Weil es um unsere Kinder geht.

Datum:
Dienstag, 7. Dezember 2004

Warum sich die katholische Kirche Kindertageseinrichtungen leistet. - Eröffnungsreferat bei der Bundesfachtagung des Verbandes katholischer Tageseinrichtungen für Kinder am 7.12.2004 in Bergisch-Gladbach/Bensberg

Redemanuskript - es gilt das gesprochene Wort!

(c) Karl Kardinal Lehmann

I.

„Weil es um unsere Kinder geht“: Der Titel führt rasch mitten hinein in die Probleme. Es geht um das Kind, nichts anderes. Es gibt manche falschen oder unzureichenden Fragestellungen. Freilich steht das Kind nicht allein wie eine Ikone. Es geht um das Kind im Kindergarten.

Dazu gehören die sozialen Bezüge. Der Kindergarten befindet sich „zwischen“ Kirche und Gesellschaft. Als Zwischengröße lässt er sich weder von der einen noch von der anderen Seite her ausschließlich bestimmen. Es scheint mir abwegig zu sein, den Kindergarten ganz als religionspädagogisch-religiöse Einrichtung nur von seinen Funktionen für die Gemeinde her zu sehen oder ihn allein von den gesellschaftlichen Interessen her zu begreifen. Es führt rasch zu problematischen Spannungen und Widersprüchen, wenn man den Kindergarten als Chance für die Gemeinde und als Bedürfnis der Gesellschaft in Antithesen hineinzwängt, aus denen man kaum mehr herauskommt. Der Kindergarten ist in jeder Hinsicht Brücke: zwischen Kirche und Welt, zwischen Diakonie und Verkündigung, Gemeinde und Familie. Dabei muss dies nicht besonders programmatisch herausgestellt werden; der Kindergarten lebt diese konkrete Vermittlung. Natürlich ist ein solcher stetiger Übergang keine heile Welt und funktioniert auch nicht reibungslos. Er erfährt den Widerstreit zwischen Anspruch und Wirklichkeit sehr radikal. Er steht immer an exponierter Stelle im gesamten Gefüge der Gemeinde. Diese Probleme werden jedoch gemildert, indem das Kind selbst mit seiner konkreten Ganzheit von Leib und Seele, in seiner Zugehörigkeit zu Familien und zum Kreis der Gleichaltrigen, mit seiner Spontaneität und seinen Prägungen die lebendige Brücke in diesem Gefüge bildet. Dennoch darf der Kindergarten nichts am Kind gleichsam ausprobieren und es fremden Zwecken unterwerfen. Das Kind ist Maß und Ziel.

Der Kindergarten reicht weit hinein in die Gefilde der heutigen Gesellschaft. Er ist eine exponierte Außenstelle der Diakonie der Gemeinde im Raum der Gesellschaft und wird rasch mit allen ihren Strömungen konfrontiert. Er ist aber auch - wenn er wirklich kirchlich orientiert bleibt - zur Gemeinde hin offen, ja auch tief verwurzelt in den Grundvollzügen der Gemeinde: in der Verkündigung, im Gottesdienst und in der geschwisterlichen Gemeinschaft. Die weitreichende Verwurzelung im profanen Raum ist nichts Sekundäres oder etwas Besonderes, sondern gehört elementar zum Kirchesein. Die Gemeinde ist für alle da und streckt sich suchend und helfend nach allen aus. Gerade darum haben auch die ausländischen oder die behinderten Kinder wie die anderen ihren angestammten Platz im Kindergarten. Hier sind sie zu Hause.

Es ist wichtig, dass ein solches Wagnis der Brückenfunktion zwischen Kirche und Gesellschaft verantwortet wird und nicht beliebig ist. Eine kompetente und fähige Instanz muss eine solche Einrichtung mittragen. Darum sprechen wir mit Recht von einem „Träger“ und erwarten, dass er dieses „Zwischen“ ausfüllt und täglich mit den Verantwortlichen ausgestaltet. Die Kindertageseinrichtung in der Gemeinde setzt voraus, dass der „Träger“ sich die Sorge für eine solche Einrichtung zu Eigen macht. Er muss zu seinem Kindergarten stehen - und dies ist mehr als ein nur formales „Träger“-Sein. Dies gelingt dann, wenn der Kindergarten von der ganzen Gemeinde akzeptiert wird. Wenn die Gemeinde ihre Sendung in die Welt recht versteht, ist sie froh und dankbar, wenn ein Kindergarten zu ihr gehört. Als wirklicher Träger muss sie dann auch entschieden und konsequent die Verantwortung übernehmen.

Der Kindergarten in kirchlicher Trägerschaft ist Angebot und Einladung der Kirche in die Gesellschaft hinein. Je weiter er hineinreicht in das gesellschaftliche Umfeld mit seinen Nöten, um so mehr bedarf er der besonderen Zuwendung von Seiten der Gemeinde. Er bildet die Brücke, aber er darf nicht in der Luft hängen bleiben. Ein solcher Kindergarten ist weit hinein geöffnet in unsere Welt, gerade darum braucht er die Verwurzelung, eine Heimat und ein Zuhause. Deshalb ist er dann auch eindeutig ein kirchlicher Kindergarten, der dies auch offen und entschieden bekennt, ein konfessioneller Kindergarten im eigentlichen Wortsinn. Der Kindergarten darf von der Gemeinde nicht allein gelassen werden, er darf kein lästiges Anhängsel sein, darf nicht auf die Kostenfrage reduziert werden.

Hier lauert heute ein Missverständnis. Die Kirche leistet mit ihren Einrichtungen der Gesellschaft einen echten und wahren Dienst. Selbstverständlich erfüllen Kindergärten auch eine gesellschaftliche Funktion. Man braucht eben Kindergärten. Aber es genügt nicht, einen Kindergarten nur auf die gesellschaftliche Nützlichkeit hin zu betrachten. Der Kindergarten darf nicht als ein allgemeines soziales Dienstleistungsangebot betrachten werden, dessen volle Zielsetzung hingegen nicht zur Kenntnis genommen wird. Deshalb muss der Kindergarten Flagge zeigen und erkennen lassen, auf welchem Fundament er steht. Halbheiten ergeben kein rechtes Gesicht. Im Übrigen haben Eltern und Erzieherinnen ein Recht darauf, dass der „Träger“ sich mit seiner Einrichtung voll identifiziert und dem Kindergarten seine spezifische Prägung verleiht.

Nur unter diesen Voraussetzungen kann der Erzieherin auch ausreichend zu Bewusstsein kommen, unter welchen Anspruch sie sich begibt. Der Wille, ein kirchlicher Kindergarten zu sein, muss entschieden und klar realisiert werden. Sonst besteht am Ende die Kirchlichkeit nur in unverständlich gewordenen Bestimmungen der Arbeits- und Vertragsbedingungen. Sie sind dann eine Last oder werden wenigstens als solche empfunden.

 

II.

Ich lasse in diesem Beitrag die Gesichtspunkte beiseite, die die Gemeinde bewegen, einen Kindergarten zu unterhalten. Ich setze also vor allem ein geregeltes Verhältnis zwischen der Gemeinde und dem Kindergarten voraus, wohl wissend, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist.

Eine erste Voraussetzung für das Gelingen dieser Begegnung hört sich einfach an, muss jedoch immer wieder neu in die Tat umgesetzt werden: Weil es um unsere Kinder geht. Dies setzt die Anerkennung eines eigenen, unverwechselbaren Lebensalters voraus, des Kindseins. Dies ist eine Einsicht, die z.B. in den bahnbrechenden Beobachtungen und vor christlichem Hintergrund durchdachten erzieherischen Grundsätzen von Maria Montessori (1870-1952) formuliert und für die Praxis nutzbar gemacht worden ist. Das meiste, was wir über das Kind wissen oder zu wissen vermeinen, ist ein Wissen der Erwachsenen, allenfalls ein Aufarbeiten ihrer Erinnerungen. Immer wieder ist man versucht, das Kind vom Erwachsenen her zu deuten und es lediglich als unmündig, als noch nicht erwachsen, als nur in der Entwicklung daraufhin zu betrachten. So wird nicht selten das Kindsein als eigene Lebensetappe abgewertet, weil es nur vom Vollziel des Erwachsenen her beurteilt wird. Das Kindsein ist merkwürdigerweise, wie die „Geschichte der Kindheit” von Philippe Aries zeigt, als eigene und wichtige Lebensphase erst im 17./18. Jahrhundert entdeckt worden, als sich das Interesse im Zusammenhang mit der Aufklärungsbewegung zunächst ganz auf den mündigen Menschen konzentrierte.

Aber nicht selten ist das Kindsein in dieser Epoche verkitscht und unrealistisch dargestellt worden, nämlich als Inbegriff z.B. von Unschuld. Kindsein wurde zu einem höchst ambivalenten Gegenbild mündiger Freiheit. Bis zum heutigen Tag gibt es Tendenzen, in der Kindheit keine natürliche Lebensstufe zu erblicken, sondern Kindheit als Produkt der Zivilisation zu verstehen, das nun endlich von Repressionen und Bevormundungen befreit werden soll. Der Ruf nach einer „Abschaffung der Kindheit” ist noch deutlich in unseren Ohren. Gerade darum ist es außerordentlich wichtig, die Zeit des Kindseins als eine eigene, gleichwertige, unersetzliche Gestalt des Menschseins anzunehmen. Die Zeit der ersten Lebensjahre, in der der Mensch auf Fürsorge und Erziehung durch Erwachsene angewiesen ist, darf nicht romantisch überhöht oder aufklärerisch als Unmündigkeit abgewertet werden, vielmehr bleibt die Kindheit so etwas wie eine Wiege der Kultur und Zivilisation.

Wenn das Kind Kind bleiben soll, dann bedarf es zwar der bildenden Erziehung und Führung, nicht aber einer Formung, die alles von der Leistung eines Erwachsenen und von den Zielen heutiger gesellschaftlicher Ideale her sieht.

Wir dürfen den Kindern nicht die Zeit und Freude z.B. am unverzweckten Spiel nehmen und es immer noch früher mit den gesellschaftlichen Zwängen der Erwachsenenwelt in Kontakt bringen. Drill, Stress und Terminkalenderhektik nehmen heute schon vielen Kindern die schönste Zeit ihres jungen Lebens weg. Wenn man das Kind nicht Kind sein lässt, steht man in äußerster Gefahr zu manipulieren, d.h. das Kind als ein „Objekt” der Indoktrination, der ideologischen Gängelung und der Beeinflussung zu begreifen. Wer das Kind in seiner eigenen Wirklichkeit versteht, muss auf es selbst in seiner Eigenart eingehen und muss sich auch von ihm führen lassen. Wenn man das Kind in seiner eigenen Würde annimmt, dann bleibt man auch auf der Hut gegenüber allen Konzepten und Modellen der Erziehung, die nicht selten an der Erwachsenenwelt abgelesen sin. Das Gesagte gilt selbstverständlich auch für die Religion und den Glauben. Diese können nicht als von außen kommende „Zugaben” aufgefasst werden. Überhaupt geht es nicht um einzelne religiöse Inhalte und Sätze, sondern um die fundamentale Rolle des Glaubens bei der Sinnerschließung der Welt und bei der Bildung des eigenen Ich. Das Kind kann und soll Religion und Glauben nur in diesem Zusammenhang erfassen, d.h. im Gesamtkontext seiner menschlichen Erfahrungen und seines Umganges mit der Welt. Wir nennen dies mit Recht eine „ganzheitliche“ Auffassung von Religion: Sie ist nicht nur ein isolierter Bereich, sondern bestimmt das ganze Leben. Aber dies darf uns auch nicht dazu verführen, Religion nur als kritische Grenze und Anreiz des Menschlichen zu sehen. Der Glaube wäre dann nichts anderes als eine Vorschule des Humanen, ein wenig verbrämt und verkleidet in kindlicher Gestalt. Der Weg ist nicht weit, um dann das Kindliche abzustreifen, wie man eben über zu enge Schuhe und Kleider hinauswächst. Das Christentum braucht keine Angst zu haben, den ganzen Reichtum des Kindseins anzunehmen und in seinem Horizont zur Wirksamkeit kommen zu lassen. Es gibt nichts, was darin nicht bedeutsam werden könnte: Wolken und Tiere, Steine und Bäume. Alles kann die Sprache Gottes für das Kind sprechen. Die besondere Aufgabe des christlichen Glaubens sehe ich darüber hinaus in folgenden Aufträgen:

Der christliche Glaube ist in besonderer Weise dazu aufgerufen, in unserer von Erwachsenen verfügten und bestimmten Welt dem Kind einen Platz und ein Leben nach seiner Würde und Eigenart zu ermöglichen. Er muss das Kindsein verteidigen und schützen, wenn es in seinem Reichtum und in seiner Eigenheit eingeschränkt und auf ein verengtes Modell von Wirklichkeit fixiert zu werden droht. Gott ist in Jesus von Nazareth ein Kind geworden. Darum braucht sich der Mensch des Kindseins nicht zu schämen.

Die Wirklichkeit unseres Lebens wird oft nur von Funktionen und Bedürfnissen her gewertet. Wir messen vieles an Leistung und Zweckbestimmung. Dies gilt auch z.B. für die moderne Hirnforschung. Vieles, was dennoch Sinn hat, aber nicht unmittelbar nützlich ist, wird verkannt und gar übergangen: z.B. das Fest und das Spiel. Der christliche Glaube ermöglicht es dem Kind, sich immer wieder aus der verkürzten Wirklichkeitserfassung unserer Welt hinausführen zu lassen und zu elementaren und ursprünglichen Erfahrungen zu gelangen: die Quelle, das Brot, die Erde, das Reichen der Hände ... Wir müssen dem Kind die ursprüngliche Größe und Weite der Schöpfung erschließen, gerade wenn ihre Wirklichkeit von unseren eigenen Systemen und dem, was wir „machen” können, verstellt wird.

Es ist darum auch eine elementare Aufgabe des biblischen Welt- und Menschenbildes, dem Kind zu helfen, ein grundlegendes positives Verhältnis zu dem, was ist, aufbauen zu können. Aber die Theorien vom „Urvertrauen”, so sehr sie grundsätzlich mit der auch vom Glauben geforderten Zustimmung zur Welt einhergehen können, dürfen nicht die Unstimmigkeiten und Störungen im Leben des Menschen und in der Welt leugnen. Sie dürfen nicht die Zerrissenheit und das Negative, die Sünde und den Tod ignorieren und eine heile Welt vorzaubern, die es so nicht gibt. Es kommt sicher viel darauf an, wann und wie man dem Kind etwas vom Bösen erschließt und deutet, aber es gehört zur christlichen Interpretation der Welt, dass wir diese schwierigen und spannungsvollen, widerständigen und zerstörerischen Kräfte im Leben einbeziehen.

Schließlich geht es um das Kindsein selbst. Hier kann keine Anthropologie des Kindes entfaltet werden. Obgleich große Theologen früher und heute immer wieder wertvolle Einzelsichten beisteuerten – ich nenne heute nur Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar –, ist die theologische Anthropologie des Kindes nicht so entwickelt, wie die Bibel und der Glaube dies nahe legen und fordern. Die Theologie muss hier ein eigentlich unverständliches Defizit bekennen. Ich muss es darum an dieser Stelle bei einigen Andeutungen belassen: Kinderfragen machen oft die Weisheit dieser Welt zu Schanden und offenbaren unser Nichtwissen und unsere Ahnungslosigkeit; Kinder können einen das Staunen lehren, das wir oft nicht mehr vermögen; Kinder wissen etwas um die Hintergründigkeit des Daseins, wenn sie Märchen erzählt bekommen; sie haben noch eine lebendige Vorstellungskraft, die neue Möglichkeiten des Denkens und des Fühlens offenbart; Kinder können spielerisch mit der Wirklichkeit umgehen, wo wir oft nur auf bestimmte Aspekte fixiert sind; Kinder können sich etwas sagen lassen, von Herzen fromm und andächtig sein. Man kann gewiss zeigen, dass in solchem Kindsein nicht bloß eine vorübergehende und rasch zu überholende Phase der Entwicklung der Menschheit und des einzelnen Menschen steckt, sondern dass sich darin gerade eine ursprüngliche Weise des Menschseins als Geschöpf offenbart. Wenn wir mehr von diesem Kindsein lernen würden oder erhalten könnten, wären wir auch andere und tiefere Menschen. Dies ist die Weisheit der Jesusworte, die uns mahnen: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.” Was würden wir nicht alles lernen, wenn wir noch tiefer als bisher durchdenken könnten, dass Gott selbst in der Person seines ewigen Sohnes Kind geworden ist?

 

III.

Von der gesellschaftlichen Dimension her möchte ich die Einsicht voraussetzen, dass die elementare Erziehung des Kindes in der familiären oder familienähnlichen Kleingruppe erfolgen sollte und so gut wie unersetzlich ist. Der Kindergarten kann nicht die Ersatzfunktion sein für eine in der Erziehung ausgefallene Familienwirklichkeit. Der Kindergarten ist nicht die Reparaturanstalt für elementare Schäden in der Früherziehung des Kindes. Er wird damit überfordert.

Vor diesem Hintergrund bleibt es dennoch wahr, dass der Kindergarten heute die Wandlungen der Familie stark zu spüren bekommt. Viele neue Probleme kommen auf die Erzieherinnen und den Kindergarten zu: Die Zahl der gescheiterten Ehen nimmt zu, in den Ballungsgebieten ist es fast schon jede zweite, mindestens jede dritte Ehe; Alleinerziehende mit Kindern steigen im selben Maß; viele haben nicht mehr den Mut zu einer Ehe, erfahren aber große Belastungen in der alleinigen Verantwortung für die Kinder und für sich selbst. Der Kindergarten muss nüchtern mit diesen Wandlungen der Familiensituation rechnen, er kann sie aber nicht nachträglich mit seinen Kräften heilen, sondern bestenfalls zu mildern versuchen. Im einzelnen sind noch andere Belastungen zu nennen.

Im Kindergarten begegnen wir heute der ganzen Lebenswirklichkeit der Familie. Auf ihr liegt ein großer Druck. Die Erzieherinnen spüren es, dass viele Kinder geschwisterlos aufwachsen und vielen Problemen von Erwachsenen ausgeliefert sind. Die Kinder werden dadurch von den Ängsten der Eltern mitbestimmt; sie sind von den vielfältigen Lebensformen und der steigenden Individualisierung in der Erwachsenenwelt mitgeprägt. Kinder erleben Bedrohungen ganz fundamentaler Art, wenn ihre Eltern an Angst und Ohnmacht sowie an der gegenwärtigen Welt leiden. Die Erzieherinnen und alle Verantwortlichen für den Kindergarten sind darum sehr viel mehr gefragt und gefordert, solidarisch an diesem Schicksal heutiger Kinder teilzunehmen.

Viele Kinder sind schon früh in die Lebenskrisen ihrer Eltern verwickelt und kommen aus unvollkommenen oder sehr konfliktbeladenen Familien. Sie spüren die soziale Isolierung z.B. einer alleinerziehenden Mutter oder arbeitsloser Eltern.

Kinder erleben im Kindergarten auch schon viel Fremdheit: Aussiedler- und Übersiedlerkinder, Kinder aus gemischt-nationalen Familien, Kinder von Asylanten und Flüchtlingen aus aller Welt. Sie erleben die Heillosigkeit der Welt in ihrer engsten Umgebung und müssen diese Erfahrungen verarbeiten. Hier ist Zuwendung zu den Kindern in sehr viel größerem Maß gefordert.

Die Kinder und ihre Familien sind für sich und in ihrem Lebensgefühl, in ihren Lebenserwartungen und auch in ihrem Glaubensleben, sofern es ein solches überhaupt gibt, vielfältiger, sensibler und darum auch verletzlicher geworden. Auch der Glaube hat sich stärker individualisiert. Dies bringt zwar viele Vorteile, erfordert aber von der Erzieherin eine differenziertere Zuwendung und Sorge um die einzelnen Kinder.

Bei dieser Struktur und Herkunft vieler Kinder versagen herkömmliche Aufnahmekriterien und Öffnungszeiten für den Kindergarten. Bei den Eltern, die immer mehr Förderung für ihre Kinder erreichen wollen, steigen die Erwartungen manchmal in das Utopische, weil sie weitgehend nur das Wohl ihrer Kinder allein vor Augen haben. Die Erzieherinnen sind damit oft überfordert, werden zu einer Anlaufstelle für große menschliche Not und geraten selbst in einen täglichen Konflikt zwischen den notwendigen Aufgaben und den begrenzten Möglichkeiten.

Es gibt auch zusätzliche Belastungen durch die Mobilität in unserer Gesellschaft. Dabei ist vor allem auch an nicht wenige Kindern aus anderen Ländern, anderen Religionen und anderen Lebensgewohnheiten zu erinnern. Oft stehen sie auch unter der Erfahrung von Bedrohung und Unsicherheit im Blick auf die bisherige Lebensgeschichte oder ihren Aufenthalt bei uns. Gerade hier ist der Kindergarten jedoch außerordentlich wichtig, weil er schon sehr früh eine Schule der Annahme des Fremden werden kann und damit eine wichtige Instanz wird gegen Fremdenangst, Hass, Nationalismus und erst recht gegen Gewaltanwendung.

Gerade in Ballungsgebieten oder auch da, wo außer einem kirchlichen Kindergarten keine anderen Angebote vorhanden sind, ist der Umgang mit Kindern aus anderen Religionen eine neue Aufgabe geworden, die nicht nur die Beobachtung einiger äußerer Spielregeln verlangt, sondern auch die persönliche Einstellung der Erzieherin herausfordert.

Der Beruf der Erzieherin ist so in vieler Hinsicht anspruchsvoller geworden. Man kann dies nicht oft genug wiederholen. Wenn er überzeugend ausgeübt wird, findet er auch durchaus Anerkennung. Dennoch ist er in der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz noch nicht in dem Maße anerkannt, wie er es wirklich verdient.

Die Kirchen und erst recht die Gemeinden als konkrete „Träger“ müssen nicht nur voll die Sorge für die Kindergärten bejahen, sondern sie müssen auch die Folgen des sozialen Wandels im Umfeld des Kindergartens und auch für die Erzieherinnen selbst zur Kenntnis nehmen. Viele Gemeinden leisten dafür sehr viel. Deshalb ist es grotesk, dass in manchen Auseinandersetzungen die Behauptung aufgestellt wird, die Kirche tue nichts oder zu wenig für die geborenen Kinder. Damit soll unser Einsatz für das Lebensrecht der ungeborenen Kinder diffamiert werden. Ich muss mich mit aller Entschiedenheit dagegen wehren, dass die zum Teil gewaltigen Anstrengungen vieler Diözesen und der meisten Gemeinden in diesem Bereich von mancher Seite einfach nicht zur Kenntnis genommen werden, oder dass man sie nicht zur Kenntnis nehmen will.

Hinter den nackten Zahlen, die ich jetzt nicht aufzählen möchte, steht ein sehr hohes Engagement unserer Pfarrgemeinden. Wenn man bedenkt, dass der Etat einer Kindertagesstätte in Pfarreiträgerschaft den Resthaushalt der allermeisten Gemeinden bisweilen um ein Mehrfaches übersteigt, dann darf man sich über den Einsatz vieler Pfarrgemeinde- und Verwaltungsräte, vieler Elternbeiräte und der Pfarrer sowie aller Hauptamtlichen von Herzen freuen. Ich weiß, dass es dabei auch Schwierigkeiten gibt. Aber insgesamt gibt es viele Initiativen zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen den Pfarrgemeinden und ihren weiteren Organen sowie den Kindergärten. Wenn man bedenkt, wie viel Einsatz gerade hier von den Gemeinden, einschließlich der Verwaltungsräte und der Elternbeiräte, geleistet wird, dann ist dies eine Gesamtbemühung um die Kinder, vor allem auch von Seiten der ehrenamtlich Tätigen, die von keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe erreicht werden dürfte.

Der Einsatz für die Kindergärten ist enorm, stößt aber gerade auch angesichts der skizzierten Entwicklung und der künftigen Anordnungen an naheliegende Grenzen. Wir begrüßen grundsätzlich die Schaffung eines Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz. Wir haben jedoch rechtzeitig auf die damit verbundenen Folgen aufmerksam gemacht. Es war von Anfang an klar, dass dieses hochgesteckte Ziel nicht so rasch erreicht werden kann. Dies gilt besonders dann, wenn der Staat nicht in der Lage ist, finanziell wesentlich höhere Leistungen zu erbringen, um die Gemeinden dazu in Stand zu setzen.

 

IV.

Vom Geld spricht man nicht gerne, aber man braucht es. Gerade in der jetzigen wirtschaftlichen Situation ist hier bei allem bleibenden Engagement Nüchternheit am Platz. Die Kirchen planen, soweit ich sehe, nicht die geringste Einschränkung des bisherigen Engagements. Es gibt auch keinen Rückzug aus dieser wichtigen öffentlichen Aufgabe. Insofern wissen wir durchaus, dass wir eine unverzichtbare Aufgabe in der Gesellschaft übernommen haben. Ich bitte jedoch darum, ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, dass unser Bemühen an innere und äußere Grenzen stößt. Wir können auf die Dauer auch nicht eine vorwiegend quantitative Vermehrung der Einrichtungen fördern, sondern zielen grundsätzlich und im Interesse der oben aufgezeigten Entwicklung eine Qualifizierung der bestehenden Kindertagesstätten an. Unter dieser Voraussetzung möchte ich einige Bemerkungen versuchen:

Eine weitere Verstärkung des finanziellen Einsatzes im Kindergartenbereich ist im Interesse anderer kirchlicher Aufgaben und - wie noch zu zeigen sein wird - der Qualität der Kindertagesstätten selbst nicht möglich. Wir haben bereits im Vorfeld von Gesetzesberatungen unmissverständlich dargelegt, dass die kirchlichen Träger angesichts der Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz für alle Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt nicht in der Lage sind, den gesetzlich neugeschaffenen Bedarf an Kindergartenplätzen proportional zum bisherigen kirchlichen Anteil zu befriedigen.

Die Frage der Ausweitung kirchlicher Trägerschaften im Kindertagesstättenbereich hat jedoch auch noch eine grundlegende Dimension. Die Kirchen sind in vielen Bundesländern als Kindergartenträger überproportional vertreten. Sie sind regional faktisch in die Rolle eines flächendeckenden Versorgers hineingewachsen. Wenn nun dieser Versorgungsaspekt radikal gesteigert wird und über unsere Kräfte weit hinausreicht, ist es evident, dass die Kirche diese Bedürfnisse nicht auf Dauer erfüllen kann. Wir bitten die politischen Instanzen darum, uns nicht einem Druck auszusetzen, um uns zu einer sachlichen und personellen Ausweitung des Engagements im Bereich der Kindergartenplätze zu drängen. Wir sind wie bisher zu jeder möglichen Mitarbeit bereit, tragen aber nicht alleine die Verantwortung für die Einlösung des Rechtsanspruchs und lassen uns auch nicht den berühmten Schwarzen Peter in die Hand drücken, gelegentlich auch noch mit falschen Argumenten. Es entspricht keiner überzogenen Kostendiskussion, sondern einer ganz realistischen Prognose, wenn seitens der Kirche erklärt wird, dass sie auch aus finanziellen Gründen an der Schaffung der noch fehlenden Plätze zur Einlösung des Rechtsanspruchs nur in einem sehr geringen Maß beitragen kann. Wir bitten um den an sich selbstverständlichen Respekt vor dieser Aussage, da wir einen außerordentlich hohen Einsatz bereits leisten und auch in der Zukunft leisten wollen. Es ist Aufgabe der Länder und der Kommunen, den durch den Bundesgesetzgeber neu geschaffenen Bedarf zu decken.

Wir müssen hier auch um die Beachtung der Stellung der Kirchen im öffentlichen Wohlfahrtswesen bitten. Wir sind unvermindert bereit, die von uns übernommenen Aufgaben wahrzunehmen, sind aber grundsätzlich nicht nur die Erfüllungsgehilfen einer öffentlichen Aufgabe. Wir haben auch die Pflicht, das Spezifikum kirchlicher Kindertagesstätten nicht zu vernachlässigen, d.h. wir müssen nach Kräften das Angebot einer profilierten Erziehung aus christlichem Geist machen können. Wenn wir jedoch nur unter dem Blickwinkel der öffentlichen Aufgabe und der staatlich verordneten Versorgung betrachtet werden, geraten wir faktisch und politisch unter den Druck, dieses Proprium der kirchlichen Sendung zurückzunehmen. Zumindest können wir es dann nicht mehr eindeutig nuancieren. Unser Wohlfahrtssystem geht vom Prinzip der Subsidiarität aus und lässt den freien Trägern diesen Spielraum. Aus diesem Grund können wir eine teilweise bestehende Monopolstellung kirchlicher Kindergärten nicht noch weiter ausbauen oder gar verfestigen. Wir müssen darauf bestehen, dass auch andere Trägergruppen hier Aufgaben übernehmen, damit innerhalb eines pluralen Angebots die Eigenart der christlichen Erziehung und Hinführung zum Leben im Elementarbereich glaubwürdig zur Geltung gebracht werden kann. Dies gilt besonders dann – von Einzelsituationen abgesehen –, wenn eine kirchliche Gemeinde in dem entsprechenden Bereich bereits eine Kindertagesstätte betreibt.

Es wird also nicht mehr leicht möglich sein, zusätzliche Kindergärten zu bauen oder in Trägerschaft zu übernehmen. In vielen Diözesen können auch kaum Erweiterungen bestehender Einrichtungen mehr vorgenommen werden. Im Einzelfall sind die Bistümer gewiss bei einem unabwendbaren Bedürfnis mangels anderer Lösungsmöglichkeiten zu großem Entgegenkommen und zu Ausnahmelösungen bereit. Doch können solche Situationen, die im Blick auf die umfassenden Bedürfnisse nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen, nicht von vornherein in das Planungskalkül der öffentlichen Träger einbezogen werden. Die Kirchen unterscheiden die einzelnen Situationen und sind gewiss nicht unbeweglich, wenn es um eine ernsthafte Notsituation geht.

Die eingangs aufgezeigten sozialen Wandlungen und die gestiegenen Erwartungen an die Kindertagesstätten sowie vor allem an die Erzieherinnen nötigen uns dazu, bestehende oder freiwerdende Spielräume - sie sind denkbar gering - vorrangig für qualitative Verbesserungen in den bestehenden Einrichtungen und für die Beteiligung an der Weiterentwicklung des Kindertagesstättenwesens zu nutzen. Die Anpassung an den veränderten Bedarf (bedarfsgerechte Öffnungszeiten, Ganztagsbetreuung, Öffnung für Kinder unter drei Jahren) ist aus vielen Gründen erforderlich, verschlingt jedoch zusätzliche finanzielle Mittel. Wir müssen außerdem in der Lage bleiben, die vielen Veränderungen und Modifizierungen der bisherigen Aufgaben im Kindergartenbereich durch eigene Projekte gleichsam probeweise zu testen, um neue Wege einschlagen und beständig gehen zu können.

Zu einer wirklichen Qualifizierung der Arbeit in den Kindertagesstätten und zur beabsichtigten Schaffung zusätzlicher Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder gehört auch, dass genügend fachlich qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Die pflegerischen und sozialpädagogischen Berufe in unserer Gesellschaft müssen viel mehr geschätzt und gefördert werden. Dies schlägt sich nicht nur in einer guten Bezahlung nieder, aber unsere Gesellschaft belohnt verantwortungsvolle Arbeit auch sonst durch eine angemessene Vergütung. Wir haben von uns aus damit begonnen, einen unbestreitbaren Nachholbedarf einzuleiten und hier einen Ausgleich zu schaffen, bewegen uns jedoch angesichts der dafür notwendigen hohen Summen in engen Grenzen und können nur Schritt für Schritt vorwärts kommen.

Zur Qualifizierung der Erzieherinnen gehören selbstverständlich eine fortschreitende Verbesserung der Ausbildung und eine ständige Vertiefung durch Fortbildung. Sonst ist es nicht möglich, den wirklichen Bedürfnissen der Kinder und vor allem auch den sozialen Wandlungen, zumal in den Familien und in deren Milieu gerecht zu werden. Wenn die Erzieherinnen nicht ständig wieder mit den gewandelten Situationen vertraut gemacht werden, betrachten sie ihren Beruf mehr und mehr in einer Art „innerer Emigration“ als „Job“ und werden unvermeidlich entmutigt. Ich freue mich, dass viele Erzieherinnen dieses Bedürfnis nach ständiger Fortbildung verspüren und die Angebote lebhaft wahrnehmen. Wir müssen uns sicher fragen, wie diese Angebote vermehrt und vertieft werden können.

Ein Thema will ich wenigstens noch nennen: Es geht um das kirchliche Arbeitsrecht. Ich kann hier nur darauf hinweisen, dass wir zwar gerade auch für den Bereich der Kindergärten, die ja eine ganz wichtige pädagogische Arbeit leisten, der immer auch ein Vorbildcharakter zukommen muss, ein Verhalten in der persönlichen Lebensführung erwarten, das diesem Auftrag grundsätzlich entspricht. Im Blick auf Konfliktsituationen, vor allem auch hinsichtlich der wiederverheirateten Geschiedenen, gibt es differenzierte Regelungen, die die Gesamtsituation in diesem Bereich wesentlich entspannen können. Jedenfalls ist Raum gegeben für eine Prüfung der einzelnen Situationen mit ihren genauen Umständen. Ich glaube, dass die zehn Jahre, die nun seit der Einführung vergangen sind, eine Bewährung dieser Regeln erbracht haben.

Die Landschaft der Kindertagesstätten ist wiederum in Bewegung geraten. Es kann nur ein Gewinn sein, wenn unsere Gesellschaft sich wieder neu um die Zukunft ihrer Kinder und damit auch der künftigen Generation sorgt. Darum freuen wir uns auch über ein vermehrtes Interesse an der kindlichen Erziehung, wie sie in den Tagesstätten erfolgt. Wir müssen aber die verantwortlichen Politiker auf allen Ebenen um eine realitätsgerechte Einschätzung dessen bitten, was die Kirchen in diesem Bereich bereits leisten und zu erfüllen im Stande sind. Ich bin dankbar dafür, dass unsere Gemeinden und unsere Gremien, einschließlich der Kirchensteuerräte und aller übrigen Räte, ein so hohes Engagement für die Kindertagesstätten befürworten.

Die heile Kinderwelt ist heute in vieler Hinsicht eine Fiktion. Auch das Kind erlebt vielfach die Zerrissenheit, die Not und auch die Ohnmacht des Menschen überhaupt. Um so wichtiger ist es, wenn in dieser Kinderwelt neben den Eltern immer wieder ein freundliches, ermutigendes Gesicht erscheint und das oft durch seelischen Druck und auch schon durch Stress geplagte Kind zu einem gelungenen Leben in Freiheit und Solidarität ermutigt. Viele ehemalige Kinder, die heute Erwachsene sind, haben ihre Erzieherin nie vergessen und erinnern sich gerne an das gütige und freundliche Gesicht, das sie ermutigt und begleitet hat. Der kirchliche Kindergarten macht dabei nicht nur eine freundliche Stimmung, sondern erfüllt zugleich auch seine Sendung im Sinne der Frohbotschaft. Darum ist uns auch diese Dimension kostbar und unverzichtbar. Ich bin zutiefst überzeugt, dass im Dienst der Kirche, wie er durch die Erzieherinnen ausgeübt wird, ganz wesentlich etwas von der befreienden Kraft des Evangeliums mitgeteilt wird, die Jesus Christus unserer Welt schenkt. Nur darum sind die Kirchen letztlich Träger von Kindertagesstätten.

 

Redemanuskript - es gilt das gesprochene Wort!

(c) Karl Kardinal Lehmann

Im Originalmanuskript sind weitere Litertaturangaben und Fußnoten enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz