Tut die Kirche zu wenig für den Lebensschutz? - Versuch einer Antwort

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Datum:
Sonntag, 6. Juli 2014

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Seit Jahrzehnten ist die Frage der Schwangerschaftsunterbrechung Dauerthema in unserer Gesellschaft. Man muss jedoch genauer zusehen, welchen Verlauf die Problemlage in unserer Gesellschaft genommen hat. Im Grunde wird der Schwangerschaftsabbruch als geradezu selbstverständlich vorausgesetzt. Es ist oft bestürzend, dass nicht so ganz selten ziemlich junge Frauen mehrfach abgetrieben haben. In der Gesellschaft sind wir darum oft etwas abgestumpft und wenig sensibel geworden.

Schnell gibt es Auseinandersetzungen, wenn jemand das Töten der Leibesfrucht in Frage stellt oder gar verurteilt. Zwar ist besonders unsere Kirche immer noch ein Ort, wo man sich ethisch eindeutig gegen die Abtreibung stellt und sie auch durch viele Hilfsmaßnahmen zu verhindern sucht. Aber es ist kein Wunder, dass angesichts der gesellschaftlichen Situation auch die Christen etwas müde werden und an Sensibilität für den Schutz des Lebens des ungeborenen Kindes verlieren. Wir wollen jedoch auch nicht vergessen, dass wir in unseren Nachbarkirchen und auch sonst Allianzen finden.

Deshalb ist es durchaus zu erwarten und auch zu wünschen, dass man sich mit dieser Situation nicht einfach abfindet. Dafür braucht es vor allem den Mut von kleineren Gruppierungen und Gemeinschaften, die sich mit dieser Lage nicht zufrieden geben können. Es gab immer schon neben der offiziellen Stimme der Kirche Gemeinschaften, die hier mit dem, was die Kirche tat, nicht zufrieden waren. Man darf dankbar anerkennen, dass so durch den Einsatz vieler Einzelner und daraus entstehender Gruppen das Bemühen der Kirche verstärkt wurde, wodurch nicht wenige Kinder gerettet wurden.

Ich bin schon länger der Meinung, dass wir nach dem jahrzehntelangen Dauerkampf und anderen problematischen Entwicklungen zum Schutz des Lebens und überhaupt in der Bioethik wieder einen neuen Schwung brauchen, um diese fundamentale Aufgabe der Wahrung des menschlichen Lebens von Anfang an in unserem eigenen Gewissen und in unserem Tun von Neuem einzuschärfen. Insofern begrüße ich Initiativen, die zu einem tieferen Aufwachen auch unserer Verantwortung für das Leben führen. Für das Leben kann man nicht genug tun.

Aber leider gab es darüber auch mannigfachen Streit. Hier gibt es einerseits auf der „fortschrittlichen" Seite Menschen, die sich mit unserer rechtlichen und faktischen Situation des Umgangs mit dem Leben des ungeborenen Kindes abgefunden haben und denen das Auftreten der genannten Gruppen auch oft zu schrill ist.

In der Tat gibt es hier Entwicklungen, die nachdenklich stimmen. Viele Aufrufe der - ich nenne sie einmal verkürzt so - Lebensgruppen klagen die Kirche und auch sehr oft die Bischöfe an, sie würden sich nicht mehr genügend für die ungeborenen Kinder einsetzen. In Wirklichkeit haben aber viele offensichtlich wenig Ahnung, was mit dem Ende der Schwangerenkonfliktberatung Ende 1999 seither in den Diözesen getan worden ist: vielfache Errichtung von Stiftungen oder eigenen Vereinen, Weckung eines stärkeren Bewusstseins in den eigenen Schulen, in den Räten aller Art und in den Gemeinden. Ich darf nur für das Bistum Mainz „Netzwerk Leben", das „Haus des Lebens" und auch die Dekanatsbeauftragten für den Lebensschutz nennen. Die umfangreiche Beratungstätigkeit des „Sozialdienstes katholischer Frauen" kommt hinzu. Hier kann man manchmal schon enttäuscht sein und zornig werden, wenn das, was hier auf vielen Ebenen getan wird, nicht zur Kenntnis genommen wird. Manche führen sich - manchmal leider auch mit einem mehr oder weniger arroganten Unterton - so auf, als ob sie die „besseren" Christen wären.

Schließlich kommt es auch darauf an, wie man öffentlich auftritt. Ich verkenne nicht, dass man die eingeschlafenen Gewissen mit außergewöhnlichen Tönen wecken muss. Aber manches kann dabei auch abstoßend wirken, wenn man z.B. einzelne nachgemachte Embryonen ins Feld schickt und Babyflaschen im Gottesdienst verteilen möchte. Es müsste auch mehr Verständnis dafür vorherrschen, dass es fragwürdig ist, anstelle der amtlichen Kollekten Sammlungen für private Vereine, selbst wenn sie ein untadeliges Anliegen vertreten, in den Gottesdiensten oder im Zusammenhang mit ihnen durchführen zu lassen. Man bringt die Pfarrer und die Bischöfe hier in eine zwiespältige Lage, zumal wenn man die erwähnten Vorwürfe noch in Betracht zieht.

So möchte ich an die Adresse aller katholischen Mitchristen die Bitte richten, die notwendige Stärkung des Bewusstseins für den Lebensschutz nicht mit unglücklichen Polarisierungen zu verbinden und - gewiss ohne Leisetreterei - Rücksicht aufeinander zu nehmen. Wir werden nach allen Seiten hin auf wenig Resonanz bei denen stoßen, die wir gewinnen möchten, wenn wir uns beim notwendigen öffentlichen Zeugnis für das Leben zerfleischen. Schon früh wusste die Kirche auch schon in anderen geschichtlichen Gesellschaftsformen um diesen fundamentalen Auftrag.

In der Zeit der Feier des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren sollten wir darum nochmals die Worte der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes" (Art. 51) hören, die für unsere Situation den Nagel auf den Kopf treffen und auch heute noch die richtige Sprache verwenden: „Gott, der Herr des Lebens, hat nämlich den Menschen die hohe Aufgabe der Erhaltung des Lebens übertragen, die auf eine menschenwürdige Weise erfüllt werden muss. Das Leben ist daher von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuenswürdige Verbrechen."

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

 

Diese monatliche Kolumne von Kardinal Lehmann lesen Sie auch in der gedruckten Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 6. Juli 2014

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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