Von der Begleitung des Gefangenen in eine neue Freiheit

Der Versuch eines Ausgleichs zwischen Sicherheit und Resozialisierung

Datum:
Mittwoch, 4. Juni 2008

Der Versuch eines Ausgleichs zwischen Sicherheit und Resozialisierung

Theo-Tag am 4. Juni 2008, JVA Weiterstadt

Die Menschen sind beim Thema „Strafe und Strafvollzug" sehr bewegt. Es gibt aus allen Jahrhunderten schauerliche Berichte über das Vierteilen von Menschen, es gibt aber auch eine große Empörung, wenn Straftäter milde behandelt werden und nach der Freilassung oder nach einem Urlaub sofort wieder zuschlagen. Dies ist nicht nur ein Thema der Stammtische, sondern es rührt etwas sehr Elementares in den Herzen der Menschen auf, besonders wenn es um schwere Delikte geht. Darum ist es gut, bei aller Betroffenheit und Leidenschaftlichkeit nüchtern dem Phänomen zu begegnen. Dazu soll hier ein kurzer Versuch gemacht werden.

I.

„Strafe und Strafvollzug" ist ein großes Thema, das alle Kulturkreise bewegt.[1] Dabei haben sich im Lauf der Zeit einige Theorien der Strafe und des Strafvollzugs herausgebildet, die bis heute ihre Bedeutung haben.[2]

Strafe ist eine Maßnahme, die auf einen Normverstoß reagiert und zugleich eine Missbilligung des Verstoßes darstellt. Sie hat einen öffentlichen Charakter, denn sie möchte die verletzte Norm in ihrer Geltung hervorheben und neu zur Geltung bringen. Darum hat die Strafe immer auch etwas mit einer Demonstration zu tun, welche die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung verkündigt. Damit ist, wenigstens in späterer Zeit, verbunden, dass besonders schwerere Strafen durch autorisierte Personen (Richter) ausgesprochen werden und dass später der Staat selbst geradezu ein Monopol zur Verhängung von Strafen besitzt. Wenn Strafen verhängt werden, heißt dies immer auch, dass jemand - wie wir sagen - „an den Pranger gestellt" wird.

Eine Strafe besteht meist in der Form der zwangsweisen Zufügung eines Übels. Dem Täter wird etwas ihm im allgemeinen Unangenehmes, Schmerzliches zugefügt, sei es eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe. Dabei darf diese Sanktion nicht willkürlich geschehen. Menschen dürfen auch nicht einfach unschädlich gemacht werden. Es muss Kriterien geben, womit und wie hoch bestraft wird. Die Strafe kann erst nach einem Verstoß erfolgen. Das Individuum hat, wenn es einigermaßen frei ist, die Wahl zwischen Rechtsgehorsam und Strafrisiko. So verbindet Strafe soziale Kontrolle mit individueller Freiheit.

Dies wird nochmals sehr deutlich im Blick auf die Unterscheidung zwischen Strafe[3] und Rache. Rache ist auf Genugtuung aus. Das subjektive Empfinden des Geschädigten spielt hier eine große Rolle. Die Härte der Zufügung eines Übels hängt sehr von der subjektiven Empörung des Betroffenen oder der ihm Nahestehenden ab. Schon früh musste man darum zwischen Rache und Strafe unterscheiden. Die Strafe ist im Kern eine Zurechtweisung. Sie darf nicht willkürlich sein, sondern hat ihren Maßstab an der Gerechtigkeit, wie bereits Aristoteles vielfach ausführte. So ist es auch verständlich, dass man bei der Unterscheidung und Profilierung des Begriffs der Strafe intensiver nach der Legitimation der Strafe gefragt hat, ganz besonders auch im Zusammenhang einer Institution. Auf jeden Fall muss die Zufügung bestimmter Sanktionen von einer dazu befugten Instanz und nach vorher aufgestellten und bekannten Regeln erfolgen. Die Strafreaktion darf nicht an undisziplinierte Gefühle und blinde Vergeltungsbedürfnisse gebunden sein. Dies ist ein grundlegendes Element des abendländischen Rechtsdenkens. Deshalb darf man auch niemand vorschnell aufgrund einer bloßen Verletzung der anerkannten Ordnung zum Opfer machen (Viktimisierung). So kann man etwa nur bestraft werden für eine durch persönliche Schuld verursachte Gesetzesübertretung. Es gibt außerdem entschuldigende und strafmildernde Umstände (wie z.B. Notwehr, Geisteskrankheit, fehlende Reife, Fahrlässigkeit usw.). Die konkrete Strafzumessung muss immer auch durch ein geregeltes Prozessverfahren erfolgen. Nur so ist die Gleichbehandlung gleicher Fälle und die Verhältnismäßigkeit bei verschieden gelagerten Fällen gewährleistet. Dies sichert auch das Verbot einer Vorverurteilung und zugleich auch der Rückwirkung für Taten, die erst zu einem späteren Zeitpunkt als Normverletzungen festgelegt wurden. Dies hat man schon recht früh in einigen kurzen Merksätzen zusammengefasst, die unser Rechtsdenken und unsere Rechtspraxis bestimmen: Nulla poena sine lege (Es muss ein Strafgesetz voraus in Gültigkeit sein), nulla poena sine culpa (Man muss dem Täter die Verletzung der Rechtsordnung zum Vorwurf machen können). Erst durch seine Schuld wird der Übertreter einer Norm zum Straftäter und damit strafwürdig. Darin unterscheidet sich Strafe im rechtlichen Sinne von Maßnahmen, die der Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens ohne Schuldzuweisung oder der Resozialisierung bzw. der Unschädlichmachung eines Menschen dienen, der für seine Gesetzesübertretung keine Verantwortung trägt.

II.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich die ethische Diskussion über die Strafe vor allem auf die Rechtfertigung des Strafens, besonders auch auf die Strafart und das Strafmaß richtete. Die einzelnen Straftheorien unterscheiden sich dabei beträchtlich. Bis heute sind es hauptsächlich drei Hauptpositionen.[4]

Die älteste Konzeption ist die der Vergeltung. Man blickt dabei auf ein Unrecht zurück - in retrospektivischer Betrachtung also -, das in der Vergangenheit begangen worden ist. Die Antwort auf das ergangene Unrecht besteht in einer Art von Wiederherstellung der verloren gegangenen Balance in der Rechtsordnung. Dies kann natürlich einen beinahe mechanischen bzw. mechanistischen Charakter annehmen, wobei hier gewisse Überlieferungen des Alten Testaments eine Rolle spielen, allerdings übertrieben und isoliert: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Man führt dafür oft den antiken Grundsatz an: Punitur, quia peccatum est (Es wird gestraft, weil Unrecht begangen worden ist). Man nennt diese Theorie auch deshalb „absolut", weil sie nur auf die verletzte Ordnung in sich und ihre Vergeltung hingeordnet ist. Es ist eigentlich eine Konzeption, die nicht auf irgendwelche Strafzwecke reflektiert. Im Vordergrund steht ganz die verletzte Ordnung und ihre - wie immer gedachte - Wiederherstellung. Man kann sagen, dass dies eine sehr unbedingte, ja geradezu metaphysische Konzeption ist. Durch Übertreibungen und Missbräuche ist diese Theorie ein Stück weit in Verruf gekommen, dennoch hat sie auch ihre Stärke. Besonders seit Kant und Hegel, die diesen Gedanken ganz in den Vordergrund rückten, ist die Vergeltungstheorie radikal bekämpft worden. Man hat vor allen Dingen die unbedingte Gültigkeit, den moralischen Rigorismus und die Verbindung von Rigorismus und Formalität angegriffen. Es ist heute fast eine Binsenweisheit, die ganze Theorie der Strafe am persönlichen und am kollektiven Wohl zu orientieren. Deswegen wird die Vergeltungstheorie in vielen Fällen einfach verworfen. O. Höffe hat oft gezeigt, dass man damit die Stärke dieser Strafkonzeption nicht ausreichend verstanden und gewürdigt hat.[5]

Eine zweite Konzeption stammt ebenfalls bereits aus der Antike. Platon lässt den Protagoras im gleichnamigen Dialog die Meinung vertreten, allein die zukunftsbezogene Verhütung von Unrecht sei ein vernünftiger Strafzweck. Er beruft sich darauf, dass man Geschehenes nicht mehr ungeschehen machen könne. Man kann dies auch eine Präventionstheorie nennen. Sie wird wiederum in einem kleinen lateinischen Merksatz zusammengefasst: Punitur, ne pecetur (Es wird gestraft, damit kein Unrecht begangen wird.). Dabei gibt es zwei Varianten. Auf der einen Seite spricht man von Generalprävention, weil man die Allgemeinheit überhaupt vor Straftaten abschrecken will. Auf der anderen Seite redet man von Spezialprävention, weil man den einzelnen straffällig gewordenen Täter bessern möchte. Paul Johann Anselm Feuerbach, J.G. Fichte, J. Bentham, J.S. Mill u.a. haben geltend gemacht, dass die Verhütung von Unrecht ein höherrangiges Ziel einer staatlichen Ordnung sei als die in der Strafe liegende bloße Vergeltung vergangenen Unrechts. Dagegen wird oft eingewendet, dass die prognostizierten positiven Aspekte eben doch nicht eintreten und dass die Instrumentalisierung des Täters zum höheren Wohl der Gesellschaft problematisch sei. Man kritisiert auch, dass die Besserung des Einzelnen und die Strafverhütung für alle die Zustimmung zu einem Minimum an Angemessenheit der Strafe voraussetze, denn sonst hätte dieses Modell keine Basis. So etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit ist als Fundament notwendig. Die ergriffenen Maßnahmen dürfen nicht gegen die Gleichheit verstoßen und müssen frei von Willkür sein.

Manchmal unterscheidet man diese Präventionstheorie im schon angegebenen Sinne und erblickt zwei Theorien darin. Der Interessenschutz der Allgemeinheit soll durch Abschreckung erzielt werden. In manchen Bereichen scheint die Abschreckung größer zu sein (Steuerhinterziehung, betrunkenes Fahren, Versicherungsbetrug, vorsätzliche Tötung), in anderen dagegen relativ gering (etwa bei Vergewaltigung und Notzucht). Ein andere Form wäre dann die Spezialprävention, die verschiedene Interpretationen erfahren kann. Man sieht jedenfalls, dass die Abschreckungstheorie allein, schon weil sie nicht überall und grundlegend wirksam ist, ihre Probleme hat.

Eine Variante ist die Resozialisierungstheorie, die auf eine Verhinderung weiterer Straftaten seitens des Täters setzt. Sie fordert die Stärkung der Disposition und Fähigkeit zu rechtskonformen Verhaltensweisen aufgrund einer inneren Anerkennung der Rechtsordnung. Ziel dieser Resozialisierung ist die Wiedereingliederung des Straftäters in die menschliche Gemeinschaft. Sie geht von einer grundlegenden Besserungsfähigkeit aller Menschen aus. Besonders im Strafvollzugsgesetz vom 1.01.1977 ist für unser Land festgehalten, dass Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich und Gerechtigkeit um ihrer selbst willen zu üben, sondern nur dadurch gerechtfertigt ist, dass sie sich als notwendig erweist zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts. Das Gesetz geht auch vom Vorrang des Ziels der Resozialisierung vor den sonstigen Aufgaben von Sicherheit und Ordnung aus. Durchgängiges Leitmotiv ist die soziale Eingliederung des Täters und damit sogleich die Verhinderung des Rückfalls. Dabei ist der Begriff offensichtlich in der juristischen Literatur nicht ausreichend verbindlich eingegrenzt. Die Pädagogik verbindet ihn gerne mit dem Begriff der Sozialisation. Damit ist der fortschreitende Prozess der lebenslangen Entwicklung des Individuums in der Wechselbeziehung zur umgebenden Gesellschaft verstanden. Die „Wiedereingliederung" weist darauf hin, dass ein mehr oder weniger großer Bruch mit den vorgegebenen Normen und Wertvorstellungen stattgefunden hat. Eine weitere Straffälligkeit soll nun mit ihr vermieden werden. Es soll nicht verkannt werden, dass mit dieser Resozialisierung nicht nur hohe ethische und pädagogische Erwartungen, sondern manchmal auch utopische Ziele verbunden worden sind, die zu erheblichen Enttäuschungen führten. Tatsache ist, dass es weder in der Fachwelt noch in einschlägigen Gesetzen einheitliche Vorstellungen über die Resozialisierung gibt. In diesem Sinne gibt es auch keine ausreichende Resozialisierungstheorie. Implizit wird in der Praxis dem Strafvollzug eine resozialisierende Wirkung zugeschrieben, manchmal wird der Strafvollzug gar mit Resozialisierung gleichgesetzt. Dies hängt stark von der theoretischen Kontextlage ab.

Wir wollen die theoretische Erörterung der verschiedenen Straftheorien hier nicht vertiefen.[6] Unser deutsches Strafrecht scheint im ganzen eher auf einer Synthese dieser verschiedenen Theorieansätze zu beruhen. Man nennt dies die „Vereinigungstheorie". Es ist jedoch unschwer zu erkennen, dass diese Vereinigungstheorie sehr unterschiedlich akzentuiert werden kann und vielen Interpretationen zugänglich ist. Auf jeden Fall geht es immer wieder um die Verbindung der verschiedenen Elemente zu einer differenzierten Gesamtkonzeption.

In diesem Sinne muss man auch der Vergeltungstheorie zweifellos etwas mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie rechtfertigt ja nicht eine blinde, naturwüchsige Reaktion des verletzten Rechtsempfindens einer Gesellschaft. Sie betrachtet den Rechtsbruch als Anmaßung einer Ausnahmestellung gegenüber den Mitbürgern. Immerhin hat die Vergeltungstheorie auch den Vorzug, sehr deutlich zu machen, dass man nur den zurechnungsfähigen Rechtsbrecher, nicht auch Unschuldige bestrafen kann. Außerdem müssen ohne Ansehen der Person gleiche Taten gleich und ungleiche Taten nach Maßgabe des Gewichts des Rechtsbruchs bestraft werden.

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum die einzelnen Konzeptionen sich vor allem zur Todesstrafe und zur lebenslangen Freiheitsstrafe unterschiedlich verhalten. Auf die Todesstrafe möchte ich hier nicht näher eingehen. Die lebenslange Freiheitsstrafe wird nicht selten heute auch deshalb verworfen, weil man davon ausgeht, dass der Gefangene nach einer bestimmten Zeit seelisch weitgehend abgestumpft sei, so dass er die Fähigkeit verliere, sich auf seine Schuld einzulassen und sich positiv mit ihr zu beschäftigen.

III.

Die Theorien der Strafe und erst recht die Strafpraxis haben immer wieder auch etwas Willkürliches, Anmaßendes und Absolutes an sich. Dies hängt auch mit der lange Zeit unangefochtenen Souveränität des modernen Staates zusammen. Es ist verständlich, dass es hier manche Auflehnung gibt gegen einen Staat, der sich geradezu absolut oder gar göttlich gebärdet. Man hat darum mit Recht darauf hingewiesen[7], dass es sich - näher besehen - immer auch um Brechungen handelt, die das oft fraglose Vorgehen des Strafens problematisieren. Es sind dabei vor allem drei Perspektiven, die hier eine Rolle spielen:[8]

Es gibt ein Missverhältnis zwischen der absoluten sittlichen Forderung an den Einzelnen und der Relativität des konkreten, strafverhängenden Staates mit seiner Rechtsordnung und seinen Institutionen. Diese Nicht-Identität zwischen beiden ist den Menschen vor allem durch die Staatskriminalität des 20. Jahrhunderts tief aufgegangen und hat auch bei denen, die Strafe als Vergeltung vertreten, zu großer Nachdenklichkeit geführt. Im Namen Gottes und im Namen des Volkes sind auch wiederum furchtbare Verbrechen begangen worden.

Die Fragwürdigkeit der menschlichen Schuld ist uns in eins mit der Problematik der Zuerkennung von Schuld und des Schuldmaßes bewusster geworden: Es gibt die faktische Irrtumsmöglichkeit des richterlichen Urteils, die Unergründbarkeit der individuellen Schuld und der verborgensten Motive des Täters.

Wir sehen noch deutlicher ein, dass man durch äußere Auferlegung von Strafen die innere Umkehr und die Bejahung der Strafe als subjektive Sühne kaum erreichen kann.

Man sieht daraus auch, dass man - mindestens von theologischer Sicht aus - den strengen Begriff der Vergeltung dem göttlichen Gericht anheim stellen muss. Insofern steht gerade menschliche Strafe unter dem, was wir in der Theologie der letzten Jahrzehnte im Anschluss an E. Peterson und J. Moltmann sowie J.B. Metz den „eschatologischen Vorbehalt" nennen. Wir müssen also bei allem menschlichen und staatlichen Strafen die Fragwürdigkeit endgültiger Urteile erkennen. Die Konsequenz ist aber nicht, dass wir Strafe überhaupt nur noch als ideologisches Relikt einer Gesellschaft verstehen, sondern dass wir im Wissen um die Fehlbarkeit unseres Tuns das Werkzeug immer wieder verbessern und deshalb stets die Eignung von Strafmitteln überprüfen müssen. Dieser dreifache Vorbehalt erlaubt es uns auch, dass wir die Institution des Strafens produktiv weiterentwickeln. In diesem Sinne bedarf es immer wieder einer Reform des Strafrechts und des Strafvollzugs.

Wenn ich als Theologe auf diese mannigfaltigen Schwierigkeiten eine Antwort geben sollte, dann möchte ich den Kern jeder „Vereinigungstheorie" in so etwas wie „Versöhnung" erblicken.[9] Versöhnung ist dabei ein vielschichtiger Begriff, der durchaus auch spannungsvolle Elemente in sich birgt. Versöhnung kann es nur geben, wenn jemand seine mangelnde Friedfertigkeit und Verstöße im Umgang mit der Gewalt eingesteht. Wo eine Unfähigkeit zur Trauer über das, was geschehen ist, besteht, gibt es wohl auch keinen Weg, wirklich von seiner Schuld loszukommen. Wer außerdem gegen die Gerechtigkeit verstoßen hat, vermag zwar das Geschehene nicht ungeschehen zu machen, aber es gibt doch auch viele Formen der Wiedergutmachung, über die wir heute oft hinweg gehen. Gerade wenn aber nicht alles wiederhergestellt werden kann, bleibt ein Minimum von Bedauern, das eine Anerkennung von Schuld in sich schließt. Wenn dies aber tatsächlich eingesehen wird, dann darf man den Menschen auch nicht in der schlechten Vergangenheit, in die er gefallen ist, einschließen. Gerade der Begriff der Versöhnung verlangt, dass man bereit ist, einen Mitmenschen - selbst wenn er tief gefallen ist - einen neuen Weg in die Zukunft hinein zu eröffnen versucht. Versöhnung schließt den Täter nicht in der aufgelaufenen Schuld, ja Sünde ein, sie befreit den Menschen, indem sie ihm wieder Horizonte nach vorne erschließt. Oft gehen wir darum auch falsch um mit dem Begriff der Versöhnung, indem wir nur die Vergebung der Schuld, ja vielleicht sogar die „Sühne" erblicken[10], aber den befreienden und helfenden Aspekt der Ermöglichung eines neuen Lebens zu sehr unterschlagen. In diesem Sinne verstehe ich auch den Titel dieses Beitrages: von der Begleitung eines Gefangenen in eine neue Freiheit. Ich bin fest überzeugt, dass der christliche Glaube hier aus seinem eigenen Erbe ein menschenfreundliches Element enthält, das sehr wohl mit dem modernen Begriff der Freiheit vereinbart werden kann.

Aber dazu gehört auch noch ein letztes Element, das nicht fehlen darf. Wenn Jesus dem Menschen vergibt und ihn ein neues Leben beginnen lässt, verlangt er von ihm mit aller Entschiedenheit, dass er dem Bösen abschwört und in der Tat auch mit dem bisherigen Verhalten bricht. Es ist also wirklich so etwas wie eine Umkehr notwendig, die es auch in säkularer Gestalt gibt. Wenigstens die Einsicht ist notwendig, dass jemand bekennt, „Mist gebaut zu haben". Darum gehört im christlichen Glauben zur Versöhnung immer die Ansage und die Verkündigung von Vergebung, aber auch der Auftrag und die Mahnung, sich dieser Vergebung würdig zu erweisen.

Schließlich heißt dies auch, dass sich der Mensch auf dem Weg der Versöhnung der Anfälligkeit, die ihn auch künftighin begleitet, bewusst bleibt. Es wäre vermessen, wenn wir nicht immer wieder damit rechnen würden, dass wir angefochten bleiben, die Schlacken einer fragwürdigen Vergangenheit in uns noch nachbrennen und dass wir darum immer auch wieder Versuchte sind. Manche Reformideen der letzten Jahrzehnte, die durchaus eine gute Absicht gehabt haben mögen, sind bis zum heutigen Tag nicht zuletzt deshalb kläglich gescheitert, weil sie einen falschen Begriff des Menschen hatten. Sie haben naiv an den besseren Menschen geglaubt, der einfach umerzogen werden kann. Dass es aber Rückfälle und stets neue Anfechtungen zum Bösen gibt, ist weitgehend verkannt worden. Man kann nur den Menschen auf dem Weg der Versöhnung helfen, wenn man ihm bei der Bewältigung solcher neuer Versuchungen hilft. Dabei muss man auch mit der Möglichkeit rechnen, dass dies nicht bei allen gelingt, sondern dass es auch darum gehen kann, die Gesellschaft vor einzelnen Menschen zu schützen. Es ist zwar traurig und geradezu melancholisch, das Wort von einem unverbesserlichen Menschen in den Mund zu nehmen. Es gibt keine Hoffnungslosen. Aber die Nüchternheit unseres Lebens beweist uns immer wieder, dass wir bei aller Hoffnung und Zuversicht mit dem Schlimmsten rechnen müssen.[11]

IV.

Dies ist der Versuch einer Grundlegung. Ich bin nicht der Experte für den heutigen Strafvollzug, um diese Ideen bis in den konkreten Strafvollzug hinein in allen Verästelungen zu verfolgen. Aber ich möchte doch am Ende versuchen, wenigstens einige Aspekte aufzuzeigen, die konkretere Umrisse dieses Weges der Versöhnung aufzeigen.

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass viele Elemente in den Bestimmungen zum Strafvollzug wenigstens ansatzweise bereits vorkommen. Es ist zunächst wichtig, dass die Straftäter möglichst Unterstützung finden bei einer nachfolgenden Heranreifung zu einer verantwortungsvollen Individualität. Dies kann aber nur so geschehen, dass Täter sich mit ihrem Vergehen auch innerlich auseinandersetzen können und so Gelegenheit erhalten zu einer Reinigung und Läuterung ihrer Mentalität. Es hätte keinen Sinn, wenn eine Verhaltensänderung nur durch eine entsprechende Anpassung erzwungen würde. Zweifellos haben hier Bewährung und Bewährungshilfe, psychologische Begleitung und Seelsorge jeweils ihren eigenen Sinn. Solche Maßnahmen können m.E. auch bereits im Strafvollzug selbst institutionell eingebaut sein. Man denke an Lockerungen der Ordnung, soziales Training, Freigang, offener Vollzug. Hier ist auch die Straffälligenhilfe zu erwähnen, deren Zielsetzung die Vermeidung weiterer Straftaten durch öffentliche und private Hilfestellung zur sozialen Integration des Täters ist. Sie umfasst Jugendgerichtshilfe, soziale Gerichtshilfe, soziale Hilfe in der Untersuchungshaft und im Strafvollzug, Entlassenenhilfe, begleitende Hilfen durch Familienfürsorge, allgemeine Sozialdienste, prophylaktische Sozialarbeit. Gerade hier darf man auch die ambulanten Dienste nicht außer Betracht lassen. Es gibt viele Dienste, die weniger bekannt sind, die freilich aber auch nicht selten wenig koordiniert sind und für die Betroffenen undurchschaubar bleiben. Viele Hilfen müssen in zentralen Organisationsformen gebündelt werden.

Zu den entsprechenden Maßnahmen gehört schließlich auch die Strafaussetzung. Es muss intensiv nach einer günstigen Sozialprognose für den Täter gesucht werden, wenn nämlich die begründete Erwartung besteht, dass er künftig keine Straftaten mehr begehen wird. Hier müsste ausführlicher von Amnestie und Begnadigung die Rede sein, die einen wichtigen Platz im Gesamtkonzept des Strafvollzugs haben müssen. Dies wäre ein eigenes Thema, das sorgfältig bearbeitet werden müsste.

In jedem konkreten Einzelfall, der sehr stark von der Persönlichkeit des Verurteilten abhängt, geht es freilich auch um eine sinnvolle Gestaltung des Aufenthaltes in Gefängnissen, die mit der Aus- und Fortbildung, überhaupt der beruflichen Bildung beginnt und auch zu tun hat mit der Beschäftigung überhaupt, aber auch mit der Art der Tätigkeit. Der Vollzugsplan, der alle wichtigen Lebensbereiche zum Gegenstand hat, kann hier bis zur Entlassungsvorbereitung eine wichtige Unterstützung darstellen. Er macht sichtbar, dass der ganze Aufenthalt ein Ziel hat, strukturiert ist und eine gewisse Dynamik entfalten kann.

Auf jeden Fall hat der Strafvollzug den Sinn, dem verurteilten Straftäter nach Verbüßung der Strafe eine Chance zur Integration zu geben. Freiheitseinschränkungen, gerade wenn sie zum Schutz anderer notwendig sind, sollten immer auch die Besserung und Chance auf eine mögliche spätere Freiheitsausübung im Auge behalten. Eine solche Einstellung ist bei vielen Bediensteten im Strafvollzug sicher nur sehr schwer zu realisieren, denn sie sind täglich mit vielen Erfahrungen des Misslingens und des Scheiterns konfrontiert. Sie müssen jedoch so ausgebildet werden, unterstützt durch Fort- und Weiterbildung, dass sie trotz menschlicher Enttäuschungen solchen Frustrationen gewachsen sind. Sie brauchen in einem hohen Maß die Möglichkeit der Beratung und auch der Supervision. Hier ist gewiss auch ein wichtiges Feld formeller und informeller Kooperation in den Gefängnissen selbst, das freilich nicht selten auch von ungelösten Konflikten mitbeherrscht wird.

Die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Strafvollzug „Strafe: Tor zur Versöhnung?"[12] enthält nach meinem Urteil noch viele positive Anregungen, auf die ich verweisen möchte. Dabei scheint mir ein wichtiges Element zu sein, wie man den Gefangenen begegnet. Die Abscheu vor der Tat darf sich nicht einfach auf den Täter übertragen. Kein Gefangener darf einfach abgeschrieben werden. Auch ein wiederholter Rückfall darf nicht zu einem endgültigen Urteil über die kriminelle Laufbahn führen. Dies hängt gewiss auch damit zusammen, wie wir den Menschen betrachten, der im Gefängnis einsitzt. Das Thema der Straffälligkeit betrifft nicht nur den Verurteilten. Schicksal und Sünde, Schuld und Sühne betreffen jeden Menschen. Wenn wir wissen, dass wir selbst auch nicht unfehlbar sind, sondern stets Fehler machen, auch wenn sie nicht strafrechtlich geahndet werden, sehen wir auch die Vergehen anderer mit neuen Augen. Wenn wir dies nicht tun, entfernen wir uns auch von der konkreten Menschlichkeit, d.h. wir entfernen uns von uns selbst.

Der schlimmste Feind der Reform im Strafvollzug ist mangelnder Realitätssinn und fehlende Nüchternheit. Man darf nicht übersehen, dass es auch die sichere Verwahrung geben muss, bei der der Gefangene in der Vollzugsanstalt festgehalten werden muss. Es ist nicht immer leicht, diese Erkenntnis mit der Aufgabe zusammenzubringen, den Gefangenen wieder in die Freiheit zu entlassen. Es ist deshalb notwendig, den fast unvermeidlich gegebenen Zielkonflikt zwischen Gewährleistung der Sicherheit und Resozialisierung zu entschärfen. „Oft verlangen diese beiden Aufgaben ein unterschiedliches Vorgehen: Am sichersten verwahrt ist der Gefangene in einer übersichtlich gestalteten Haftraum, in dem ihm nur wenige eigene Sachen überlassen sind. Aber unter solchen Umständen erhält er auch nur geringe Hilfe und hat kaum Möglichkeiten, etwaige Defizite seiner Entwicklung zu verringern - mögen sie im Bereich der schulischen oder beruflichen Ausbildung, der Bewältigung der tagtäglichen Lebensanforderung oder im Umgang mit anderen liegen. Die für den Strafvollzug Verantwortlichen müssen sich bei jeder derartigen Abwägung daran erinnern, dass das Ziel der Wiedereingliederung Vorrang hat und dass das Leben in der Strafanstalt dem Leben in der Freiheit soweit als möglich angeglichen werden soll - Pannen auf dem Gebiet der Sicherheit werden von den Medien stark herausgestellt und finden auch politische Aufmerksamkeit; sie haben meist disziplinarische und organisatorische Folgen. Das verständliche Bestreben, sie zu verhindern, geht oft zu Lasten des Resozialisierungsprogramms. Die verstärkte Sicherheitstechnologie und die Einteilung von mehr Vollzugsbediensteten zu bloßen Überwachungsfunktionen kann aber die Sicherheit kaum noch erhöhen. Technische Einrichtungen lassen sich durch kluges Nachdenken überwinden. Wo zu viel Sicherheitspersonal ist, verlässt sich der eine auf den anderen. Ein gutes Anstaltsklima und ein ausreichendes Angebot von Behandlungs- und Freizeitmaßnahmen tragen dagegen erheblich zur Sicherung bei."[13]

Damit wird auch offenkundig, dass sich die Öffentlichkeit, nicht zuletzt durch die Medien, im Verständnis von Strafe und Strafvollzug neu orientieren muss. Wir tragen hier viele Vorurteile mit uns, die oft zwischen den Extremen schwanken. Liberalisierungsprogramme werden manchmal unbesehen unterstützt. Wenn ein Gefangener jedoch irgendwo ausbricht, beginnt oft eine gnadenlose Hetzjagd auf die Verantwortlichen, besonders die Justizminister. Zugleich werden im Falle von besonders verabscheuungswürdigen Verbrechen drastische Strafmaßnahmen gefordert. Hier bedarf es einer geduldigen rationalen Betrachtung, die nach allen Seiten hin überlegt.

V.

Ich komme zum Ende. Papst Johannes Paul II. hat im Jahr 2000 in besonderer Weise auch an die Gefangenen gedacht. Er hat die Kirche aufgerufen, in diesem „Heiligen Jahr" überall einen „Tag der Gefangenen" zu begehen. Dies gilt auch für heute. Wir sollten diesen Aufruf darum nicht übergehen, wie immer man einen solchen Tag gestaltet.

Aber die Impulse reichen noch weiter. Schon im Alten Bund gehörte es zu den Segnungen der Jubiläen und geheiligten Zeiten, dass man den Gefangenen die Freiheit schenkt. Es verdient nicht weniger Beachtung, dass der Besuch der Gefangenen, der sie zu einem Leben in der neuen Freiheit ermutigt, zu den Werken der Barmherzigkeit gehört, die der Christ den Armen dieser Welt erweisen soll. Und dies ist der Maßstab Jesu Christi für das Weltgericht: „Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen."[14] So darf es uns auch nicht wundern, dass Jesus von Nazareth bei seiner ersten Predigt in seiner Heimatstadt in diesem Kontext sein „Evangelium" - in einer Einheit des Alten und Neuen Bundes - findet, das unser Auftrag ist. Er ruft uns auch heute zu: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."[15]

Auch wenn wir im schwierigen Alltag des heutigen Strafvollzugs vieles für sehr viel herausfordernder halten und nüchterner sehen, so bleibt es doch bei diesem entscheidenden Impuls, der auch den heutigen Strafvollzug humanisieren und im Sinne des Weges in eine neue Freiheit besser gelingen lassen kann.

Die Sorge für die Gefangenen gehört von der Bibel des Alten Testaments bis zur heutigen Kirche zu den fundamentalen Aufgaben der Seelsorge und Diakonie.[16]

Deshalb sollen sich auch die Theologiestudierenden aller Ebenen und Ausrichtungen dafür interessieren. Wir tun wichtige Dienste in allen Gefängnissen.

Die Deutsche Bischofskonferenz hat ihre Erfahrungen und Erwartungen vor wenigen Jahren in einem umfangreichen Text niedergelegt, den ich der Aufmerksamkeit aller empfehlen möchte.[17]

 

[1] Vgl. den umfangreichen Artikel „Strafe" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band X, Basel 1998, 208 - 261.

[2] Zur Grundlegung M. Kaufmann, Rechtsphilosophie - Handbuch Philosophie, München 1996, 303 ff., 306 ff., 313 ff.; C. Roxin. G. Arzt, K. Tiedemann, Einführung in das Strafrecht und Strafprozessrecht = UTB 1279, 2. Auflage, Heidelberg 1988; J. Wessels, W. Beulke, Strafrecht - Allgemeiner Teil, 28. Auflage, Heidelberg 1998 (Lit.).

[3] Vgl. zusammenfassend O. Höffe (Hg.), Lexikon der Ethik, 7. Auflage, München 2008, 298 - 302 (Lit.); ders., Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, Frankfurt 1999; J.-Chr. Merle, Strafen aus Respekt vor der Menschen-würde, Berlin 2007.

[4] Dazu N. Brieskorn, Rechtsphilosophie = Grundkurs Philosophie 14, Stuttgart 1990; J. Schapp, Freiheit, Moral und Recht, Tübingern 1994, 94, 104 ff, 225 f.

[5] Vgl. z. B. Kategorische Rechtsprinzipien, Frankfurt 1995, 215 - 248.

[6] Vgl. zur ethischen Dimension: J.-C. Wolf, Verhütung oder Vergeltung. Einführung in ethische Straftheorien, Freiburg 1992.

[7] Vgl. K. Hilpert, Strafe, in: Lexikon für Theologie und Kirche IX, 3. Auflage, Freiburg 2000, 1027.

[8] Vgl. u. a. J. Gründel (Hg.), Recht und Sittlichkeit = Studien zur theologischen Ethik, Freiburg i. Br./i. Ü. 1982.

[9] Zum biblischen Begriff des Friedens und der Versöhnung vgl. K. Lehmann, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, Freiburg 1993, 621 ff, 704 ff.

[10] Zum schwierigen Begriff der Sühne vgl. K. Lehmann, Er wurde für uns gekreuzigt. Eine Skizze zur Neubesinnung in der Soteriologie, in: Theologische Quartalschrift 162 (1982), 298 - 317; ausführlich B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, Neukirchen 2000; T. Knöppler, Sühne im Neuen Testament, Neukirchen 2001; R. Kratz, Sühne, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006, 379 - 381.

[11] Von juristischer Seite vgl. auch H. Koch, Jenseits der Strafe, Tübingen 1988.

[12] Gütersloh 1990.

[13] Strafe: Tor zur Versöhnung?, 112.

[14] Mt 25,37.

[15] Lk 4,18 f in Verbindung mit Jes 61,1 f.

[16] Vgl. dazu den Überblick von E. Stobbe, Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge, in: Theologische Realenzyklopädie 12, Berlin 1984, 144 - 148.

[17] „Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen" (Hebr 13,3). Der Auftrag der Kirche im Gefängnis = Die deutschen Bischöfe 84, Bonn 2006 (dort auch Hinweise auf weitere Dokumente).

 

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