Was bleibt jetzt in Europa zu tun?

Vom Verfassungsentwurf zum Grundlagenvertrag

Datum:
Mittwoch, 7. November 2007

Vom Verfassungsentwurf zum Grundlagenvertrag

Einführungsreferat beim Martinsempfang des Katholischen Büros am 7. November 2007 in Mainz

I.

Am 18. Oktober diesen Jahres haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union über den zukünftigen „Vertrag von Lissabon“, den Reformvertrag zur Änderung der bestehenden Europäischen Verträge, geeinigt. Die öffentliche Reaktion auf diesen neuen Grundlagenvertrag der Europäischen Union ist bislang recht zurückhaltend und nüchtern. Das ist insofern auch verständlich, als Europa in den letzten Jahren bereits an einer Europäischen Verfassung schnuppern konnte, sich jetzt aber mit einer Einarbeitung von strukturellen und inhaltlichen Reformen in die bestehenden Verträge zufrieden geben muss. In den letzten Jahren haben wir hier beim Martinsempfang des Katholischen Büro Mainz immer wieder zur Frage einer Verfassung für Europa gesprochen. Ich darf selbst auf frühere Ausführungen hinweisen. Deshalb möchte ich die heutige Gelegenheit unseres Empfanges nützen, um nun nach der Einigung vom 18. Oktober 2007 und vor der endgültigen Annahme durch die Regierungskonferenz im Dezember dieses Jahres eine vorläufige Zwischenreflexion durchzuführen und ein wenig innezuhalten.

Auch wir bedauern, dass der Verfassungsprozess, der mit den Arbeiten des Konvents und dem Ergebnis der Regierungskonferenz im Jahr 2004 zunächst so erfolgversprechend angelaufen war, bereits ein Jahr später in zwei Verfassungsreferenden an der Ratifikation gescheitert ist. Dennoch besteht kein Anlass, den jetzigen Reformschritt der Europäischen Union gering einzuschätzen.

Einerseits ist die Einigung von Lissabon an sich schon ein großer Erfolg, der Europa aus einer langwierigen Verfassungskrise geholt hat. Und wir sind dankbar, dass Deutschland mit seiner EU-Ratspräsidentschaft unter Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im ersten Halbjahr und der Aushandlung des Mandats für die Regierungskonferenz auf der Zusammenkunft des Europäischen Rats im Juni 2007 einen bedeutenden Beitrag zu dieser Einigung leisten konnte. Denn gerade wir Deutschen haben nicht nur in der Vergangenheit in jeder Hinsicht von der europäischen Einigung profitiert, sondern das Fortschreiten der europäischen Integration ist auch weiterhin ein ureigenes deutsches Interesse. Niemand weiß dies besser als die Menschen in Rheinland-Pfalz, die in den letzten Jahrhunderten in besonderem Maße von den großen europäischen Rivalitäten und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen waren.

Anderseits ist der Vertrag von Lissabon auch inhaltlich ein bedeutender Erfolg. Die meisten – und vor allem die wichtigsten – Änderungen, die mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa hätten eingeführt werden sollen, sind nun in den Reformvertrag hinübergerettet worden. Zwar ist der Verzicht z.B. auf Unionssymbole wie Flagge und Hymne bedauerlich und teilweise auch unverständlich, wenn man gleichzeitig auf eine Stärkung des europäischen Bewusstseins setzt. Dass aber die Übernahme der Strukturentscheidungen bezüglich der Institutionen und Entscheidungsverfahren der Union in den Reformvertrag gelungen ist, gerade angesichts der politischen Lage rund um die Gipfel vom Juni und Oktober 2007, ist ein europäischer Erfolg, der sich nicht verstecken muss.

So wie die Kirche die europäische Einigung stets begleitet und unterstützt hat, so begrüßt sie nun nachdrücklich auch diesen neuen Vertrag, zumal sie sich aktiv und intensiv in den Prozess der Verfassungsgebung eingebracht und ihn öffentlich begleitet hat. Sie hat die Idee und Absicht der Verfassung begrüßt und hat auch nach ihrem Scheitern eine Fortsetzung der institutionellen Reformen angemahnt, nicht zuletzt beim 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März dieses Jahres. In der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu diesem Jubiläum heißt es beispielsweise: „Damit Europa aber auch seiner Verantwortung in der Zukunft gerecht werden kann, braucht es eine gut funktionierende innere Ordnung, die die Europäische Union auch dann, wenn sie eines Tages wirklich alle europäischen Völker vereint, nach innen und nach außen handlungsfähig macht. Es ist deshalb gut, wenn zum fünfzigsten Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge der europäische Verfassungsprozess neu aufgenommen wird.“ Mit dem zukünftigen Vertrag von Lissabon hat die Europäische Union nun einen bedeutenden Schritt in Richtung einer solchen funktionierenden Ordnung getan, sodass wir uns über das neue Vertragswerk freuen sollten.

II.

Dabei stellt es einen besonderen Fortschritt dar, dass der zukünftige Vertrag von Lissabon die Werte und Ziele erweitert, denen sich die Union verpflichtet fühlt. Dazu gehört an erster Stelle auch die Menschenwürde, was wir besonders begrüßen – erwächst doch gerade die unverletzliche Würde eines jeden Einzelnen dem christlichen Menschenbild. Einen weiteren Beitrag zur Fortentwicklung der Europäischen Union zu einer Wertegemeinschaft bildet die Charta der Grundrechte, die nach ihrer Proklamation im Dezember 2000 bislang nur rechtserheblich war, deren Rechtsverbindlichkeit nun aber im Reformvertrag festgeschrieben wird. Von besonderem Interesse innerhalb dieser Charta ist für uns die Verankerung der Religionsfreiheit in ihrer individuellen, kollektiven und korporativen Dimension. Beachtlich ist zudem, dass aus der gesamten Präambel des Verfassungsvertrages nur der Erwägungspunkt in die überarbeitete Präambel des EU-Vertrages übernommen wurde, in dem u.a. vom religiösen Erbe Europas die Rede ist.

Ein besonderes Augenmerk haben wir innerhalb des Verfassungsprozesses auf den Art. I-52, den so genannten Kirchenartikel, gelegt. Zur positiven Bilanz des zukünftigen Vertrags von Lissabon gehört, dass der Kirchenartikel nun als Art. 15 b in den neu benannten Vertrag über die Arbeitsweise der Union, den derzeitigen EG-Vertrag, eingefügt wird. Damit wird der Inhalt der so genannten Kirchenerklärung zur Schlussakte des Amsterdamer Vertrages in das Primärrecht der Europäischen Union übernommen und zur vollen rechtlichen Geltung gebracht. Nach dieser Bestimmung achtet die Union den Status der Kirchen, wie er jeweils in der nationalen Rechtsordnung festgelegt ist. Auch der dritte Absatz des Kirchenartikels, der für die Europäische Verfassung neu entworfen worden war, wird über den zukünftigen Vertrag von Lissabon in Kraft treten. Dieser neue Absatz besagt, dass die Union in Zukunft einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den Kirchen führt. Die Zukunft wird zeigen, auf welche Weise wir den uns so eröffneten, institutionellen Rahmen mit Leben und Inspiration erfüllen können.

III.

Aber wo Licht ist, da fällt auch Schatten. Wenn wir als Kirche den Vertrag von Lissabon begrüßen und seine verschiedenen Elemente als bedeutende, wichtige und richtige Schritte in der europäischen Entwicklung zu mehr Transparenz, Demokratie und Effizienz würdigen, so gehört es doch ebenso zu einer Gesamtbeurteilung, diejenigen Punkte zu benennen, in denen wir uns ein anderes Ergebnis hätten vorstellen können.

Wir begrüßen die Aufnahme des Kirchenartikels in den Reformvertrag und sind allen dankbar, die sich dafür eingesetzt haben. Es gibt allerdings Stimmen, die den Kirchenartikel lieber als Teil des Vertrags über die Europäische Union gesehen hätten. Ich habe für diese Auffassung nicht nur Verständnis, sondern teile sie, denn schließlich finden sich in diesem Vertrag auch die meisten anderen Artikel des ehemaligen Verfassungskapitels über „Das demokratische Leben der Union“, darunter die parallel zum Dialog mit den Kirchen ausgestaltete Verpflichtung der Unionsorgane zum Dialog mit der Zivilgesellschaft. Gleichwohl ist aber festzuhalten, dass beide Verträge, der Vertrag über die Europäische Union und der über ihre Arbeitsweise, Grundlage der Union sind und den gleichen rechtlichen Stellenwert haben. Angesichts dieser Hervorhebung des gleichen rechtlichen Stellenwertes beider Verträge an derart – im Vergleich zu früheren Entwürfen des Reformvertrags – prominenter Stelle sowie vor dem Hintergrund der Berichte und Zusicherungen, die uns von Beobachtern und Teilnehmern der Regierungskonferenz erreichten, gehen wir fest davon aus, dass die rechtliche Bedeutung des Kirchenartikels in seiner Verortung im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union nicht nur kurz-, sondern auch langfristig ungeschmälert zum Tragen kommen wird. Hieran werden wir auch festhalten und den konkreten Verlauf des zukünftigen Vorgehens sorgfältig begleiten. Zweifellos bedeutet die Einordnung unter die „Arbeitsweisen“ bei aller genannten formellen Sicherung auch die Versuchung zu einer pragmatischen Interpretation, die ja ohnehin zur Leitlinie des jetzigen Textes geworden ist.

Die Grundrechtecharta ist nicht in das zukünftige Vertragswerk aufgenommen worden. Dies kann man bedauern, denn es hätte nicht nur Symbolcharakter gehabt, wenn die Grundrechtecharta - wie beim Verfassungsvertrag vorgesehen - in den Vertrag über die Europäische Union inkorporiert worden wäre. Allerdings bestimmt Artikel 6 des zukünftigen Vertrages über die Europäische Union, dass „die Union (…) die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta der Grundrechte (…) niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte hat dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge.“

Ein Wermutstropfen ist, dass sich einzelne Mitgliedsstaaten eine Option bezüglich der Geltung der Grundrechtecharta vorbehalten haben. Inwieweit die Inanspruchnahme dieser so genannten „Opt-outs“ der Glaubwürdigkeit Europas als Wertegemeinschaft dienen, wird die Zukunft zeigen. Anlass zur Zuversicht geben die vorsichtigen Andeutungen jedenfalls unserer polnischen Nachbarn, diese Option nicht in Anspruch zu nehmen und die Geltung der Grundrechtecharta anzuerkennen.

Die katholische Kirche bedauert insbesondere, dass es nicht gelungen ist, in der Präambel des zukünftigen Vertrags über die Europäische Union eine Formulierung zu finden, die der Geschichte Europas gerecht wird und die das Christentum als die wohl bedeutendste religiöse Wurzel des Kontinents anerkennt. Das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas“, von dem die Präambel nun spricht, ist ohne den Beitrag des Christentums unvorstellbar. Es erscheint uns deshalb unverständlich, warum man das religiöse Erbe Europas dann nicht mit einem Hinweis auf das Christentum präzisiert. Darüber hinaus hätten wir uns einen Gottesbezug in der Präambel gewünscht. Dies zeigt die bleibende Schwäche auch dieses Versuchs.

Ich weiß, dass viele dieses Anliegen unterstützt haben. Ein solcher Gottesbezug, wie wir ihn auch in Deutschland kennen, hätte die Begrenztheit menschlichen und politischen Handelns verdeutlicht und hätte auch dem europäischen Staatenverbund gut angestanden. Einen noch deutlicheren Gottesbezug als das Grundgesetz der Bundesrepublik weist übrigens die rheinland-pfälzische Landesverfassung auf, die mit den Worten beginnt: „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft...“ Dass der zukünftige Vertrag über die Europäische Union hingegen in keiner Form Bezug auf Gott nimmt, ist und bleibt für uns enttäuschend.

IV.

Uns ist aber auch bewusst, dass der Reformvertrag nur ein weiteres Glied in einer Kette zahlreicher europäischer Vertragsrevisionen bildet, dessen Ende und letztes Glied noch nicht erreicht ist. Selbst wenn es vielleicht länger dauern wird als bei den letzten Vertragsüberarbeitungen, wird auch dieser Reform der Verträge eine weitere folgen. Wir sind von der Zeitlosigkeit und der Berechtigung unserer Anliegen überzeugt. Insofern werden wir unsere Vorschläge nicht beiseite legen, sondern die nächsten Jahre nutzen, um in Europa weiter für eine Unterstützung in diesen Fragen zu werben. Die Kirche wird den europäischen Einigungsprozess also auch in Zukunft kritisch, vor allem aber konstruktiv begleiten. Gerade weil uns die europäische Integration am Herzen liegt, werden wir im Rahmen unseres Auftrags und unserer Möglichkeiten den Auf- und Ausbau des gemeinsamen europäischen Hauses weiter unterstützten. Auf europäischer Ebene gibt uns dazu der Dialog Gelegenheit, zu dem der zukünftige Vertrag von Lissabon die europäischen Institutionen verpflichtet.

Dies ist insofern wichtig, als die Stimme der Kirchen um so nötiger wird, als auch der Wirkungsbereich der Europäischen Union zunimmt. Wenn auf europäischer Ebene z.B. über die Förderung der Stammzellforschung entschieden wird, wenn die soziale Dimension der Union an Bedeutung gewinnt oder wenn die EU als Element einer globalen Friedensordnung agieren will , dann sind die Kirchen gefordert, ihre Stimme und ihre Mahnungen in diese öffentlichen europäischen Diskussionen mit einzubringen.

Doch der schwierigste Schritt ist immer der nächste, dies hat sich in der europäischen Politik immer wieder bewahrheitet. Deshalb gilt es nun, den Blick auf die Ratifikation des zukünftigen Vertrags von Lissabon zu richten. Dass dieser Vertrag in relativ kurzer Zeit in Kraft treten wird, ist zwar wahrscheinlich, aber nicht sicher. Das Inkrafttreten des Vertrages kann durch das Scheitern des Ratifikationsprozesses in einem einzigen der 27 Mitgliedstaaten verhindert werden. Nicht allein ein Referendum über den zukünftigen Vertrag von Lissabon, wie dies jedenfalls in Irland Voraussetzung für den Ratifikationsprozess sein wird, kann im Falle seines negativen Ausgangs den Ratifikationsprozess stoppen, sondern auch die Verweigerung der Zustimmung zu diesem Vertrag durch ein einziges nationales Parlament.

Die Kirchen haben in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits für eine Ratifikation des Verfassungsvertrages geworben. Wir werden auch jetzt nicht nachlassen, uns für das Inkrafttreten des zukünftigen Vertrags von Lissabon einzusetzen. So berechtigt die eine oder andere Kritik an den konkreten Schritten der europäischen Einigung auch sein mag, so sind wir nun gehalten, die Perspektiven des neuen Reformvertrages für die EU darzustellen: Möge die Europäische Union hierdurch eine bessere werden als sie es bereits ist.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten zu finden

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz