Trauen wir uns mehr zu

Auf ein Wort

Datum:
Sonntag, 9. Januar 2000

Auf ein Wort

Der Anfang des neuen Jahres, der Start in das Jahr 2000 ist im ganzen, soweit man dies jetzt schon sagen kann, gut gelungen. Der graue Alltag hat uns bald wieder eingeholt, gerade deshalb ist es nützlich, über diese Wende nochmals nachzudenken.

Zwar hat die Kirche immer noch sehr viele Chancen, bei solchen Ereignissen die Menschen anzusprechen. Dies gilt nicht nur für die Gottesdienste, die in vieler Hinsicht gut besucht waren, übrigens auch von den jüngeren Generationen.

Ähnliches kann man auch von den Medien sagen. Ich selbst habe im Zusammenhang von Weihnachten und dem Millennium im Fernsehen, im Hörfunk und in den gedruckten Medien ca. 25 mittlere und größere Beiträge gemacht, sei es in längeren Artikeln, Gottesdiensten oder Interviews. Dabei ging es nicht nur um unmittelbar religiöse Aussagen, sondern auch um Ausführungen im Kontext von Politik und Wirtschaft. Es ergab sich eine gute Gelegenheit, z.B. über die Zeiterfahrung des Menschen und ihre Grenzen ebenso nachzudenken wie die Frage sich vorzulegen, was wäre die Welt ohne das Christentum. Wir haben also viele Chancen, wenn wir sie wirklich wahrnehmen. Man kann auch in sehr kleinen Zeiteinheiten - etwa im Fernsehen - Wesentliches sagen. Man muß es nur lernen. Immer wieder habe ich auch die Sorgfalt und Freundlichkeit vieler Medienschaffender wahrgenommen. Dies gilt gerade auch für die Gottesdienste. Die wenigen Ausrutscher dürfen nicht zu einem Gesamturteil hochstilisiert werden.

Man kann aber noch mehr machen. Die Jahresschlußandachten erfreuten sich immer schon einer großen Beliebtheit. Die Menschen denken am frühen Silvesterabend gerne noch einmal nach, was geschehen ist, und hören gerne eine Besinnung an, die mit den Erfahrungen des vergangenen Jahres und mit künftigen Orientierungen zu tun hat. Aber an dieser Jahreswende 2000 haben mit Recht viele Kirchen und Pfarreien noch andere Wege gesucht, nämlich bis um Mitternacht Einladungen ausgesprochen zur Anbetung und zur Musik, zur Besinnung und zur Stille, zum Gespräch gemeinsam und einzeln mit einem Seelsorger. Es war überraschend, wie viele Menschen z.B. im Mainzer Dom nach der Jahresschlußandacht davon Gebrauch machten. Kleinere ökumenische Gottesdienste von einer halben Stunde fanden bis Mitternacht großen Anklang.

Ein solcher offener Abend in den Kirchen selbst hat sich für viele Leute als gesuchte, willkommene Alternative zum üblichen Rummel vieler Veranstaltungen erwiesen, die sicher viel Fest und Feier - meist nicht gerade billig - bringen, aber nicht gerade die Nachdenklichkeit fördern. Viele Menschen suchen eine andere Weise, mit einem solchen Zeitwechsel umzugehen. Dabei muß sich beides gar nicht völlig widersprechen. Nicht wenige wollen beides, aber es ist jeweils etwas anderes. Menschen, die in diesen Tagen Leid und Schmerz haben, suchen etwas Stille und ein Wort der Ermutigung. Manche, die alleine leben, können die Gemeinschaft finden, die zu ihnen paßt.

Aus meiner Erfahrung bieten solche Tage den Kirchen trotz aller Klagen über den Rückgang des religiösen Interesses vielleicht bisher doch nicht genügend erprobte Chancen. Gewiß, die Zahl der religiös Interessierten läßt sich zwar, wie man sieht, steigern, aber sie mag kleiner sein als früher. Wenn wir uns auch über jeden, der nur zeitweise teilnimmt, freuen, so entscheidet am Ende die Qualität, nicht die Quantität.

Dabei ist es gut, den Mut zu echten Alternativen zu haben und nicht Veranstaltungen zu schaffen, die alle möglichen Dinge miteinander verbinden. Wenn wir unsere ureigene Sache betreiben, Gebet und Besinnung, geistliche Musik und Gottesdienst, dann sind wir immer noch ziemlich konkurrenzlos. Bleiben wir also bei unseren eigenen Fähigkeiten. Wir haben in Tradition und Gegenwart auch viele Formen entwickelt, in denen dies alles auf angemessene Weise erfolgen kann.

Ich möchte vielen, die dazu beigetragen haben und gerade an diesem Abend andere auf diese Weise eine Freude gemacht haben, herzlich danken und möchte dazu einladen sich Gedanken darüber zu machen, was auch in normalen, künftigen Jahren realisiert werden kann, wenngleich in kleineren Maßstäben. Jedenfalls können und sollen wir uns mehr trauen. Wir sind mehr gefragt, als wir oft denken.

Copyright: Karl Lehmann, Mainz
(aus: Bistumszeitung Glaube und Leben, 9. Januar 2000)

 

 

 

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz