Umkehr zum Leben

Kommentar in der Kirchenzeitung

Datum:
Donnerstag, 21. Februar 2002

Kommentar in der Kirchenzeitung

Vorentscheidungen in der Bioethik: Wann wurde der Rubikon überschritten?

Im Blick auf die bevorstehenden Abstimmungen im Deutschen Bundestag zunächst einmal zum Import embryonaler Stammzellen wird schon seit einiger Zeit gefragt, wann der Rubikon zu einer möglichen heutigen Zulassung von Forschung an Embryonen überschritten worden sei.

Die Rede vom Rubikon meint einen italienischen Grenzfluss, dessen Überschreitung einen großen Bürgerkrieg auszulösen begann. Von da aus gibt es die Wendung von der Überschreitung des Rubikon, d.h. einen strategisch entscheidenden Schritt tun. Im Blick auf die Stammzellen-Debatte hat im Verlauf des letzten Jahres die Deutsche Forschungsgemeinschaft davon gesprochen, der Rubikon in Richtung der heute anstehenden Entscheidung sei bereits mit der Zulassung der künstlichen Befruchtung (In-Vitro-Fertilisation) erfolgt. Viele haben dies nachgeredet.

In Wirklichkeit sind es wohl mehrere Stufen, die die heutige Situation mitbestimmen. Es gibt zunächst eine Entscheidung des Reichsgerichtes vom 11. März 1927, wonach im Rahmen einer Güter- und Pflichtenabwägung das ungeborene Leben gegenüber Leben und Gesundheit der Mutter das geringerwertige Rechtsgut sei. Der „fertige Mensch" habe „ohne weiteres" den höheren Wert. Dieses Urteil ist immer wieder juristisch kritisiert worden, heute ist es nur noch in Fachkreisen bekannt. Es ist jedoch für ein halbes Jahrhundert maßgebend gewesen für die Straffreiheit der medizinisch begründeten Abtreibung.

Zweifellos haben die beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichtes, die aufgrund der Fristenregelungsgesetze von 1974 und von 1992 notwendig wurden, trotz einer anderen Argumentation grundsätzlich die Möglichkeit einer Güterabwägung zwischen Mutter und Kind beibehalten. Die schwierige Unterscheidung, jeder Abbruch sei grundsätzlich verboten, könne aber unter bestimmten Voraussetzungen in einzelnen Fällen straffrei bleiben, hat in vielem verwirrend gewirkt. Besonders verheerend hat sich nach dem Gesetz vom 12.02.1976 die „soziale Indikation" ausgewirkt. Hier ist eine weitere Schwächung des Lebensrechtes des ungeborenen Kindes in unserer Gesellschaft zum Durchbruch gekommen, auch wenn Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung dies eher verhindern wollten.

In den letzten Jahren kamen weitere Urteile höchster Gerichte hinzu, die das unerwünschte Kind letztlich in die Kategorie „Schadensfall" einreihten oder bis heute das schreckliche Problem der Spätabtreibungen nicht genügend klären konnten.

Die zunehmende Inanspruchnahme der künstlichen Befruchtung außerhalb des Mutterleibes, also in der „Petrischale", und die entsprechenden Experimente haben zusätzlich die Einstellung zum Embryo und zur Manipulation an ihm erleichtert. Ging es zunächst mehr um eine Hilfe für Ehepaare, denen auf natürlichem Weg Kinder versagt blieben, so wurde die künstliche Befruchtung außerhalb des Mutterleibes fast unbesehen auch bei allen möglichen Kombinationen von menschlichen Beziehungen eingesetzt, sodass auch hier nahezu alle Schranken fielen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass man diese Entwicklung im Verfall des Lebensrechtes und der Menschenwürde des ungeborenen Kindes in ihrem inneren Gefälle und in ihrer gesellschaftlichen Dynamik sehen muss. Insgesamt wird man sagen können und müssen, dass hier schon seit gut 75 Jahren der Rubikon überschritten worden ist.

Darum darf man sich auch nicht wundern, wenn nicht wenige Befürworter des Importes und der Forschung an embryonalen Stammzellen, ja sogar ihrer Herstellung, auf das Argument, man töte dabei ja schließlich die Embryonen, darauf antworten, wenn die Abtreibung schließlich gesetzlich „erlaubt" sei, dann sei es doch widersinnig, einen viel höheren Embryonenschutz zu verlangen im Vergleich zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Schwangerschaftsunterbrechung.

Dies ist nicht unsere Logik und unsere Konsequenz, vielmehr glauben wir, dass es jetzt höchste Zeit ist und eine einzigartige Gelegenheit besteht, um dieser zerstörerischen Logik ein Ende zu machen. Jetzt geht es um eine ohnehin schon späte Wende. Umkehr zum Leben ist jetzt angesagt. Hoffentlich sind die Mitglieder des Deutschen Bundestages so sensibel, dass sie in ihren Gewissen ausreichend merken, wofür und wogegen sie wirklich stimmen. „Wähle das Leben!" mahnt Gott in der Hl. Schrift.

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz
(aus: Bistumszeitung Glaube und Leben, Februar 2002)

 

 

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz