Was in allem Fortschritt bleibt

Anmerkungen aus theologisch-kirchlicher Sicht

Datum:
Donnerstag, 10. Januar 2008

Anmerkungen aus theologisch-kirchlicher Sicht

Abendvortrag beim 32. Interdisziplinärem Forum der Bundesärztekammer „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“ am 10. Januar 2008 in Berlin

I. Zur Dialektik des Fortschritts in der Moderne

II. Die neue Verantwortung des Menschen im bleibenden Spannungsbogen von „Bebauen und Bewahren“

III. Die bleibende Sorge um die Gesundheit als eigenes Gut und um den kranken Menschen

IV. Bleibende Grenzen des endlichen und sterblichen Menschen

V. Bleibende Sorge um eine ganzheitliche Betrachtung besonders des kranken Menschen

 

Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, Herr Präsident Prof. Dr. Hoppe, und den Verantwortlichen sowie Mitarbeitern der Bundesärztekammer für die freundliche Einladung. Ich spreche im Rahmen Ihres schon Tradition gewordenen Interdisziplinären Forums, das dem Thema „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“ gewidmet ist. Von mir werden Sie nicht erwarten, dass ich unmittelbar etwas Relevantes zur Medizin im Sinne der Forschung und der Wissenschaft sage. Aber vielleicht ist dies auch eine Chance, als Brückenbauer zwischen den Disziplinen und im Interesse des ganzen Menschen tätig zu werden. In diesem Sinne werde ich versuchen, wenigstens medizinnah zu bleiben.

I. Zur Dialektik des Fortschritts in der Moderne

Trotz aller Unkenrufe hat das Wort „Fortschritt“ auch heute noch einen hohen Signalwert zur Kennzeichnung unserer Zeit. Wir können uns unsere gegenwärtige Situation und unsere Zukunft kaum vorstellen ohne eine Steigerung unserer technischen und ökonomischen Möglichkeiten. Die Grenze des „Machbaren“ schiebt sich immer weiter hinaus. Wir erobern Schritt um Schritt echtes Neuland, auch wenn wir um Rückschläge und Irrwege wissen.

Dies war nicht immer so. Die Natur wurde fortschreitend menschlichen Zwecksetzungen unterworfen, ganz bewusst auch zur Lebenserleichterung gegenüber menschlicher Mangelhaftigkeit und Unfertigkeit. Die Natur ist zunächst immer noch etwas, was den Menschen umgreift und bestimmt. Gegenüber einigen Bereichen der Natur empfand der Mensch im Blick auf seine eigene Lebenserhaltung konkrete Verantwortung. So hat er Tiere, die ihm durch die Jagd als Nahrung dienten, vor dem Ausrotten geschützt. Aber es gab gegenüber der Übermacht der Natur, die nicht zuletzt auch als Feindin und in ihrer Übermacht erfahren wurde, keine umfassende menschliche Verantwortung. Ihr gegenüber waren eher Klugheit und Erfindungsgabe angebracht.

So kann man trotz ständig notwendiger Auseinandersetzungen und Zähmungsversuche sagen, dass der Mensch über Jahrtausende mit der Natur in einer Symbiose lebte. In der Neuzeit ist an die Stelle dieser Form des Zusammenlebens das Verhältnis einer progressiven Herrschaft getreten. Daran sind viele Faktoren beteiligt. Die praktische Naturbewältigung wird theoretisch durchdrungen. Das Wissen geht nicht mehr von allgemein anerkannten Voraussetzungen aus, sondern schafft sich diese im Sinne von Hypothesen. Dies eröffnet qualitativ neue, noch nicht dagewesene Möglichkeiten. Die Einsicht in die Natur kann so auch andere Hinweise auf die Herstellung geben als die Empfehlung der Nachahmung, es nämlich so zu machen, wie die Natur es machen würde. Am vorgegebenen Stoff interessieren die gewünschten Eigenschaften. Immer mehr werden aus den zufällig hantierenden und tastenden Alchimisten eher Architekten eines gewaltigen Werkes. Die wissenschaftliche Erkenntnis ist konstruktiv geworden, weil sie den Entstehungsprozess ihrer Gegenstände rekonstruiert. Die exakte Naturwissenschaft verbindet sich mit einer technisch-praktischen Daseinsbewältigung. Wissen ist Macht. Der Prozess einer fortschreitenden Unterwerfung der Natur unter den Menschen, dem sich die Natur als Objekt entgegenstellt, geht dabei weniger auf das „Wesen“ oder eine „Wesensordnung“ zurück, sondern interessiert sich für die quantitativen Grundbestimmungen (Kraft, Größe, Masse, Dichte, Geschwindigkeit usw.). Die Technik ist folgerichtig nicht bloß die nachträgliche „Anwendung“ der Naturwissenschaften, sondern diese sind von Haus aus auf Welteroberung, Umgestaltung und Herstellung ausgerichtet.

Zur Struktur dieser Beherrschung der Welt gehört unabtrennbar der Begriff des Fortschritts. „Wir schreiten zurück, wenn wir nicht fortschreiten, weil man nicht stehen bleiben kann“, schreibt Leibniz an den Rand bei der Lektüre des Buches „Wissenschaft der Theologie“ von Helmonts. Wenn die Macht nicht vermehrt wird, muss man fürchten, sie zu verlieren. Dieser Fortschritt ohne Regression vollzieht sich in allen Bereichen der Gesellschaft, der Politik und der Moralität. Durch den Fortschritt geschieht der Übergang der Menschheitsgeschichte vom Schlechteren zum Besseren. Da dieser Fortschritt nicht nur als erkennende Betrachtung einer unverfügbaren Welt verstanden wird, sondern sich als Forschung, Entdeckung und Konstruktion vollzieht, zielt er auf eine Form menschlicher Praxis, welche die Natur immer mehr der Herrschaft des Menschen unterwirft. Die Geschichte wird dadurch zu einer gesteigerten Befreiung des Menschen von der Übermacht der Naturgewalten wie auch von allen sonstigen Behinderungen.

Im Grunde leben wir selbst noch, auch wenn unser „Fortschrittsglaube“ erschüttert ist, in einer solchen Denkweise. Der Mensch nimmt darum auch Nebenwirkungen, die schädlich sind, in Kauf. Man denke etwa an eine Übernutzung der Natur, an die Verwendung von Mitteln zur Produktionssteigerung oder an die Pharmakologie. Aber die „Errungenschaft“ ist viel stärker, so dass die Sensibilisierung für negative Folgen außerordentlich schwierig ist. Die am „Vorteil“ orientierte Rationalität scheint unaufhaltsam fortzuschreiten.

Die Zweifel an diesem zum Klischee gewordenen Verständnis der menschlichen Geschichte als eines endlosen Fortschritts sind heute allgemein geworden. Die Verheißung der modernen Technik ist in Drohung umgeschlagen. Der Prozess der naturwüchsigen Beherrschung der Welt ist an einem Punkt angelangt, wo er sich gegen den Menschen selbst wendet. Erstmals kommt zum Bewusstsein, dass die Ressourcen der Natur im Blick auf die Lebensbedingungen der menschlichen Gattung und vor allem der kommenden Generationen begrenzt sind. Die Verfeinerung überkommener und die Entwicklung neuer Geräte bis zu Systemen, wie z. B. der Kybernetik, ersetzen immer mehr Funktionen des Menschen im Umgang mit der Natur und den Mitmenschen. Es entsteht ein „System zweiter Ordnung“, das nun rückwirkend einen beinahe unausweichlichen Zwang verursacht und damit neue Abhängigkeiten schafft. Man denke an die Datenerfassung durch Computer und an die neuen Medien. Die Natur und das menschliche Leben werden mehr und mehr in den Prozess einer technischen Funktionalität hineingenommen. Dadurch kann sich die Herrschaft des Menschen über den Menschen vergrößern. Eine wachsende Manipulation scheint geradezu notwendig zu sein, um den Menschen zu einem funktionierenden Teil seiner eigenen Weltbeherrschung und ihrer Mechanismen zu machen.

Diese Steigerung der technischen Machbarkeit wird von den einen begrüßt, von den anderen beklagt. Für die Bejahung spricht vor allem ihr Verständnis als Grundlage einer sich weithin ausbreitenden Freiheit. Der technische Fortschritt befreit von den Zwängen der Herkunft und der Tradition; Massenkonsum und Massenproduktion mildern die materielle Not; gesellschaftliche Unterschiede werden verringert; Rationalität schließt mehr und mehr das Undurchschaubare aus. Vielen erscheinen die Herrschaft der Demokratie und die geforderte Transparenz unserer Welt durch die Medien als die Garanten dieser neu gewonnenen Freiheit. Die Kritik dieser optimistischen Beurteilung liegt auf der Hand: An die Stelle des „Reiches des autonomen Menschen“ sei längst ein System schwer durchschaubarer Abhängigkeiten getreten; statt materieller Not würde der Zwang immer neuer Bedürfnisse als nicht minder drückend empfunden; die Freiheit werde durch „Entpersönlichung“ und „Gleichschaltung“ bezahlt. Wie die gegenwärtigen Diskussionen zeigen, lässt sich der Dualismus dieser gegensätzlichen Haltungen nur sehr schwer auflösen, auch wenn es kompromissartige Zwischenlösungen gibt, die allerdings nicht viel Überzeugungskraft in sich bergen.

Wir können und wollen auf diesen „Fortschritt“ nicht verzichten und können das Rad gewonnener Einsichten nicht zurückdrehen. Dies gilt gerade auch für die Medizin, wenn es darum geht, den kranken Menschen zu behandeln. Ich denke z. B. an die Erfolge der Diabetes-Therapie. Es wäre unmoralisch, besonders Heilungschancen nicht zu nutzen.

Es gibt jedoch zweifellos ein bleibendes Problem, das darin besteht, dass die Spannung zwischen dem technisch Machbaren und dem sittlich Verantwortbaren meist überhaupt nicht wahrgenommen wird. Es mangelt auf weite Strecken an Sensibilität für die sittlichen Implikationen neuzeitlicher Naturbeherrschung. Sie erscheint nicht selten schon durch sich selbst gerechtfertigt: durch ihre Erfolge, durch ihre immer mehr um sich greifende Tendenz, durch ihre Veränderungsmöglichkeiten, durch ihr allgemeines Akzeptiertsein. Es gibt dadurch eine fast unangreifbare Immunität wichtiger technischer Prozesse gegenüber ethischen Anfragen. Wo sind diese mangelnden Sensibilitäten nun genauer begründet und wie lassen sie sich überhaupt aufspüren?

Zunächst ist die Eigendynamik der technischen Machbarkeit zu nennen. Vieles von dem, was hergestellt werden konnte, verfahrensmäßig technologisch erreichbar war, hat bis in unsere Zeit hinein eine derartige Suggestivkraft gewonnen, dass es beinahe normative Kraft annahm. Je höher der Entwicklungsstand der Technik in einzelnen Bereichen ist, desto radikaler scheint sich die Weiterentwicklung zu beschleunigen. Die Anstöße zum „Fortschritt“ geschehen fast automatisch. Es ist nicht zufällig, dass in diesem Zusammenhang oft die Bilder eines abgefahrenen, sich immer mehr beschleunigenden Zuges, der nicht mehr gebremst werden kann, und einer Lawine, die ihre unwiderstehliche Kraft und Bewegung mitbringt, Verwendung finden. Im Zug der neuzeitlichen Naturbeherrschung wird die Veränderung von vornherein legitimiert und erscheint so immer wieder als notwendige „Optimierung“. Freilich meldet sich auch das Bild des mächtig-ohnmächtigen „Zauberlehrlings“.

Ein weiterer Grund für das Zurücktreten des Bewusstseins um die sittliche Verantwortung technologischer Prozesse liegt nicht selten in der Anonymität des Geschehens. Dies hängt nicht nur mit der Eigendynamik dieses Prozesses und der Arbeitsteilung bzw. Teamarbeit der daran Beteiligten zusammen, sondern viele Prozesse laufen in ihrer Zwangsläufigkeit geradezu ohne eindeutig erkennbares und Verantwortung tragendes Subjekt ab. Niemand hat mehr eine individuelle Steuerungsmöglichkeit für das Ganze, auch wenn jeder zu seinem Teil zum „Funktionieren“ eines Systems beiträgt. So kann auch nicht immer leicht das beliebte „Verursacherprinzip“ angerufen werden, da sich in vielen Bereichen konvergierende Effekte, die sich unterschwellig ergänzen, anhäufen, sich so zur Schädlichkeit aufsummieren und einen erträglichen Schwellenwert überschreiten (vgl. Luftverschmutzung, DDT-Kumulation). Diese Strukturen verstärken die relative Unkontrollierbarkeit und vermindern so auch die sittliche Verantwortungsfähigkeit.

Eine gewisse Chance besteht darin, dass sich eine neue ethische Betrachtung des technisch Machbaren trotz dieser Tendenzen beinahe wie von selbst auferlegt. „Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden.“ H. Jonas führt eine Reihe von Gründen an, warum die moderne Technik einen neuen und besonderen Fall bildet, der eine solche ethische Betrachtung verlangt.

II. Die neue Verantwortung des Menschen im bleibenden Spannungsbogen von „Bebauen und Bewahren“

In diesem Rahmen können wir einige Perspektiven aufzeigen, dass nicht alles einfach dem Wandel unterworfen wird. Wenn etwas mitten im Fortschritt bleibt, kann dies aber nicht heißen, dass sich nicht die Rahmenbedingungen des Bleibenden auch einschneidend ändern könnten.

Ich will dies zuerst bei einer Struktur aufzeigen, die für das Leben und Wirken des Menschen von großer Bedeutung ist. Von alters her hat man den Menschen als ein Wesen der „Mitte“ verstanden, das zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten existiert. Um dies aufzuzeigen, möchte ich in aller Knappheit auf eine heute vielfach erörterte Verhältnisbestimmung des menschlichen Lebens zurückkommen. Diese ist unmittelbar an der jahwistischen Schöpfungserzählung gewonnen, stellt aber eine allgemeine anthropologische Grundaussage dar. Jede menschliche Arbeit nimmt in irgendeiner Weise teil an dem „Bebauen und Bewahren“ (vgl. Gen 2,15). Der Mensch darf sich nicht einfach nur auf die Seite des erobernden und umgestaltenden Bearbeitens schlagen. Sonst kann aus dem noch sinnvollen Roden ein Werk der Zerstörung werden. Er ist aber auch nicht einfach nur der Hegende, der allen Wildwuchs zulässt. Er bewahrt nur dann, wenn er auch eingreift, pflegt und zähmt, Ausleseprozesse in der Natur beobachtet und fortführt. Der Doppelsinn der beiden Aussagen „Bebauen“ und „Bewahren“ zeigt sich noch im ursprünglichen Wortsinn von „Kultur“, denn „colere“ als Wurzel für Kultur bedeutet zugleich bebauen und hegen. Beide Ausdrücke sind komplementär zu verstehen. „Bebauen“ bedeutet die schöpferische Tätigkeit des Menschen, heißt Eroberung der Welt, Umgestaltung und Konstruktion, Entwerfen und Erfinden. Man darf dies nicht einfach mit Raubbau und Ausbeutung identifizieren. Einer solchen Interpretation steht nämlich der spannungsvolle Bezug zum „Bewahren“ entgegen. Der Boden darf nicht nur bearbeitet, er muss auch vor Schädigungen bewahrt werden. Zerstörung muss verhindert werden. Der Mensch ist nur Mensch, wenn er zugleich an beiden Vollzugsweisen seines Daseins teilhat, indem er nämlich schöpferische Beherrschung der Natur ausübt und zugleich mit dieser Natur und in ihr lebt. Wenn der Mensch glaubt, er könne diese Grundspannung in seinem Wirken und in seinem Verhältnis zur Welt auflösen, gleichsam aus diesem Urverhältnis „aussteigen“, dann verfehlt er tatsächlich sich selbst. Er ist – wie schon erwähnt – ein Wesen der Mitte, das immer wieder neu Balance und Ausgleich zwischen diesen beiden Dimensionen finden muss. Wenn man dem Menschen eine dieser Dimensionen abspricht oder eine übertreibt, gefährdet man – wenigstens auf die Dauer – seine Lebensbedingungen. Diese anthropologische Doppeleigenschaft des Bebauens und Bewahrens ist übrigens nicht nur gut in der Bibel begründet, sondern findet sich auch in modernen philosophischen Entwürfen, z. B. bei R. Guardini und M. Heidegger.

Es dürfte kein Zweifel sein, dass dem Menschen heute angesichts des Übermaßes der wissenschaftlich multiplizierten technologischen Macht eine neue Wachheit im Blick auf die Aufgabe des Bewahrens zu Eigen werden muss. H. Jonas hat darum gewiss eine wichtige Einsicht formuliert, wenn er eine Erweiterung des Gedankens der Verantwortung postuliert hat: Einmal wird die Natur als ganze zum Gegenstand menschlichen Handelns. Zum anderen treten die Unumkehrbarkeit und die kumulative Addition vieler Wirkungen hinzu. „Keine frühere Ethik hatte die globale Bedingung menschlichen Lebens und die ferne Zukunft, ja Existenz der Gattung zu berücksichtigen. Dass eben sie heute im Spiele sind, verlangt, mit einem Wort, eine neue Auffassung von Rechten und Pflichten, für die keine frühere Ethik und Metaphysik auch nur die Prinzipien, geschweige denn die fertige Doktrin bietet.“ Wir wollen in diesem Zusammenhang die zuletzt vorgetragene Behauptung nicht überprüfen, dass keine frühere Ethik den Menschen auf eine solche Aufgabe vorbereitet habe. Eine neue Dimension dürfte in der Tat auch darin liegen, dass es bei der Verantwortung nicht nur um ein sittliches Grundprinzip geht, das ausschließlich an Individuen gerichtet ist, sondern dass der neue ethische Imperativ sich auch und besonders an einen kollektiven „Täter“ wendet und sich auf die zukünftige Existenz der Menschheit bezieht. H. Jonas formuliert unter diesen Voraussetzungen einen ethischen Imperativ, der an Kant erinnert, zugleich aber auf den neuen Typ menschlichen Handelns passt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“ oder die einfache Variante: „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefinitiven Fortbestand der Menschheit auf Erden“, oder aber in der positiven Form: „Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein.“

Auch wenn die Distanz zur bisherigen Ethik vielleicht keine so tiefe Kluft darstellt, wie H. Jonas meint, so ist der neue Akzent in einem erweiterten Verantwortungskonzept nicht zu übersehen: Es geht nicht nur um die kausale Zurechnung begangener Taten, die in der Vergangenheit liegen , sondern der Blick geht von der rückwirkend zuzuschreibenden, gleichsam „nachträglichen“ Verantwortung zur prospektiv orientierten Sorge. Diese Verantwortung für die geschichtliche Zukunft ist vor allem durch Kontrollfähigkeit und das Verfügenkönnen über die Macht selbst bestimmt. Natürlich darf man deshalb die traditionelle Handlungsverantwortung nicht beiseite schieben oder ignorieren.

Die Annahme einer so verstandenen Verantwortung ist bereits eine wesentliche Voraussetzung sittlichen Verhaltens. Diese Sorge für die geschichtliche Zukunft von Welt und Mensch zeigt sich auch z. B. im Maßhalten. Dies gilt nicht nur z. B. für den Verbrauch von Land und Rohstoffen, sondern überhaupt für die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit, mit dem Reichtum und den technischen Möglichkeiten umzugehen. Das neue Maßhalten bezieht sich auf unsere Zielsetzung, auf die Erwartungen und auf die Lebensführung. Wir verfolgen zügellos unsere Ziele, oft ohne nach den voraussehbaren Folgen zu fragen. Es gelangt eine ganz neue Stufe der Mäßigung in den Blick, wenn wir das menschliche Können und den Erwerb neuer Macht ins Auge fassen. Bisher musste man den Menschen kaum vor dem Vollbringen von Höchstleistungen warnen. Jetzt erhebt sich die Frage, ob nicht Zurückhaltung ein Gebot werden kann, etwa bei den Versuchen einer Verlängerung menschlichen Lebens um jeden Preis, bei der psychologischen Lenkung des Menschen, bei Manipulationen mit dem Keim? und Erbgut, bei den Möglichkeiten der „Neuen Medien“ usw. Kann der Mensch eine einmal erworbene und erlernte Macht rechtzeitig bremsen? Verzichte solcher Art zugunsten der ganzen Menschheit werden schon längst gefordert, wenn wir z. B. an die moderne Waffenentwicklung und an die immer noch bestehende Not in weiten Erdteilen denken. Maßhalten können im Erwerb und Gebrauch der Macht entscheidet über die Zukunft und die Freiheit in einer Welt von morgen.

III. Die bleibende Sorge um die Gesundheit als eigenes Gut und um den kranken Menschen

In dieser Situation machen wir uns oft Illusionen über das Maß der Veränderbarkeit des Menschen. Unsere Erfolge steigen uns zu Kopf. Wir können dies gut beobachten, wenn wir etwas nachdenken über die Bedingungen von Gesundheit und Heilsein, was natürlich auch eine Reflexion auf ihren Mangel oder gar ihr Fehlen bedeutet, also im Blick auf Krankheit und Maßnahmen zu ihrer Heilung.

Die Gesundheit erscheint uns meist als ganz selbstverständlich, obgleich sie keineswegs so eingeschätzt werden darf. Aber in unserem durchschnittlichen Bewusstsein ist die Gesundheit eher verborgen und uns gar nicht direkt zugänglich. Wir entdecken sie eigentlich erst, wenn sie beeinträchtigt wird, d.h. wenn wir uns nicht wohl fühlen oder wenn wir regelrecht krank sind. Dann geht alles darum, dass wir die Gesundheit wiedergewinnen. Darin liegen das Wunder der Rekonvaleszenz und das Geheimnis der Gesundheit. Es gibt die „Natur“ des Menschen, die wir nicht einfach in der Hand haben.

Der kranke Mensch ist in einer besonderen Situation. Er ist auf vielfache Hilfe angewiesen. Dies gilt nicht nur in dem Sinne, dass er äußere Hilfe z. B. beim Gehen oder Aufstehen braucht. Er ist in vielen Fällen rundum, d.h. mit Leib und Seele, auf Unterstützung angewiesen. Dies ist gerade heute keine einfache Situation. Wir haben oft einen übertriebenen oder gar falschen Begriff von menschlicher Autonomie, werden ganz auf Selbstbestimmung hin erzogen und schämen uns nicht selten, wenn wir andere für die Aufrechterhaltung unserer Lebensbedingungen brauchen. Wir bringen darum Krankheit leicht mit einer regressiven Fremdbestimmung und einer Art von Infantilität in Zusammenhang. Wir fürchten besonders, dass der kranke Mensch in hohem Maß seine Freiheit, seine Würde und seine Intimität verlieren könnte. Dieses Erleben von Angst, Aggression und Ohnmacht gehört für viele Menschen zur Erfahrung des Krankseins. Wer krank ist, ist in seiner Autonomie und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt. Es wäre Ausdruck eines falschen Menschenbildes, wenn wir dagegen nur protestieren würden, vielleicht sogar enttäuscht und verbittert. Es gehört zur Kreatürlichkeit des Menschen, dass er an vielfache Grenzen, auch an Schranken seines leiblichen Daseins, stößt.

Wir Menschen sind in dieser Endlichkeit grundlegend aufeinander angewiesen und brauchen einander. Dies heißt auch, dass wir füreinander eintreten sollen und müssen, wenn wir in Not sind. Wir sind stets und immer schon durch andere herausgefordert, die von uns mit Worten oder schweigend Hilfe erwarten. Darin zeigt sich, dass die Solidarität unter den Menschen grundlegend in der Kreatürlichkeit verwurzelt ist. Daraus muss dann im doppelten Sinne Mitmenschlichkeit entspringen: Wir gehören zum selben Menschengeschlecht; wegen der Würde jedes Menschen bedarf es der Rücksicht und der Unterstützung des Anderen. Diese Mitmenschlichkeit im Sinne konkreter Humanität und christlicher Nächstenliebe sollte die Menschen von ihrer Natur her, aber besonders in ihrem Ethos miteinander verbinden.

Eine solche Situation ist für alle Beteiligten nicht bloß eine Herausforderung im allgemeinen Sinne, sondern sie muss mitmenschlich konkret angenommen und bewältigt werden. Der kranke Mensch muss seine Grenzen und seine Ohnmacht, auch wenn sie nur vorübergehend sind, einsehen und akzeptieren. Es ist gar nicht leicht, sich wirklich helfen zu lassen. Wir wollen zunächst gar nicht zugeben, dass wir hilfsbedürftig sind. Viele lehnen sich deshalb auch gegen ärztliche Hilfe und Pflege auf, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Die Annahme der Krankheit versetzt uns Menschen in eine Situation der Schwäche und der Ohnmacht, die man in einer Haltung von Demut annehmen muss. Für den modernen, auf Autonomie bedachten Menschen kann dies sehr schmerzlich sein und ihn geradezu zur Rebellion gegen seine Endlichkeit und Sterblichkeit führen.

Es ist aber auch eine Herausforderung für den Helfenden, und hier nicht nur für den Arzt. In der Situation der Ohnmacht eines Anderen bekommt man leicht die Oberhand. Es stellt sich fast von selbst eine Art von Verfügungsmacht über andere ein. Deshalb hat man rasch den Eindruck, der Helfende könne unter der Hand rasch zum Herrschenden werden. Es gibt in der Tat im Verhältnis des Arztes und der pflegenden Kräfte zu kranken Patienten die Gefahr eines solchen Herrschaftsverhältnisses. In der Routine des Alltags, wo es gewiss gerade auch um der sachgerechten Heilung und Pflege willen Weisung und Autorität braucht, kann diese Gefahr leicht unterschätzt werden. Deshalb ist es gut, wenn alle Helfenden den Kranken als ihresgleichen betrachten und immer auch eingedenk sind, dass sie selbst einmal Hilfe brauchen können. Darum müssen auch alle bestrebt sein, im Maß des Möglichen kranke Menschen voll in ihrer Würde anzunehmen und sie an Entscheidungen zu beteiligen, soweit dies möglich ist.

Eine solche Situation wie das Kranksein kann leicht zur Einsamkeit und zur Vereinsamung führen. Deshalb ist es ein elementares Gebot der Humanität, Kranke zu besuchen. Sie dürfen nicht von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden und sollten so „normal“ wie eben möglich leben. Die Hospizbewegung versucht einen solchen Umgang mit dem Kranken bis in den Sterbeprozess hinein. Es ist auch erstaunlich, wie die neueren Arbeiten zum Umgang mit Behinderten manche Isolierung durchbrechen und in vielen Fällen so etwas wie „Normalität“ erreichen konnten. Jedenfalls braucht der kranke Mensch in einer ganz elementaren Weise Kommunikation und Begleitung. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, die ein hohes technisches Können und Wissen für den Kranken bereithält. Der Kranke darf gerade unter den Bedingungen einer hochtechnisierten Medizin nicht nur als ein „Objekt“ der Pflege betrachtet werden, sondern man muss sich an die Seite des Kranken stellen, ihn ein stückweit auf seinem Lebensweg begleiten und bei ihm bleiben, besonders wenn es in seinem Leben dunkel wird. Begleitung ist ein Element bleibender und kontinuierlicher Fürsorge, die alle Stationen und Krisen mitzugehen bereit sein muss. „Begleitung“ gewährt freilich auch eine gewisse Distanz, die die Integrität und Personalität des Kranken wahrt und den Pfleger vor zu strapaziöser Identifikation schützt. Der professionelle Abstand kann darum auch für den Kranken durchaus wohltuend sein. Wenn der professionelle Abstand jedoch in übergroßem Maß vorherrscht, geht leicht jede Sensibilität verloren.

Hier muss die Rolle des Rechtes im Arzt-Patienten-Verhältnis neu bedacht werden. Es besteht kein Zweifel, dass vereinbartes, verbindliches und überprüfbares Recht die Situation eines jeden Menschen verbessern und in gewissen Grenzen sichern kann. Er hat Anspruch auf die gleiche Würde und auf eine gerechte Behandlung. Aber es ist ein Irrtum zu meinen, dass dies allein das rechte Verhältnis zwischen Arzt und Patient garantiert. Es braucht gerade angesichts einer differenzierten Diagnose und Medizin komplexer Lebensgeschichten und sehr verschiedener Lebenseinstellungen ein grundlegendes Vertrauen des Patienten zum Arzt und seinem Team. Nur dieses Vertrauen hilft, sehr komplexe Situationen und Elemente auf eine echte Handlungsmöglichkeit zugunsten des Patienten zu reduzieren und zu konzentrieren. Dies ist auch die Grenze aller noch so nützlicher Patientenverfügungen.

Die fachkundige Pflege ist gerade auch im schlichten menschlichen Helfen, das sehr alltäglich und unscheinbar sein kann, Verwirklichung von Liebe. In einer wirklichen „Begleitung“ liegt ein Geschenk an den kranken Menschen, das unersetzlich ist. Darum sind viele Kranke auch von Herzen dankbar, wenn sie eine solche menschliche Zuwendung erfahren. Es ist ganz entscheidend, dass zwischen vielen Apparaten und technisch orientierten Behandlungen ein konkretes menschliches Angesicht erscheint und sichtbar bleibt, ob es sich nun um einen Arzt, eine Schwester oder einen Pfleger handelt.

Die Gesundheit gilt in unseren heutigen Gesellschaften und unter säkularen Bedingungen als „höchstes Gut“. In unserer irdischen Betrachtung geht das Leben noch über Gesundheit hinaus (vgl. Kranke, Alte, Behinderte) und ist das höchste Gut. So ist es auch in unserer Verfassung umschrieben. Allein dies zeigt schon, dass Gesundheit zwar ein sehr hohes, sehr kostbares Gut ist, aber dass man nicht sagen kann, es sei das höchste Gut. Sonst würden wir Leben, das beschädigt ist und über die „Normalität“ hinaus begrenzt ist, nicht hoch genug schätzen. Dies ist sicher auch eine unbeabsichtigte Nebenwirkung einer Absolutsetzung von „Gesundheit“ in unserer Gesellschaft. Man muss sich dann außerdem fragen, welche Form von Gesundheit gemeint ist, denn manche sehen hier weitgehend nur körperliche Ertüchtigung, muskelprotzende Gestalten oder auch nur „Wellness“.

Es gibt jedoch eine Antwort, die noch tiefer greift. Es gibt nämlich Träumereien von einem unbegrenzten Gesundsein und Gesundbleiben. Zwar weiß jeder, dass diese Wünsche weitgehend Utopien sind. Aber sie bewegen den Menschen immer wieder, manchmal bis in die Wissenschaft hinein. Insofern ist das Ganze auch eine anthropologische Grundfrage. Wir sind endliche, kreatürliche Lebewesen, die unvollkommen, begrenzt und sterblich sind. Es ist die Frage, wie wir damit umgehen. Dies ist zwar nicht unmittelbar das Thema dieses Beitrags, aber jede Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist auch eine Positionsnahme in dieser Hinsicht. Es scheint mir, dass die Bibel darauf eine sehr klare Antwort hat, und zwar aus dem Munde Jesu selbst. Dabei ist es bezeichnend, dass dieses Thema in einer relativen Nähe steht zum Rang des Reichtums. Auch dies ist ein weiteres Thema. Vielleicht gibt uns Jesus einen Hinweis, wie wir auch mit der falschen Selbstsicherheit umgehen: Ein Mann hatte eine gute und reiche Ernte. Er überlegte sich, wie er sich damit über die Jahre hindurch sichern könnte, sodass er zu sich sagen kann: „Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink, und freue dich des Lebens! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast? So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist.“ (Lk 12,16-21, bes. 19-21).

Gerade auch im Blick auf unser Leben und noch mehr auf die Gesundheit bewegen wir uns in dieser Offenheit. Das Wissen um die Endlichkeit soll uns nicht ängstigen oder gar bitter werden lassen. Wenn wir um die Begrenztheit unserer Zeit und unserer Gesundheit wissen, können wir erst recht dankbar sein für das, was uns in dieser Zeit gelingt. Dann haben wir auch die besten Voraussetzungen für das Bestehen eines guten Lebens. Dazu gehören vor allem Dankbarkeit für die eigene Existenz und besonders das Gesundsein. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir uns jeden Morgen mit eigenen Kräften aus dem Bett heben und aufstehen (dieses Wort hat eine vielfache Bedeutung, gerade zwischen Leben und Tod). Dies schafft dann eine besondere Lebensfreude, aber auch eine Gelassenheit. Dabei lernen wir auch, mit knapperen Kräften umzugehen und eine Minderung unserer Gesundheit zu tragen.

Unsere Gesellschaft tut sich an dieser Stelle besonders schwer. Ihre säkulare Atmosphäre hat uns tief in die pure Endlichkeit des Menschen abstürzen und manchmal darin geradezu verlieren lassen. So ist es auch zu verstehen, wenn heutige Umfragen darüber informieren, dass viele Menschen Alte und besonders auch Kranke kaum ertragen und dass Betagte oft selbst ihr Alter nicht annehmen können. Es ist viel schwieriger, als gewöhnlich angenommen wird, die Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen anzunehmen, wie es der biblische Gedanke der Kreatürlichkeit nahelegt.

IV. Bleibende Grenzen des endlichen und sterblichen Menschen

Blicken wir nochmals etwas stärker auf den kranken Menschen. Dann ist die Wahrnehmungsfähigkeit ihm gegenüber von ganz besonderer Bedeutung. Diese Fähigkeit kann jedoch gerade heute ganz schnell abstumpfen. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt ist es die Reizüberflutung in den Medien, die hier negativ wirkt. Man braucht nämlich eine gewisse Sensibilität, um Leid überhaupt wahrzunehmen. Wir sehen gerne über Ohnmacht und Schwäche hinweg.

Ich erlaube mir dabei, auf biblische und theologische Quellen zurückzukommen, die jedoch eine anthropologische Entsprechung haben. Der Kirchenvater Origenes sagte einmal, die Ursünde des Menschen bestehe in der „Anästhesie“, d.h. in der Unempfindlichkeit des Menschen gegenüber Leid und Leiden. Wir verhalten uns dann wie Menschen in der Fühllosigkeit der Narkose, so segensreich sie medizinisch gesehen auch ist. Es ist schon niederschmetternd, wenn im biblischen Bericht vom Barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25-47) das Verhalten jeweils von Priester und Levit angesichts des Verletzten lakonisch mit denselben Worten wiedergegeben wird: „er sah ihn und ging weiter“ (10,31/32).

Ganz anders ist es mit dem Samariter, der zunächst gar nicht zum auserwählten Volk gehört, und von dem man darum auch keine besondere Hilfe meint erwarten zu können. Dennoch hat gerade er eine ganz feine „Witterung“, d. h. er sieht wirklich den Anderen in seiner Hilfsbedürftigkeit und Ohnmacht. Dies kann man eigentlich nur, wenn man mit den Augen des Herzens sieht. Wer so sieht, geht nicht in eine grundlegende Distanz, die bald der Gleichgültigkeit ähnlich ist, sondern er bleibt in der Nähe des Verletzten. Aus dem Wahrnehmen des Leidens wird Mit-Leid. Darum sagt die Erzählung: „Als er ihn sah, hatte er Mitleid“ (10,33). Das Kranksein von Menschen muss uns immer dazu bewegen, dass wir selbst, gleichsam an unserem eigenen Leib, das Verwundetsein und die Hilfsbedürftigkeit erfahren. Dann entsteht aus dem Mitleid echtes Erbarmen.

Dabei bleibt die Erzählung vom Samariter aber nicht stehen. Denn es geht ja um Hilfe und Abhilfe. Aus dem Sehen und dem Mitleid muss Konkretes folgen. Das Evangelium ist sehr genau in der Beschreibung dessen, was nun geschieht: „Als er (der Samariter) ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie.“ (10,34a) Mit unüberbietbarer Nüchternheit geht der mit den Augen des Mitleids Sehende zur Hilfe über. Er geht nicht einfach weiter in dem Sinne, dass er seinen eigenen Geschäften nachgeht, sondern hält an und unterbricht sein eigenes Tun, weil er sich anrühren lässt von der Hilfsbedürftigkeit des Bruders. Es ist sehr wichtig, diese Serie und Abfolge von Momenten zu sehen, die ohne jede Floskel und auch ohne fromme Sprüche das ganze Geschehen beherrscht: Er sieht ihn, er hat Mitleid mit ihm, er verbindet ihn und bringt ihn – Nachsorge könnte man dies nennen – in das nächste Gasthaus, wo er sich auskurieren kann. Das Sehen ruft, wenn es wirklich wahrnehmen will und Erbarmen aus sich entlässt, das Eingreifen hervor, wie es auch in der Medizin aufgrund der Diagnose zu einem Eingriff kommt, der dem Kranken das Leben retten kann.

Die biblische Auffassung vom Helfen geht jedoch noch weiter. Sie erinnert uns alle zunächst an die Zerbrechlichkeit und Begrenztheit des Lebens und wirft auch Fragen nach Versagen, Schuld und Sinn auf. Manchmal ist es so, dass das Kranksein eine Krise im menschlichen Leben offenbart oder mit sich bringt. In einer solchen Situation müssen oft bisherige Lebensmuster überprüft werden. Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen sich, um das Leben neu zu gestalten. Im einzelnen Fall kann die Krankheit als prägendes Moment in einer ganzen Biografie integriert sein und gibt – freilich oft erst später erkennbar – einen „Sinn“, von dem aus man sein Leben neu zu orientieren vermag. Freilich muss man äußerst behutsam damit umgehen, denn dieses „Aufarbeiten“ der Krankheit geschieht nie automatisch, bleibt immer ein Geschenk und lässt sich schwer auf allgemein gültige Formen bringen. Sie ist und bleibt zuerst Leid und Schmerz. Dies darf man nicht überspringen.

Das christliche Menschenbild weiß, dass der Mensch mit seinen Grenzen, ja auch seinem Schicksal leben muss. Dies schließt gewiss ein, dass wir alles heilen müssen, was heilbar ist. Wir sollten das Unheil beseitigen. Wo dies nicht ganz möglich ist, sollten wir das Leid wenigstens vermindern. Vermeidbares Leid ist eine schlimme Sache. Aber dennoch wird es Leid geben, das wir auf diese Weise nicht gänzlich vermeiden können. Nicht zufällig sprechen wir von unheilbaren Krankheiten. Der Christ nimmt auch nüchtern zur Kenntnis, dass es Leid und Krankheiten gibt, bei denen er keinen „Sinn“ entdecken kann. Hier braucht es zunächst einmal die Geduld, solche Situationen auszuhalten. Man darf nicht das Sinnlose zur Beruhigung in Sinn umdeuten. Vor allem das Kreuz Jesu Christi erinnert uns daran, dass es eine bleibende Absurdität und eine oft nicht aufzuhellende Widersinnigkeit in unserem Leben gibt. Aber gerade in solchen Situationen darf der Christ den Leidenden und den Kranken nicht allein lassen, sondern muss ihn auch auf den letzten Wegen begleiten und ist ihm in dieser Ohnmacht besonders nahe, trägt vielleicht sogar den Kranken regelrecht.

Damit ist natürlich ein wichtiges Thema unter den Perspektiven des Bleibenden angesprochen. Es geht um die Frage der Erfüllung des menschlichen Lebens, um das Finden eines endgültigen Sinnes unseres Daseins. Zum Verständnis des Menschen gerade in der europäischen Tradition gehört es, dass sich dieser Sinn des Lebens nicht einfach in den Grenzen unserer geschichtlichen Situation und in unserer Zeit erfüllt. Dies sagt nichts gegen die ethische und spirituelle Qualität dessen, was wir in unserer Welt tun. Aber wir würden den Menschen ganz in der Größe seines Erkennens und Wollens beschneiden, wenn wir ihm die Unendlichkeit seines Strebens verkürzen. In diesem Sinne darf man an das Wort von Pascal denken, dass der Mensch sich selbst unendlich überschreitet. Dabei macht der Mensch die Erfahrung, dass er diese unausrottbare „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ von sich aus nicht einfach beantworten und stillen kann. Der Hunger des Menschen nach Sinn lässt sich auf die Dauer nicht befriedigen, wenn man immer nur den „Fortschritt“ durch Anhäufen und Vermehren innerweltlicher Möglichkeiten sucht und so am Ende in eine „schlechte Unendlichkeit“ flüchtet.

Es ist durchaus möglich, dass der Mensch in dieser Suche nach dem ganz Anderen für eine gewisse Zeit unerfüllt bleibt. Wir sprechen von „leerer Transzendenz“, die aber immerhin gleichsam so etwas wie die Hohlform menschlichen Strebens bewahrt. Sie kommt nicht zum Ziel, stürzt vielleicht auch ab, aber sie hält die Richtung offen, in der eine Antwort gefunden werden könnte .

Wer dies grundsätzlich leugnet, kann eine Erfüllung des menschlichen Daseins nur in dieser Zeit annehmen. Es gibt dann zwar immer noch Recht und Gerechtigkeit im Verhalten zueinander, aber es wird in diesem Horizont schwerer, den eigenen Interessen einen Riegel vorzuschieben und dem Raffen und Treiben mit den Dingen dieser Welt Grenzen zu setzen. In einer zunehmend säkularen Welt wird es schwer, ein wirklich uneigennütziges Ethos zu verwurzeln, das unbedingte Imperative gewährt.

Dieses Überschreiten des Menschen über sich selbst hinaus geschieht in vielen Formen, z. B. im philosophischen Denken, in allen Spielarten der Kunst und nicht zuletzt in der Religion. Darum gehört dieses Sich-Überschreiten zum unverlierbaren Wesen des Menschen, zum Bleibenden, nach dem wir suchen.

Es ist kein radikaler Einwand gegen diese Annahme, wenn dies Sehnsucht nach dem ganz Anderen grundlegend falsch beantwortet wird und zu einer Pseudo-Erfüllung führt, z. B. in Fantasien, Träumereien, Utopien, Süchten oder auch in Fehlformen des Religiösen. Man muss in der Tat immer Wesen und Unwesen der Religion unterscheiden. Dies verlangt jede wahre Religion von sich aus.

Ich wollte hier nur den Ansatz markieren, in dem auch die Religion zu den bleibenden Kräften gezählt werden muss. Dies gilt auch dann, wenn ihr Platz gleichsam eine „Leerstelle“ bleiben sollte. Natürlich wäre dies noch sehr viel eingehender zu entfalten.

V. Bleibende Sorge um eine ganzheitliche Betrachtung besonders des kranken Menschen

Dies hat viele Konsequenzen für die Einsetzung und Begründung der Würde eines jeden Menschen. Deswegen hängt natürlich auch viel davon ab, wie wir den kranken Menschen wahrnehmen und beurteilen. Dabei geht es vor allem auch um eine ganzheitliche menschliche Sorge um den kranken Menschen. Der Einzelne ist mehr als die Summe seiner medizinischen Daten und Befunde. Er bringt seine Geschichte und seine Überzeugungen, sein Schicksal und sein Leben mit. Wir sollten versuchen, diese gesamtmenschlichen Faktoren im Sinne einer Hilfe zur Gesundung und Heilung zu berücksichtigen. Wir wissen aber auch, dass selbst bei eingeschränkter Gesundheit ein sinnerfülltes und menschenwürdiges Leben möglich ist, und sollten Menschen, die mit solchen Einschränkungen und vielleicht sogar Behinderungen leben müssen, dabei begleiten und Hilfe anbieten. Wir wollen auch Menschen, die ihren irdischen Weg beenden müssen, nicht allein lassen, sondern ihnen bis hinein in ein würdiges Sterben beistehen und ihnen die Hoffnung des Glaubens stärken oder vermitteln, dass nämlich mit dem Tod nicht alles aus ist.

Dieses Menschenbild gibt dem Handeln im christlichen Geist seine Richtung. Wir verstehen das Leiden des Patienten nicht nur als „Defekt“, sondern sehen die mit dem Leiden verbundene Not. Es geht nicht um bloße Reparatur, sondern um Heilung in einem den ganzen Menschen umfassenden Sinn, wie er vielfach beschrieben worden ist. Auch wenn es schematisierende und quantifizierende Abrechnungsmuster („Fallpauschalen“) und andere Systeme der medizinischen und bürokratischen Erfassung von Erkrankungen und erkrankten Menschen gibt, so darf niemand bloß ein „Fall“ bleiben. Es liegt nicht nur ein „Blinddarm“ im Bett, sondern ein ganzer Mensch. Hier scheint mir für die Zukunft die größte Gefährdung zu liegen. Die verschiedenen Entgeltsysteme dürfen nicht das konkrete Antlitz des einzelnen Menschen mit seiner Herkunft und seiner Geschichte verwischen.

Auch wenn wir großes Verständnis für ökonomische Aspekte haben, so wollen wir uns nicht dem Diktat allein wirtschaftlicher Kriterien beugen. Es darf nicht geschehen, dass die Behandlung nur auf das „medizinisch Notwendige“ eingeschränkt wird. Hier habe ich eine gewisse Sorge vor einem Wettbewerb, den ich nicht wegen der Konkurrenz fürchte, sondern deswegen, weil sich derjenige durchsetzen könnte, der den Menschen nicht ganzheitlich sieht, sondern als „Fall“ mit bestimmten „Defekten“ klassifiziert. Hier verläuft eine sehr schmale Grenze, die zu schwierigen Gratwanderungen führt: Notwendige ökonomische Einschränkungen („Budgetdeckelungen“, Personalreduzierungen, Verweildauer usw.) dürfen ein humanes Maß nicht unterschreiten. Bürokratische Erfordernisse müssen immer wieder auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden. Sie dürfen nicht so überhand nehmen, dass menschliche Begegnung, Zeit für ein Gespräch usw. zu kurz kommen oder gar ein schlechtes Gewissen verursachen.

Das Gesundheitswesen, besonders im Krankenhaus, ist im hohen Maß verletzlich und anfällig. Es sind sehr viele Komponenten und Faktoren, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Dafür braucht es Klugheit und Erfahrung, Geduld und Augenmaß. Es gibt durchaus auch Elemente eines Wettbewerbes im Gesundheitswesen, was hier nicht im Einzelnen erörtert werden muss. Aber der Markt regelt nicht alles, wie manche auch für den Gesundheitsbereich annehmen wollen. Es ist für mich nicht einsichtig, wie man auf der einen Seite dieses Marktsegment im Krankenhaus ausbauen möchte, auf der anderen Seite jedoch mitten in der so genannten Sozialen Marktwirtschaft eine rigorose Planung und Begrenzung z. B. von Leistungen vorschreibt, die im Grunde jeden echten Wettbewerb ruinieren und eher einer verordneten Planwirtschaft ähnlich sind.

Es gibt Zielkonflikte, an deren Auswirkungen heute niemand vorbeikommt. Die Arbeitslosenquote ist schwer zu senken. Es bleibt ein hoher Rest. Die Folgen der demografischen Entwicklung bringen viele Probleme für die Sicherheit der Sozialversicherungssysteme, gerade auch der Krankenkassen. Der Beitrag vieler Menschen zum Sozial- und Gesundheitswesen entfällt oder wird geringer. Dies steht im Gegensatz zur steigenden Lebenserwartung, zum medizinischen Fortschritt und zur teuren Technik. Es geht ja immer mehr um die Einsicht, dass unsere Mittel angesichts der vorhandenen Möglichkeiten begrenzt sind. Wir haben nicht einfach eine Kostenexplosion, sondern mehr noch eine Leistungsexplosion. Es ist sehr schwierig, dieses insgesamt ambivalente , fast widersprüchliche Phänomen und „System“ zu reformieren. Viele Reformen der letzten Jahre haben m.E. diese Zielkonflikte, die niemand wegdiskutieren kann, nicht aufgelöst, sondern manchmal sogar gebündelt oder neue geschaffen. Ich denke an die Begrenzung des Budgets (Deckelung), die Trennung von Behandlungsformen, die Trennung von Zuständigkeiten, die Verlagerung von Verantwortungsbereichen und an viele Einzelvorschriften.

Fast 25 Jahre erlebe ich, wie sich dies vor allem in Krankenhäusern auswirkt. Es irritiert mich, immer wieder sehen zu müssen, dass diese Zielkonflikte unter Menschen und Berufsgruppen, die zum größten Teil schon ein hohes Engagement mitbringen, Spannungen und Auseinandersetzungen schaffen, die das Klima eines Hauses und vieles andere negativ beeinträchtigen. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass unsere Krankenhäuser viele innere Kräfte haben, die sie zum produktiven Verarbeiten dieser Konflikte einsetzen können. Hier sollten wir weniger klagen, sondern uns gemeinsam bemühen, die zweifellos vorhandenen schöpferischen Reserven zu mobilisieren.

Freilich, eines quält mich dabei immer mehr: Die täglichen Auseinandersetzungen und ständig wechselnden Strategien in der Gesundheitspolitik nehmen uns ein Stück weit den Atem, um innovative Wege zu suchen und zu finden, die einerseits tatsächlich vorhandene Mängel beseitigen und andererseits auch auf eine überzeugende Weise neuen Nöten der Menschen, die krank sind, kreativ begegnen. Deshalb begrüße ich es, wenn es gerade in der Zusammenarbeit mit den Kassen möglich ist, Experimente gezielter Art durchzuführen, wie z. B. die integrierte Versorgung älterer Menschen durch mehrere Institutionen.

Ich möchte auch an dieser Stelle und gewiss auch in Ihrem Namen allen danken, die sich in großer Zahl und mit hohem Engagement dieser Aufgabe und letztlich den kranken Menschen widmen. Damit denke ich zuerst an Ihre Verantwortung. Dies ist auch für die Kirche keine beliebige Aufgabe neben vielen anderen, sondern sie gehört zentral in die Mitte des Dienstes aus dem Glauben und zur Nachfolge Jesu Christi. Der Dienst am Kranken ist und bleibt für die Christen auch in unserer Zeit und vielleicht erst recht in Zukunft ein ausgezeichneter und unersetzlicher Ort der Solidarität, der Diakonie und damit auch der Nächstenliebe, selbst wenn sie heute nicht selten eher verborgen geleistet wird.

(c) Karl Kardinal Lehmann 

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten. Das Referat erscheint im Dokumentationsband der Bundesärztekammer.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz