Verrat und Hingabe

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Karfreitag, 22. April 2011, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Freitag, 22. April 2011

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Karfreitag, 22. April 2011, im Hohen Dom zu Mainz

Sehr verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Unser Glaube ist sehr auf das Wort angewiesen. Wir haben ja keine Religion, die sich weitgehend oder nur an beobachtbaren Naturereignissen oder dokumentierten geschichtlichen Daten orientiert, wie z. B. eine Mondfinsternis oder eine Schlacht. Es geht um die Offenbarung von etwas, was wir nicht einfach durch unseren Menschenverstand wissen oder erfahren können. Wir können das, was wir glauben, tiefer zu verstehen suchen. Aber die Botschaft ist nicht von uns erfunden. Durch das verkündigte Wort kommt sie zu uns.

Manchmal schafft der Glaube sich selbst die richtigen Wörter. Er muss sie aber oft formen, damit der ursprüngliche christliche Gehalt wirklich zum Ausdruck gebracht und nicht durch fremde Vorstellungen entstellt wird. Dies bezieht sich nicht nur auf die Wörter, sondern auch auf die Art und Weise, wie wir von der Heilsbotschaft sprechen. So sind z. B. Gattungen wie das „Evangelium", das Credo, das Bekenntnis oder aber auch der Katechismus ursprüngliche christliche Schöpfungen. Manchmal ist aber auch die ganze Tiefe und der ganze Gehalt des christlichen Glaubens in einem Wort konzentriert und zusammengezogen. Man kann dann in der Betrachtung eines Wortes, das man gewissermaßen belagert und umschreitet, das Wesentliche des Glaubens wie in einem Brennglas oder einem Kaleidoskop von allen Seiten erfassen.

Ein solches Wort, das auf den Karfreitag passt, ist im Neuen Testament die so genannte Hingabeformel. Eine bekannte Stelle dafür ist Röm 8,32, wo es zu Gottes Eintreten für die Menschen heißt: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?" Das zentrale Stichwort heißt hier „Hingabe". Es hat im Neuen Testament eine außerordentlich breite Spannweite. Ähnlich sehen wir dies im Johannesevangelium: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat." Diese Texte begegnen schon sehr früh, durchziehen aber alle biblischen Schriften, z. B. „Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt." (Röm 4,25). Manchmal war dafür auch die Sprache des Alten Testaments anregend, in unserem Fall ganz gewiss das vierte Lied vom Gottesknecht (bes. Jes 53,12: „weil er sein Leben dem Tod preisgab"). Wenn es zu einer festen Verbindung kommt, sprechen wir von einer Formel. Deswegen sagen wir auch „Hingabeformel" oder auch „Dahingabeformel".

Die Bedeutungsweite des Wortes ist, wie gesagt, sehr umfassend. Zuerst ist damit eigentlich das Geschehen im Prozess über Jesus gemeint: Die Feinde Jesu ließen ihn fesseln „und lieferten ihn Pilatus aus" (Mk 15,1). Neben Ausliefern und Preisgeben (vgl. Mk 9,31) wird das Wort auch spezifisch gebraucht für den Verrat durch Judas (vgl. Mk 14,21.41). Man spielt auch auf Gewalt und Willkür an, wenn man sagt, dass der Menschensohn in die Hände der Menschen, der Heiden usw. ausgeliefert wird. Dies wird am Geschick Jesu deutlich. Er muss den Tod am Kreuz sterben. Man hat die grausamste Art der Hinrichtung in der Alten Welt für ihn ausgesucht. In diesem Sinne ist die ganze Grausamkeit des Leidens und Sterbens Jesu in diesem Wort vom Verrat und von der Preisgabe enthalten. Aber es gehört zum Tun der Menschen, für das sie Verantwortung tragen, dass Gott auf seine Weise das Handeln der Menschen leitet und prägt. Hinter dem Handeln der ungläubigen Menschen sieht z. B. der Evangelist Markus das Handeln Gottes. Nicht die Menschen bestimmen den letzten Sinn und Zweck unseres Handelns. Wir verstehen dann sehr oft nicht, was geschieht: „Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert und sie werden ihn töten; doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen. Aber sie verstanden den Sinn seiner Worte nicht, scheuten sich jedoch, ihn zu fragen." (Mk 9,31)

So gewinnt gleichsam unter der Hand das Wort vom Verrat und der Preisgabe einen weiteren Sinn. Wir können dies vielleicht am besten bei der Beschreibung des Herrenmahles durch den hl. Paulus beobachten, wenn er sagt: „Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis." (1 Kor 11,23f.) Im Abendmahl Jesu kurz vor seiner Gefangennahme und seinem Leiden, kommen die wichtigsten Bedeutungslinien zusammen: Er ist zwar den Menschen ausgeliefert, aber er sieht dies nicht einfach als äußeres Schicksal, sondern gibt diesem Geschehen im Lichte der Bibel einen eigenen Sinn, indem er nämlich sein Leben hingibt. Jesus wird nicht einfach von außen fremdbestimmt, sondern er gibt auch noch im Leiden dem, was geschieht, eine eigene Richtung und einen eigenen Sinn. Verrat und Preisgabe können das geheime Ziel des göttlichen Handelns nicht verhindern.

So kommt es dann auch zum Glaubensbekenntnis: „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift" (1 Kor 15,3) Dass er „für uns" bzw. „unsere Sünden" sein Leben verlor, hat wiederum einen feinen Doppelsinn. Er ist an unserer Stelle, für unsere Bosheit und Schlechtigkeit, also für unsere Sünden gestorben. Hier geht Jesus stellvertretend für uns in den Tod. Wir haben ihn eigentlich verdient. Darum heißt es: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele." (Mk 10,45) Aber dies ist nicht nur „Stellvertretung" Jesu, indem er sich auf unsere Vergehen bezieht, sondern er gibt sein Leben wirklich für uns her, er schenkt es uns. Er erlöst uns von unserer Schuld und gibt sich - nun ganz wörtlich verstanden - für uns und an unserer Stelle hin.

Schon in der Bibel wird diese Hingabe des Lebens durch Jesus selbst in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck gebracht. Er gibt sich hin für die Seinen, für die Freunde, für die Vielen, wir übersetzen mit Recht: für alle, ja auch sogar für seine Feinde. Dies ist ein ganz neues Element. Jesus gibt sein Leben nicht nur für die Gleichgesinnten, sondern er will die Welt der Menschen durch eine andere Lebensorientierung verändern. Es war immer wieder eine Versuchung im Lauf der Kirchengeschichte, die Frucht des Todes Jesu auf seine Anhänger zu begrenzen. Aber mit einer großen Treue zur Bibel und zum Lebensgeheimnis Jesu hat die Kirche solche Begrenzungen zurückgewiesen und die Erlösung Jesu für alle Menschen, auch für unsere Gegner und Feinde, verteidigt. Jesus ist für alle Menschen gestorben.

Dies sehen wir heute besonders auch in der Liturgie des Karfreitags. Schon seit alter Zeit - seit dem 2. Jahrhundert - ist es ein Kernstück der Gebete am Karfreitag, dass wir nach der Verkündigung der Leidensgeschichte die so genannten Großen Fürbitten abhalten. Gerade an diesem Tag dürfen die Christen im Denken, Beten und Handeln nicht einfach auf sich konzentriert, also egozentrisch bleiben, sondern müssen den Dienst Jesu Christi am Heil der Welt in die Mitte rücken, den auch wir in seiner Nachfolge ausüben sollen.

Dieses Fürbittgebet beginnt in den zehn Stufen bei der Kirche und bezieht sich besonders auf den Papst, alle Stände (Berufe) und besonders auch auf die Katechumenen, die Christen werden wollen. Es übersteigt aber auch unsere eigene Gemeinschaft, indem wir für die Einheit der Christen, für die Juden und für alle, die nicht an Christus glauben, beten. Ja, es gibt eine eigene Fürbitte für alle, die nicht an Gott glauben, dass sie ihrem Gewissen folgen. Schließlich richtet sich der Blick auf die Menschen, die in den Regierungen Verantwortung für Frieden und Sicherheit, für die Wohlfahrt der Völker und die Freiheit des Glaubens haben. Am Ende geht aber der Blick hinaus auf alle notleidenden Menschen: „Gott reinige die Welt von allem Irrtum, nehme die Krankheiten hinweg, vertreibe den Hunger, löse ungerechte Fesseln, gebe den Heimatlosen Sicherheit, den Pilgernden und Reisenden eine glückliche Heimkehr, den Kranken die Gesundheit und den Sterbenden das ewige Leben." Damit ist ein umfassender Versuch gegeben, diese Hingabe des Lebens Jesu für alle sehr konkret sichtbar zu machen. Hier wird das kleine Wörtchen „alle" konkret erschlossen und entfaltet.

Es ist beinahe selbstverständlich, dass sich daraufhin die Verehrung des Kreuzes anschließt. Erst ist das Kreuz noch verhüllt. Aber dann wird seine Wirkung auf die ganze Welt in vielen Gesängen erkennbar: „Denn siehe, durch das Holz des Kreuzes kam Freude in alle Welt." Amen.

Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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