktur zur Kenntnis geben. Trägermitglieder der Initiative Arbeit im Bistum Mainz e.V. sind:

·Der Caritasverband für die Diözese Mainz sowie die Bezirkscaritasverbände Darmstadt und Offenbach,

·das Seelsorgeamt des Bistums Mainz mit dem Referat Berufs- und Arbeitswelt und der Regionalstelle für Arbeitslosenseelsorge,

·die Katholischen Dekanate Rüsselsheim und Darmstadt,

·der BDKJ-Diözesanverband Mainz,

·der KAB Diözesanverband Mainz sowie das Kolpingwerk Diözesanverband Mainz.

Damit wollte ich einen kleinen Einblick geben in wenigstens einen Bereich der Sorge um Menschen, die zunächst einmal auf den herkömmlichen Foren des Arbeitsmarktes oft vergeblich suchen. Wenn wir auch nicht – wie schon gesagt – die globalen Arbeitsmarkt-Probleme lösen können, so können wir doch im Blick auf das einzelne Individuum, das oft Enttäuschung und Frustration erfährt, ein kleines Licht der Hoffnung entzünden, das weit über den Einzelnen, der Hilfe erfährt, leuchtet und zum Ausdruck bringt, dass die Hoffnung auf eine Wiedereingliederung in die Berufswelt nicht einfach verloren ist.

In diesem Sinne danke ich, gerade auch im Namen der betroffenen Menschen, für die Unterstützung, die die „Arbeit im Bistum Mainz“ durch die Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz (ZIRP) erhält.

(c) Karl Kardinal Lehmann 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz