Über das Augenmaß in der neuen Familienpolitik

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im März 2007

Datum:
Mittwoch, 28. März 2007

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im März 2007

In den letzten Wochen ist Bewegung gekommen in die Familienpolitik unseres Landes. Es ist der unermüdlich tätigen Familienministerin Ursula von der Leyen gelungen, viele bisher zögernde Politiker aller Richtungen für die „Krippenoffensive“ zu gewinnen, d.h. bis zu einem bestimmten Datum, vor allem für Kinder unter drei Jahren, einen Krippenplatz zu besorgen. Diese Überlegungen sind auch in letzter Zeit ausgeweitet worden auf Ideen im Zusammenhang der Kindergärten und ihrer Funktion als Vorschule frühkindlicher Bildung, einer Art Bildungsbrücke vom Kindergarten zu Schule.

Die Kirchen tragen nicht nur seit jeher Sorge für Ehe und Familie im Allgemeinen, sondern belegen diese auch u.a. durch die Trägerschaft sehr vieler Kindergärten. Wenn sie bisher insgesamt im Blick auf diese neue Familienpolitik eher etwas zurückhaltend reagieren, so bedeutet dies nicht, dass sie diese Ausbaupläne nicht im Prinzip unterstützen würden. Aber gewiss sind da und dort noch einige klärende Unterscheidungen notwendig, die durchaus fundamental sind.

Es ist zweifellos heute für viele Familien eine wichtige Hilfe, wenn sie für die jüngsten Kinder mit einem Krippenplatz rechnen dürfen. In vielen Situationen müssen heute beide Ehepartner eine vollberufliche Tätigkeit aufnehmen. Man darf vor dieser Realität nicht die Augen verschließen. Unser Land war und ist bisher, verglichen mit seinen ökonomischen Möglichkeiten und auch im internationalen Vergleich, ziemlich Mittelmaß. Die gestaffelte Initiative hat darum mannigfaltige Zustimmung erhalten, auch wo man es bisher nicht vermutete. Freilich gehören differenzierende Zwischentöne dazu

Mit Recht haben viele darauf hingewiesen, dass es unbedingt bei einer echten „Wahlfreiheit“ bleiben müsse, dass nämlich die Eltern sich für die Erziehung der Kinder zu Hause entscheiden können und auch entsprechend unterstützt werden müssen, ohne dass diese Entscheidung indirekt abgewertet oder am Ende gar benachteiligt wird. Es gibt schließlich viele Erkenntnisse der frühkindlichen Pädagogik, wie wohltuend und fruchtbar nämlich die enge, über den Tag geführte Lebensgemeinschaft der Eltern, besonders der Mutter, mit Kleinkindern ist und wie viel dies zu ihrer frühen persönlichen Entfaltung beiträgt. Diese Lebensform in Gemeinschaft von Eltern und Kindern verdient die erste Unterstützung und darf nicht grundsätzlich ersetzt werden. Dabei muss sicher von Problemfamilien abgesehen werden. Dies sagt auch nichts gegen die pädagogischen Fähigkeiten sehr vieler Erzieherinnen in den Kindergärten.

Aber manchmal haben wir zu Unrecht vergessen, dass es noch nicht so lange her ist mit einer fatalen Dominanz des Staates in der Kindererziehung, vor allem in den marxistischen Gesellschaftssystemen, gerade auch der ehemaligen DDR. Es bleibt offenbar eine Verführung mancher Politiker, die „Lufthoheit über die Kinderbetten“ zu gewinnen, um an ein bekanntes Schlagwort zu erinnern. Die größere Anzahl von Kinderkrippen in den neuen Bundesländern wird manchmal geradezu verherrlicht, ohne dass man die ideologischen Implikationen in diesem System genügend wahrnimmt. In manchen Köpfen ist das Konzept einer umfassenden staatlichen Kindererziehung ziemlich lebendig. Dies wird manchmal mit vielen Problemfällen und auch der angeblichen oder wirklichen Unfähigkeit vieler Eltern zur Erziehung begründet. Auf keinen Fall darf man aber auch hier das Elternrecht aushöhlen. Es wäre ein fundamentaler Fehler anzunehmen, dass Kinder nur in staatlicher Obhut optimal versorgt sind. Rasch ist man dann auch dabei, den Kindergarten zwanghaft mit der Aufgabe frühkindlicher Bildung überhaupt zu verknüpfen und so die Kinder durch ein Vorschuljahr noch stärker und früher der Familie zu entziehen, ohne dass diese evtl. ein Mitspracherecht hat.

An dieser Stelle ist höchste Wachsamkeit am Platz, denn gerade wenn die neue Familienpolitik hohe Zustimmung bekommt, die sie auch braucht, muss die Rückkehr unbedachter aber keineswegs harmloser Ideologien sorgfältig und kritisch verfolgt werden. Es darf auch nicht hingenommen werden, dass andere Bereiche der Familienförderung zugunsten dieser neuen Maßnahmen grundlegend beschnitten werden könnten.

Die neue Familienpolitik muss sich auch bewusst bleiben, dass sie zwar Rahmenbedingungen dieser Art für junge Ehen und Familien verbessern helfen kann, dass daraus aber noch nicht automatisch eine beträchtliche Vermehrung der Kinderzahl in unserer Gesellschaft abgeleitet werden kann und darf. Dazu gehören nämlich noch zuvor die Wiederbelebung und Aktivierung vieler Werte, die der Staat nicht regeln kann. Dazu darf man auch den Mut zur Zukunft zählen, ebenso die Solidarität mit den Menschen heute und morgen und nicht zuletzt die Freude am Kind als dem Symbol neuen, frohen, eigenständigen Lebens. Das demografische Problem wäre verkürzt, wenn man „nur“ an die Bestandsgarantie für die Aufgaben der Sozialversicherung oder an die notwendigen Potenziale für die Beschäftigungspolitik in der Wirtschaft denken würde.

Es kommt also im Kern bei allen institutionellen und finanziellen Hilfen auf die Einstellung der Eltern und ermutigende Unterstützung der freien gesellschaftlichen Kräfte an, z.B. auch und gerade der Kirchen. Um diese Integration vieler Gesichtspunkte und Werte zu leisten, gleichsam ein gut funktionierendes Netz aufzubauen, in dem freilich die Eltern die Entscheidung tragen, bedarf es sensibler Klugheit und eines scharfsinnigen Augenmaßes für die Möglichkeiten und Grenzen jeder neuen Familienpolitik.

(c) Karl Kardinal Lehmann 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz