Was bleibt? Karl Rahners Vermächtnis für die Kirche heute und morgen

Fünfte Predigt während der Österlichen Bußzeit in der Reihe „Karl Rahner“ im Mainzer Dom am 27. März 2004

Datum:
Samstag, 27. März 2004

Fünfte Predigt während der Österlichen Bußzeit in der Reihe „Karl Rahner“ im Mainzer Dom am 27. März 2004

Sehr verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Leider ist trotz der schon einmal erfolgten Verschiebung meiner Predigt in dieser Reihe wieder eine wichtige Sache dazwischen gekommen, die mich hindert, persönlich diese Predigt und die hl. Messe halten zu können. Am heutigen Tag wurde Franz Kardinal König, ehemaliger Erzbischof von Wien, in der Wiener Kathedrale beigesetzt. Da die Abschiedsfeierlichkeiten mit dem Pontifikalrequiem erst um 13.00 Uhr in Wien begannen, ist es mir leider nicht möglich, zeitgerecht wieder in Mainz zu sein. Um so dankbarer bin ich, dass Herr Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann bereit ist, Ihnen den Text an meiner Stelle zu präsentieren.

Kardinal König ist mit fast 99 Jahren gestorben. Bis in die letzten Tage hinein war er von ungewöhnlicher geistiger und spiritueller Hellsicht. Er ist der letzte Kardinal, der noch lebte und von Papst Johannes XXIII. am 15. Dezember 1958, also vor 45 Jahren, mit Julius Döpfner zum Kardinal ernannt worden war. Er war einer der großen Bischöfe Österreichs und man darf wohl auch sagen der Weltkirche im vergangenen 20. Jahrhundert.

Sein Name hat auch mit Karl Rahner etwas zu tun, denn er war von Kardinal König zum persönlichen Berater während des Zweiten Vatikanischen Konzils berufen worden. Ich durfte damals diese Zusammenarbeit aus nächster Nähe erleben. Ich bitte um Verständnis, dass ich als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, aber auch aufgrund der freundschaftlichen Verbundenheit mit Kardinal König an der Beisetzung in Wien teilnehmen muss.

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Wenn große Menschen von uns gehen, entsteht nach ihrem Heimgang zunächst eine eigentümliche Erfahrung der Leere. Es ist nicht nur die Erkenntnis, dass einer fehlt, der für viele ein Meister des Denkens und ein ungewöhnlicher Seelsorger war. Das Ausbleiben seiner Wegweisungen und Zwischenrufe, die für ein halbes Jahrhundert nicht wegzudenken sind, hat eine Lücke hinterlassen, die nicht geschlossen werden kann. In diesem Sinne ist Karl Rahner einmalig und unersetzlich. So sehr wir uns sonst scheuen, solche Worte in den Mund zu nehmen, hier sind sie am Platz. Dies ist uns 100 Jahre nach seiner Geburt und 20 Jahre nach seinem Tod noch viel deutlicher geworden.

Karl Rahner ist jedoch in seinem Werk gegenwärtig. Auch wenn nach seinem Tod bis heute nicht mehr viel bisher gänzlich Unveröffentlichtes aus dem Nachlass herausgegeben worden ist, so erscheint das Gesamtwerk wie ein riesiges Gebirge, das sich weit ausdehnt und viele Gipfel und Täler zeigt. Dieses Werk, das bis zum heutigen Tag weltweit in vielen Übersetzungen zugänglich ist, gibt Zeugnis vom unermüdlichen Schaffen eines Mannes, der mehr als 50 Jahre seine ganze Kraft der vielfältigen Vertiefung des Glaubens der Kirche nicht nur in fast allen Disziplinen der Theologie, sondern auch auf sehr vielen Handlungsfeldern des menschlichen und kirchlichen Lebens geschenkt hat. Dieses Werk wird neu und staunend erschlossen von jungen Menschen und künftigen Generationen, die es nun mit ihren eigenen Fragen entdecken. Es gehört zu den erfreulichen Überraschungen dieses Jubiläums, dass viele junge Theologinnen und Theologen, die Karl Rahner nicht mehr persönlich kennen konnten, einen neuen Zugang zu ihm gefunden haben und sein Werk weiter erschließen helfen.

Es ist nicht wahr, dass Karl Rahner immer schwierig und schwer verständlich sei. Erfolgreiche Bücher wie „Von der Not und dem Segen des Gebetes“ sowie „Gebete des Lebens“, die soeben wieder erschienen sind, finden gerade wegen ihrer Einfachheit immer wieder begeisterte Leser. „Das große Kirchenjahr“ zeigt neu die geistige Fruchtbarkeit Karl Rahners auch für die Begleitung der erneuerten Liturgie. Viele, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht zuletzt durch Karl Rahners direktes und indirektes Einwirken zu einem geistlichen Beruf und zur Theologie gefunden haben, greifen immer wieder in Stunden der Entmutigung und auf der Suche nach kräftiger geistlicher Nahrung zu Texten, die für sie über lange Zeit Stütze und Halt waren. Viele aus diesen Generationen verdanken ihm das Finden ihrer Berufung und die Treue zu ihr, gerade auch im Alltag des Lebens. Die ganze Kirche hat darum Grund genug, Karl Rahner für seinen Dienst als theologischen und geistlichen Lehrer auch heute noch von ganzem Herzen zu danken.

Karl Rahner hat nach wie vor etwas zu sagen und regt auch wie jeder großer Denker zur Gegenrede an. Es gibt - Gott sei Dank - keinen abwegigen Rahner-Kult, der sich mehr mit seiner Person als mit seinem Werk beschäftigt, so sehr viele Zeitzeugen das Leben und Wirken dieses selbstlos und eher verborgen arbeitenden Ordensmannes noch erhellen können. Karl Rahner ist auch keine Mumie geworden, die nur noch aus historischer Distanz betrachtet und nach allen Richtungen seziert wird. Auch die gegenwärtigen, jungen Generationen, die ihn kaum mehr in seinem persönlichen Wirken kennen lernen konnten, kann er für seine Sache begeistern. Dafür darf man freilich die Anstrengung des Begriffs und das strenge Denken nicht scheuen. Dieser Zugang über die zahlreichen Werke mit den unzähligen Verästelungen des Gedankens, die immer wieder einen neuen, freien Blick auf dieselbe Sache des Glaubens abgeben, ist unersetzlich und vereint auch wieder alle Freunde Karl Rahners.

Gewiss ist es notwendig, die Entstehung und den Verlauf von Rahners Denken durch minutiöse Untersuchungen genau zu verfolgen. Dies ist gerade auch in den letzten beiden Jahrzehnten seit seinem Tod gründlich geschehen und erfolgt immer noch. Viele Begriffe, die - nicht bei Rahner selbst - in der Theologie der letzten Jahrzehnte eher zum Jargon geworden sind, wie z.B. anthropologisch oder existenzial, werden sorgfältig untersucht. Dabei werden auch - wie sollte es anders sein - neben vielen kostbaren Einsichten Rahners einzelne Mehrdeutigkeiten und Brüche in seinen Gedanken festgestellt. Rahners Denken gibt im Einzelnen noch viele Rätsel auf, aber sein Denken selbst ist im Kern immer klar.

Das Gedenken an Karl Rahner erlaubt jedoch nicht nur einen Rückblick. Er steht lebendig in der Kirche und in der Gesellschaft von heute. Wenn man ihn - gewiss auch aus einem Abstand heraus -heute wieder liest, scheint er manchmal unserer Gegenwart noch näher zu sein als früher seiner Zeit. Es gibt gerade im Blick auf die Situation der Kirche heute in vielen Schriften Karl Rahners aus allen Jahrzehnten prophetische, ja geradezu visionäre Elemente, die der Orientierung heute dienen können. Damit ist nicht gesagt, dass man alles kritiklos übernehmen kann. Er hat jedoch z.B. die innere Not einer pluralistischen Gesellschaft, die Notwendigkeit des beständigen und ernsthaften Dialogs, die Christen in ihrer wachsenden Diaspora-Situation und die Lage eines „Glaubens in winterlicher Zeit“ tiefer erkannt als die meisten Analysen, die heute feilgeboten werden. Es lohnt sich, Karl Rahner als einen unabhängigen Beobachter unserer Situation zu hören, der zugleich ein unbestechlicher, nüchterner Diagnostiker und ein Seelsorger ist, der viel Mut und Zuversicht in einer oft dürftigen Situation ausstrahlt. Wer bei Karl Rahner in die Schule geht, bleibt nicht bei Wehleidigkeit, Selbstbespiegelung und Resignation stehen, sondern lässt sich immer wieder von „Sendung und Gnade“ erfassen.

Karl Rahner bleibt darum ein Vorbild für die Theologie und das Leben des Glaubens, weil er immer wieder auf die letzten Grundfragen stößt. Wir haben im Betrieb von Kirche und Theologie so viele sich manchmal schrecklich aufspreizende Spezialisten, dass man fast nichts mehr von der Leidenschaft der Suche nach Gott erkennt, die überhaupt der Grund ist, dass Menschen von religiösen und theologischen Fragen umhergetrieben werden. Karl Rahner konnte gerade an dieser Stelle auch ein abgründiger Schelm sein. Aber es war keine Ironie, wenn er für sich nur den Anspruch des „Dilettanten“ reklamierte. Er hatte Respekt vor der unübersehbaren Menge wissenschaftlicher Fachprobleme und fühlte sich manchmal - wie ich meine ganz zu Unrecht - ihnen gegenüber als ein Zwerg, aber er wollte nicht auf die erste Aufgabe verzichten, die einen Theologen beschäftigt, nämlich das immer erneute Fragen und Suchen nach Gott, Jesus Christus und seiner Zusage des Heils für die Welt in den Sakramenten und in der Kirche. Von dieser Leidenschaft nach Gott her, die Karl Rahner auch als einen mystisch begabten Theologen auszeichnet, erscheinen manchmal die konkrete Geschichte und die sichtbare Institution wie aufgezehrt. Karl Rahner hat eine wachsende Sorge bewegt, dass diese nicht Gott selbst verdecken und verhüllen. Heute wissen wir besser, was damit gemeint ist.

Ist dies einmal erkannt und angenommen, dann gibt es gewiss noch viele offene Fragen über das Verhältnis von Gott und Welt, Offenbarung und Geschichte, transzendentalem und kategorialem Moment der Wirklichkeit. Gerade hier wird philosophisch und theologisch neu eingesetzt werden müssen. Karl Rahner wusste wohl um unvollendete Gedanken und auch um unaufgelöste Spannungen seines Denkens. Aber er hat sich gerade im Alter eher in diese Grenzen gefügt, vom Erreichten aus unermüdlich immer wieder überraschende Konsequenzen entfaltet und bewusst die bleibende Offenheit menschlichen Bemühens eingeräumt. Aber gerade darum hat er - auch außerhalb der dogmatischen Theologie - den Christen von heute, um die es ihm ganz entscheidend ging, unerhört viel zu sagen. Und dies gilt gerade für viele Themen, die heute weniger oder kaum mehr verhandelt, aber zweifellos eines Tages wiederentdeckt werden: von der guten Meinung, der Armut, dem Gehorsam, der Demut, dem Verzicht, der Großmut, dem Gott suchen in allen Dingen, dem Risiko der Freiheit, der Gegenwart des Todes mitten im Leben, dem Fürbittgebet und der Notwendigkeit der Beichte. Hier gilt es, vieles wieder zu entdecken. Neue Generationen, die freilich eine erste Scheu des Zugangs überwinden müssen, werden hier manche Kostbarkeit finden, die in unserer Zeit verloren ging oder entstellt wurde. Karl Rahner ist ein Mann für morgen und auch für übermorgen.

Es gibt ein tiefes Geheimnis der Fruchtbarkeit eines geistig schöpferisch wirkenden Menschen nach seinem Tod. Eine Weile mag es so aussehen, als ob das meiste einer vergangenen Zeit angehört. Aber vielleicht ist dieser Rückzug vom bloß Aktuellen, das Karl Rahner nie gefangen nehmen konnte, der Anfang einer Verwandlung, die den wahren Rang sichtbar macht, dass nämlich das Werk eines Mannes weit über die Gegenwart hinaus denkwürdig bleibt und mitten in aller Endlichkeit etwas vom Glanz der Wahrheit leuchten lässt. Wir sind überzeugt, dass Karl Rahner dieses Licht der Wahrheit, das er ein Leben lang für andere und sich suchte, in Gott gefunden hat. Darin ist er als ein echter Lebe- und Lesemeister bleibendes Vorbild.

Es kommt mir immer wieder vor, dass er in den großen Lebensvollzügen und Aufgaben ein solches Vorbild ist. Er hat einen großen Mut zum Glauben und ist tief und leidenschaftlich davon überzeugt, dass dieser Glaube dem Menschen einen Reichtum schenkt, der durch nichts ersetzt werden kann. Gerade darum ist Karl Rahner auch überzeugt, dass das Denken immer wieder neu durch Suchen und Fragen die abgründigen Schätze von Glaube, Hoffnung und Liebe entdecken kann und heben hilft. Die Stätte, wo Gott alle Menschen zur Teilhabe an dieser seligmachenden Wahrheit einlädt, ist die Kirche, zu der Karl Rahner eine abgründige Liebe, aber auch ein sehr nüchternes Verhältnis hat. Er kennt die Größe der heiligen Kirche durch alle Jahrhunderte und zugleich das Elend, das wir selber sind und schaffen. Zugleich ruft er immer wieder auf zur Sendung, die das Evangelium von der Versöhnung mit Gott und der Menschen untereinander unermüdlich und unablässig in unsere Welt hineinruft, bis wir ihn von Angesicht zu Angesicht schauen dürfen.

Dies ist die Aufgabe der Theologie und der Verkündigung zu allen Zeiten. Darum ist uns Karl Rahner so kostbar, weil er diese Wahrheit immer wieder in ihrer Tiefe und Schönheit ausgelotet hat. Darum hat er aber auch immer wieder den Menschen, uns selbst und die Abgründe unserer Gegenwart getroffen und zugleich Wege zur Heilung aufgezeigt. Dass wir in ihm nahtlos den bleibenden und unersetzlichen Schatz des Glaubens erhalten und gerade auch so geistesgegenwärtig sind, macht seine Bedeutung für heute und morgen aus.

Es gilt das gesprochene Wort

(c) Karl Kardinal Lehmann

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz