Vom Richten

Mögliche Lehren aus dem „Bekenntnis“ von Günter Grass

Datum:
Montag, 21. August 2006

Mögliche Lehren aus dem „Bekenntnis“ von Günter Grass

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - August 2006

Das Eingeständnis von Günter Grass, im Alter von 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat Überraschung und auch Erschütterung ausgelöst. Viele haben ihm für diesen Mut zur späten Wahrheit Respekt und Anerkennung gezollt, vor allem unter den Schriftstellerkollegen. Aber viele haben auch das allzu späte Bekenntnis getadelt.

Es kann hier nicht darum gehen, einen großen deutschen Schriftsteller, einer der wenigen Literaturnobelpreisträger aus unserem Land, deswegen moralisch zu verurteilen oder menschlich herabzusetzen. Dennoch kann man dabei bleiben, dass dieses Eingeständnis reichlich spät kam. Gewiss ist nun auch der Anlass verständlich. Wenn er seine Lebenserinnerungen „Beim Häuten der Zwiebel“ mit 78 Jahren im September veröffentlichen wird – alles andere jetzt ist ja am Ende nur Werbung daraufhin –, war es nicht nur eine Sache der Redlichkeit, sondern vielleicht auch eine der letzten Gelegenheiten, mit der Sache herauszurücken. Grass erklärte, die Angelegenheit sei wie ein Makel immer in seinem Nacken gesessen, sodass er nicht habe darüber sprechen können. „Es musste raus“, sagte er nun zur Begründung.

Der Christ wird auch mit einem ziemlich späten Bekenntnis gütig umgehen. Solange wir leben, haben wir auch Zeit, geschenkte Zeit, um Fehler einzugestehen. Man wird einem damals 17-jährigen jungen Mann in den konkreten Zeitumständen (1944) auch eher Nachsicht entgegenbringen können. Manche Sätze von Günter Grass lassen auch heute ein wenig ahnen, dass ihm diese Verstrickung immer auch zu schaffen machte, wenn er z.B. 1966 bei einer Rede zur Bayerischen Landtagswahl in München erklärte: „Aus Kenntnis meiner eigenen Vergangenheit und der Anfälligkeit der Jugend in diesem Land für absolute und selbstzerstörerische Forderungen...“

Dennoch bleibt noch einiges aufzuarbeiten. Es gab schon gute Gelegenheiten. Als Deutschland im April 1985 über den Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan diskutierte – auf dem Friedhof lagen auch Waffen-SS-Angehörige –, wäre eine „goldene Gelegenheit“ (M. Wolffsohn) zum Bekenntnis gewesen. Aber noch belastender finde ich etwas, was in diesen Tagen wohl noch kaum zur Sprache kam, nämlich die jahrelangen Attacken von Günter Grass z.B. gegen K. Adenauer, L. Erhardt und F. J. Strauß. Und wie hat er Ende 1966 auf Kurt Georg Kiesinger in einem Offenen Brief eingedroschen, als Grass wegen Kiesingers Mitgliedschaft in der NSDAP vor dessen Wahl zum Bundeskanzler „empörten Einspruch“ erhob.

Vielleicht sagt Günter Grass auch etwas dazu in seinen Lebenserinnerungen, von denen wir bisher nur Splitter kennen. Zu spät ist es nicht. Der Christ denkt aber hier an das Wort der Heiligen Schrift „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein.“ (Joh 8,7) Es ist nicht gut, jetzt nur rasch Persilscheine auszustellen oder die üblichen Huldigungen zu wiederholen, aber auch nicht, einen großen Schriftsteller schadenfroh mit Häme zu übergießen. Aber zum späten Eingeständnis gehört schon auch die Einsicht für jeden, behutsam umzugehen mit Urteilen über andere, zumal, wenn man selbst im Glashaus sitzt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Mt 7,1) In diesem Sinne kommt ein Bekenntnis wie dieses nicht zu spät. Es bleibt bei einer solchen Einsicht noch Zeit für ein angemessenes Wort der Entschuldigung, die man nur scheinbar altmodisch „Wiedergutmachung“ nennt.

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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