ÜBER SINN UND BEDEUTUNG DER GEISTESWISSENSCHAFTEN – IM GEGENWIND DES ZEITGEISTES

Datum:
Donnerstag, 30. Juni 2005

Kolloquium zur Vollendung des zwölfbändigen Historischen Wörterbuches der Philosophie, veranstaltet von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie dem Schwabe-Verlag (Basel) am 30. Juni / 01. Juli 2005 in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz in Berlin

Statement aus dem Gespräch der Geisteswissenschaften untereinander, hier besonders der Begegnung zwischen Philosophie und Theologie

Man muss nicht unbedingt ein Cartesianer sein, um beim Wort Begriff an unverrückbare Termini zu denken, die eine Gegebenheit präzise in definierten Bestimmungen auffängt. Descartes hat freilich Klarheit und Bestimmtheit der Begriffe als ein endgültiges Ideal gesehen, das der menschliche Geist erreichen muss. Dann kann nichts Vorläufiges mehr existieren. In diesem Lichte ist so etwas wie eine Begriffsgeschichte letztlich unvorstellbar. Es ist jedoch keine negative Destruktion, wenn der Gang des neuzeitlichen Geistes bei der Entdeckung so vieler Bedingtheiten des menschlichen Daseins und aller kultureller und gesellschaftlicher Gegebenheiten die tiefe Verflochtenheit und Abhängigkeit alles dessen, was ist, entdeckt. Und gerade auch der Geist zeigte sich tief bestimmt durch den Gang der Geschichte, das Netz der Sprache und die gesellschaftlichen Verflechtungen. So kam nun plötzlich Bewegung in die so erhaben geglaubte Begriffswelt.

Das Ergebnis war aber nicht, wie manche vermuten könnten, ein totaler Relativismus in einer kaum mehr übersichtlichen Vielfalt des geschichtlichen Werdens. Die Begriffe waren in ihrem konkreten historischen und gesellschaftlichen Kontext bei aller Beweglichkeit und in allen Wandlungen erstaunlich bestimmt. Sie hatten mitten in aller Kontingenz auch eine eigene Strenge. Um so wichtiger aber war es, dafür das vielfache Umfeld eines Begriffs zu kennen. Dies führte in verschiedenen Etappen zur so genannten Begriffsgeschichte. Die nach R. Eislers „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“, - zuerst Berlin 1897 und dann in 4 Bänden sowie in der 4. Auflage 1927, - nun abgeschlossenen zwölf Bände des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ (1971-2004) sind ein Meilenstein auf diesem Weg.

Gewiss waren die Entdeckung der Macht der Geschichte im Historismus und die damit verbundenen geistigen Abhängigkeiten und Verflechtungen eine Voraussetzung auf diesem Weg. Es ist jedoch gewiss auch kein Zufall, dass im Gefolge dieser Entwicklung die Begriffsgeschichte, auch wo es diesen Namen vielleicht noch gar nicht gab, in anderen Disziplinen an Bedeutung zunahm. Dies war mehr als Lexikografie und Wörterbuch. Ein wichtiges Beispiel dafür ist das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“, herausgegeben von Gerhard Kittel, das in 10 Bänden von 1933 – 1979 im Verlag Kohlhammer in Stuttgart erschien. Es ist aus der exegetischen Arbeit nicht mehr wegzudenken. Es sollten alle Vokabeln behandelt werden, „denen irgendeine religiöse und theologische Bestimmung anhaftet“. Man hat sich dort übrigens, wie das Vorwort zeigt, ganz eindeutig im Kontext der begriffsgeschichtlichen Forschung verstanden. Es ist unschwer zu erkennen, wie etwa im johanneischen Begriff des Logos viele Traditionen zusammenlaufen und miteinander in Anknüpfung und Widerspruch verschmelzen. Man kann wirklich behaupten, dass die heutige exegetische Forschung in diesen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen einen der stärksten Motoren wachsender Erkenntnis gefunden hat. So ist es auch nicht zu verwundern, dass es inzwischen ein entsprechendes „Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament“ in 10 Bänden gibt (1970-2000). Und auch das seit dem Jahr 1950 erscheinende „Reallexikon für Antike und Christentum“ heute bei Band 20 (bis zum Stichwort Kleidung), darf an dieser Stelle als Beispiel für den Siegeszug der begriffsgeschichtlichen Forschung im Bereich der Theologie genannt werden. Diese Ausrichtung verbindet sich heute auch mit der Sozialgeschichte, wobei sich der Theologie gewiss zunächst einmal zum umfangreichen Werk „Geschichtliche Grundbegriffe“ greift, das in der Zeit von 1972-1992 in sieben umfangreichen Bänden erarbeitet wurde.

Die Einsicht in das Werden und die Wandlungen gerade auch tragender Grundbegriffe, die man vorher oft für geradezu selbstverständlich und darum auch im Kern für unwandelbar hielt, hat nicht nur gezeigt, wie reich das kulturhistorische Netzwerk ist, sondern führte zu einer gewissen Toleranz. Wenn man nämlich die verschiedenen Stationen und Dimensionen eines Begriffs in ihren jeweiligen Bedeutungen erkennt, entdeckt man leichter die Standortgebundenheit und die jeweiligen Rahmenbedingungen im Gebrauch von Grundbegriffen. Dafür ist gerade auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit wichtig, denn oft kann man nur in ihr Öffnungen in andere Bereiche hineinfinden und ungeahnte Nahtstellen ausmachen. Dies geschieht auch da, wo man es anfänglich gar nicht vermutet. Als Beispiel nenne ich die Formulierungen in der altkirchlichen Dogmen- und Bekenntnisbildung. So erkennen wir heute, in wie viel Schichten und aus wie viel Wurzeln z.B. das zentrale Wort unseres Glaubensbekenntnisses von Nikaia, nämlich „homousios“ also: eines Wesens (mit dem Vater), kommt und verstanden werden konnte. Es handelt sich gar nicht, wie man lange dachte, um eine hellenistische Verfremdung der biblischen Botschaft. Im Gegenteil das Wort bezeugt letztlich den geistigen Widerstand des kirchlichen Christusbekenntnisses gegen eine Überfremdung durch hellenistisches Denken.

Dies könnte auch für andere ähnliche Begriffe der Christologie und Trinitätslehre gezeigt werden, wie z.B. „hypostasis“. Es war zuerst ein weitverbreitetes, untypisches und abgeschliffenes Wort, wie etwa unser Wort Existenz, im besten Fall ein Modewort der philosophischen Fachsprache. Aber es wurde so oft von verschiedenen denkerischen Ansätzen her präzisiert, gelegentlich platonisch oder aristotelisch, dass es erst allmählich so zurechtgeschliffen und gefeilt war, dass es eine Schärfe und Prägnanz bekam. Es ist in diesem Sinne ganz erstaunlich, dass man plötzlich in einem so abstrakt gehaltenen Begriff so viele situative und pragmatische Elemente entdeckte, die man gar nicht vermutete.

Dies hat aber auch dazu geführt, dass man diese Begriffe in ihrer Bedeutungsstruktur erst neu entdeckte. Sie gehören nicht einem festen philosophischen System an. Sie erscheinen eher als eine Art höherer Umgangssprache oder gehobener Alltagssprache. Obgleich sie keine förmliche Definition haben, haben sie zugleich eine denkwürdige Flexibilität und Porosität ihrer Bedeutungskraft, aber gerade auch so eine überraschende innere Konsistenz und eine sich durch alle Wandlungen bezeugende geschichtsmächtige Kraft. Man könnte dies gerade für dogmatische Formulierungen weiter aufzeigen, wie z.B. den Begriff der „Transsubstantiation“ oder das Axiom „anima forma corporis“. Diese Entdeckungen haben übrigens auch eine wichtige praktische Bedeutung heute, und zwar ganz besonders im ökumenischen Gespräch der Kirchen und Theologien untereinander und zwar im Osten und im Westen. Fest geronnene und fixierte Begriffe, die nicht nur zu sachlichen Abgrenzungen, sondern auch zum Vorwurf der Heterodoxie und der Häresie führten mit Zerwürfnissen bis heute, können nun in ihrem schweren Bleigewicht und in ihrem manchmal dogmatistischen Charakter verflüssigt werden. Oft ergibt sich durch die begriffsgeschichtlich sauber geklärte Arbeit, dass bestimmte Auslegungen desselben Wortes sich nicht widersprechen, jedenfalls sich nicht absolut ausschließen, sondern sich sogar eher perspektivisch ergänzen. Solche Beispiele könnten leicht aus dem Gespräch der westlichen Kirchen mit den Kirchen des Ostens, aber auch der großen orthodoxen Kirchen mit den Altorientalen sowie der katholischen Kirche mit den reformatorischen Kirchen erhoben werden. Ohne eine methodisch verlässlich und streng geführte Untersuchung, die diese Befunde objektiv erhärtet, bleibt dies jedoch eher unter dem Verdacht einer billigen Einigung oder einer Hermeneutik, die alles wie eine wächserne Nase behandelt, die man beliebig nach allen Seiten drehen kann. Hier werden begriffsgeschichtliche Klärungen zugleich zu unentbehrlichen Hilfen der Kirchen in ihrem Verhältnis untereinander.

Natürlich gibt es immer wieder auch neue Entdeckungen und Erschließungen in methodischer Hinsicht. Gerade im Licht der Theologie lassen sich Begriffsgeschichte und Metaphorologie viel weniger voneinander trennen, als man dies vor Jahrzehnten dachte. Auch der Bezug zur Toposforschung ist erfolgsversprechender. Ganz gewiss hat dies auch noch enge Verknüpfungen mit der Sozialgeschichte.

Diese kleine Skizze sollte nur zeigen, wie fruchtbar auch heute noch, gleichsam wie am ersten Tag, die Begriffsgeschichte ist, gerade auch in der Begegnung der Disziplinen untereinander. Es lohnt sich darum, wie das Historische Wörterbuch der Philosophie, - diesmal sogar bis in den wirtschaflichen Erfolg hinein, - zeigt, den Geisteswissenschaften im Durchbuchstabieren unserer Vergangenheit viel zuzutrauen. Wir wissen dann besser, wo wir stehen und was für eine Zukunft wir haben. In diesem Sinne gehört Joachim Ritter und dem Kreis seiner vielfältigen Schüler ein herzlicher Dank für eine immense Kärrnerarbeit, die sich jedoch auch – obgleich dies nicht das erste Kriterium ist, - direkt oder indirekt für unsere Gesellschaft lohnt. Ich danke auch der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und dem Schwabe-Verlag in Basel mit allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie den Autoren der viereinhalb Jahrzehnte für ihre Treue zu diesem wegweisenden Werk.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann 

Redemanuskript - es gilt das gesprochene Wort

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz