„Wer ist Gott?

Die Suche der Menschen und die Antwort des Glaubens“

Datum:
Donnerstag, 15. März 2007

Die Suche der Menschen und die Antwort des Glaubens“

Vortrag zur Gottesfrage in der Fastenzeit am 15. März 2007 in der Heilig Geist Kirche in Friedberg

1. Hinführung

Ich habe mich in Ihre Reihe von Vorträgen zur Gottesfrage mit einem Fragesatz eingefügt: Wer ist Gott? Heute reden wir immer wieder von der Wiederkehr der Götter, einer neuen Religiosität, einem Neuerwachen des Menschen in der Sinnsuche. Man könnte viele Buchtitel aneinander reihen. Aber sehr oft bleibt es bei einer allgemeinen Bestimmung, der Mensch suche eine Erfüllung seines Lebens jenseits dieser irdischen Zeit. Er müsse neu innewerden, dass er in unserer endlichen Welt nicht von sich aus eine unzerstörbare Antwort auf den Sinn unseres Lebens geben könne. Manchmal bleibt es auch bei einer allgemeinen Suche nach Transzendenz, einem Überschreiten unserer irdischen Verhältnisse. Aber dabei bleibt oft unbestimmt, wohin denn dieses Sichüberschreiten geht. Hat es überhaupt ein Ziel? Kommt die Bewegung irgendwo an oder gibt es ein ewiges Transzendieren ohne Transzendenz? Man ist versucht, darauf eine Antwort zu geben, indem man die klassischen philosophischen und theologischen Bestimmungen zum Gottesbegriff vertiefend darlegt. Dann antwortet man eher auf die Frage, die auch wichtig ist: Was ist Gott? Dies ist nicht unnütz, aber so allein wäre die Frage unzureichend gestellt. Es bleibt dann unklar, ob dieser Urgrund eine personale Größe ist oder mehr ein anonymes Neutrum.

Darum ist es sinnvoll, mitten in dieser Fragestellung die Problematik etwas anzuschärfen, wie es vor Jahrzehnten einmal der Dichter Kurt Tucholsky getan hat: „Wer ist das eigentlich – Gott?“ Man kann dies ironisch oder polemisch formulieren, neugierig und interessiert. Ein auch heute noch lesenswerter Sammelband mit diesem Titel, hrsg. von Hans Jürgen Schultz, ursprünglich eine Sendereihe im Süddeutschen Rundfunk (München 1969) hat auch die Gegenfrage hervorgerufen: „Wer ist das eigentlich – der Mensch?“ Aber vermutlich braucht es zuerst diese Frage nach Gott, die wir zunächst einmal unter das Stichwort stellen: Wer ist Gott? Dabei wollen wir schlicht mit dem Wort „Gott“ beginnen.

2. Das Wort „Gott“

Zunächst, wie könnte es anders sein, beschäftigt uns also das Wort Gott. Es ist ein gewöhnliches Wort, ein Wort unter vielen Wörtern. Es sagt zunächst gar nichts besonderes über das Gemeinte. Aber es ist nicht so wie ein Zeigefinger, der hinweisen kann auf bekannte Dinge: auf den Baum, auf den Tisch, auf die Sonne. Darum ist das Wort immer auch ein bisschen leer. So hat es in unserem Alltag auch manchmal einen sehr abgenutzten Sinn. „Mein Gott“, das kann jeder sagen, auch wenn er gar keinen Bezug hat zu diesem Gott. So kann das Wort manchmal eine wirklich schreckliche Konturrosigkeit haben, geradezu nichtssagend sein und wie ein erblindetes Antlitz wirken. Aber in dieser Leere steckt durchaus auch ein kleiner positiver Hinweis. Denn „Gott“ sagt ja auch so viel wie: der Namenlose, der Unsagbare, der Schweigende. Das letzte Wort vor dem Verstummen. Dieses Wort hat eine eigene Widerstandskraft und Widerstandsfähigkeit. Auch der, der Gott ablehnt, führt es im Mund. Auch der Atheist muss es benutzen, wenn er sagen will, dass er nach seiner Ansicht nicht ist. Dass es dieses Wort gibt und dass es allen diesen Schwächen und Schwierigkeiten trotzt, ist eigentlich schon des Nachdenkens wert. Und immer wieder sagen uns gerade auch die Religionsgeschichtler, dass es ein besonderes Wort sei. Auch wenn es in vielen Sprachen ganz anders klingt, so würde doch vieles in einem ähnlichen Sinn zusammenlaufen.

Man hat sich überhaupt gefragt, ob es ein Wort ist wie viele anderen Wörter, die ein Objekt, ein Es, ein Ding bezeichnen, oder ob es ein ganz anderes Wort, nämlich des Ausrufs, des Anrufs ist. Martin Buber hat sehr streng die These vertreten, dieses Wort Gott sei nur ein Vokativ, es sei nur ein Wort, das in der unmittelbaren Anrede gilt, nicht aber ein Wort, bei dem man sagen kann „Er“ oder gar ein neutrales Wort damit in Verbindung bringt. Nur als Anrede existierte es: „Mein Gott“, „Du Gott“. Unsere sonstige Alltagsrede ist ganz anders. Gewiss gibt es im Alten Testament schon Belege, die Buber nicht eindeutig bestätigen. Es wird auch anders gesprochen als nur in diesem Anruf und Ausruf. Aber im Kern hat Buber gerade für die ursprüngliche Rede von Gott, nämlich im Gebet, etwas Entscheidendes getroffen.

Wenn wir genauer verfolgen, was wir eigentlich meinen, wenn wir das Wort Gott aussprechen, dann sehen wir auch in der alltäglichsten Rede noch, dass dieses Wort Gott uns immer dann auch über die Lippen kommt, wenn wir irgendwie an das Ganze unserer Wirklichkeit erinnert werden. „Mein Gott“, das heißt wenigstens, ich habe etwas Wichtiges vergessen. Da ist etwas passiert, was unvorhergesehen war. Da ist ja etwas, das alles Gewöhnliche, Geordnete in meinem Leben durcheinander bringt. Indem wir sagen: „Mein Gott“, „Gott“, taucht – nicht immer uns ganz bewusst – dieses Ganze der Wirklichkeit mit diesem Wort auf. Da spüren wir, es gibt nicht nur den einzelnen, dich und mich, das eine oder andere Ding, sondern es gibt ein Ganzes, in dem wir immer nur darin stehen, in dem wir aber auch nicht einfach gefangen sind, wo wir nicht einfach versklavt sind an dieses und jenes, sondern wir können uns zu diesem Ganzen erheben und tun es, indem wir z.B. das Wort Gott benutzen. Das Wort Gott weist also auf das Ganze und seinen Grund: Da kommen wir her, da gehen wir hin, Ursprung und Ziel. Darum gehört offenbar dieses Wort Gott so zum Menschsein, dass wir uns selbst gar nicht denken können ohne dieses Wort. Zum Menschen gehört, dass man denkend und worthaft das Ganze von Welt und Mensch vor sich bringt, dass man fragt nach dem Ganzen. Und dieses Wort „Gott“ behauptet sich auch noch im Protest gegen es selbst. Auch wenn ich ihn ablehne, auch wenn ich dieses Ganze anders deute, auch wenn ich es mit anderen Namen benenne, so brauche ich es doch in der Verneinung.

Das Wort Gott bleibt also in unserer Sprache, man kann es nicht einfach eliminieren, und noch in der Gedankenlosigkeit lebt es ein Stück weit. Jeder Einzelne lebt von der Sprache aller. Wir übernehmen die Sprache, wir machen sie nicht einfach. Wir stricken zwar alle an ihr fort im Gewebe der Worte und Wörter, aber wir sind nicht einfach nur die Schöpfer. Man muss sich also auch von der Sprache etwas sagen lassen. Bei aller kritischen Aufmerksamkeit auf das, was wir hören und selber sagen, brauchen wir auch ein letztes Vertrauen der Sprache gegenüber. Sie hat uns etwas zu sagen. Sie vermittelt uns etwas: manchmal Vertrautes, manchmal auch Neues, das wir noch nicht kennen, Ungewöhnliches, Herausforderndes. Und so gibt es eben auch das Wort Gott, in dem das Ganze der Wirklichkeit – ihr Grund und Ziel – in besonderer Weise vor uns kommt. Mindestens als Frage ist es da: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Gibt es da ein Ziel, das man benennen kann?“ Nicht wir schaffen also einfach dieses Wort, sondern eher schafft es uns, weil es uns zu Menschen macht. So gibt es eine gewisse Unausweichlichkeit dieses Wortes Gott. Und es hält uns auch die Zukunft offen, das Ganze der Wirklichkeit nach vorne. Es verhindert, dass wir unsere Welt einfach abschließen, und es verhindert auch, dass wir einfach glauben, sie in Besitz nehmen zu können, über sie restlos verfügen zu können. Immer gibt es ein unverfügbares, nicht von vornherein bezwingbares Element in unserem Leben. Soviel zum Wort Gott.

3. Was ist ein Geheimnis?

Gott ist ein Geheimnis. Das Wort Geheimnis weckt in uns Menschen gerade heute jedoch oft zunächst Verdacht und Misstrauen. Geheimnis ist das, was noch nicht oder nicht bekannt ist. Man muss es durchschauen, man muss es vielleicht sogar entlarven, man muss es enthüllen. Aufklärung duldet in strengem Sinn kein Geheimnis. Alles muss vor den Richter, alles muss vor die ermittelnde Vernunft. Alles muss bis auf den letzten Grund preisgeben, was es ist. So ist das Wort Geheimnis gerade in unserer moderneren, neuzeitlichen Sprache immer negativer geworden. Es hat eine Nähe zum Rätsel, es ist etwas, was uns verborgen ist oder schwer zugänglich: etwa der unbekannte Sinn eines Symbols, schwierige Probleme, vielleicht auch noch einmal eine unlesbare Schrift, eine noch nicht entzifferte Schrift, ein unaufgeklärter Rest jedenfalls. Manchmal scheint er übervernünftig zu sein, weil man gar nicht dahinter kommt, und manchmal auch unvernünftig, weil man glaubt, es könnte reiner Unsinn sein, oder weil man denkt, jemand will sich verbergen, will sich verstecken, hat seine Geheimnisse.

Schaut man auch in die größeren Lexika der Philosophie, dann taucht das Wort Geheimnis so gut wie nicht auf. Vielleicht „Mysterium/Mysterien“, aber nicht unbedingt im Sinn von Geheimnis. So ist das moderne Denken bis in unser Jahrhundert hinein gegenüber dem Begriff Geheimnis skeptisch und kritisch. Erst mit gewissen philosophischen Wandlungen gibt es hier eine Änderung. Man darf also, spricht man heute von Geheimnis, an diesen Voraussetzungen im Sprachgebrauch nicht einfach vorbeigehen. Man darf das Wort nicht einfach als schlicht voraussetzen. Und es ist selbstverständlich, dass man mit einem so mehr negativ orientierten Verständnis von Geheimnis keine Anwendung auf Gott versuchen kann. Darum ist der Verzicht auf dieses Wort eher verständlich, wie er sich in weiten Teilen der Theologie durchgesetzt hat. Aber das ist nicht alles, was zu diesem Wort zu sagen ist. Geheimnis kann doch nicht bloß oder zuerst ein Erkenntnismangel, eine Beschränkung unserer Einsicht sein, die es zu beseitigen gilt. Wir dürfen auch nicht einfach nur intellektualistisch von Geheimnis sprechen, als ob es einfach das noch nicht Gewusste sei und alle anderen Regungen und Verhaltensweisen des Menschen nichts damit zu tun hätten.

4. Zugänge zum Geheimnis

Wie kann man dann auf neue Weise wieder einen ursprünglichen Zugang gewinnen zu dem, was Geheimnis wirklich heißt? Gerade, wenn es um Gott geht. Es braucht offensichtlich die richtige Weise zu denken. Die neuere Zeit hat sehr oft erfolgreich ungewöhnlich fruchtbare Denkweisen hervorgebracht. Aber wir haben manche andere Denkweise daneben und dahinter vielleicht vergessen. Wir sind Meister im analytischen Denken, wir können etwas auseinandernehmen, sezieren, zerlegen, zergliedern, entschleiern, „hinterfragen“. Rechnen und Berechnen haben den Vorrang, stellen etwas als unseren Gegenstand, ein Objekt vor uns, stellen es vor und können es dadurch ein Stück weit auch beherrschen; wir bemächtigen uns der Dinge dieser Welt. Wir erkennen sehr oft dadurch, dass wir auch zugleich erobern und dass wir dabei natürlich auch alles durchschauen wollen: völlige Transparenz, lückenlose Diagnosen. Wir wollen hinter alles kommen.

Das mag für viele Wirklichkeiten unseres Lebens und für den Umgang mit der Realität berechtigt und notwendig sein. Aber dürfen wir mit aller Wirklichkeit so umgehen oder geraten wir in Gefahr, dass wir die Wirklichkeit auf einen Typ, auf einen Stil des Umgangs mit ihr beschränken? Werden wir dadurch nicht ärmer?

Das Denken im 20. Jahrhundert hat diese Frage aufgegriffen. Schon früh und durch die ganzen Jahrzehnte hindurch. Einmal in der Phänomenologie: in einer neuen Weise zu denken, die sehr nahe am Sehen liegt. Sehen, was ist, nicht einfach begreifen, nicht einfach das Netz der Begriffe drüber werfen, nicht einfach sezieren. Ganzheitlich, intuitiv sehen. Das andere kommen lassen, nicht dauernd schon vorweggreifen. Zu den Sachen selbst uns zuwenden, unsere Vorurteile einmal aufheben, all das einklammern, was wir schon längst zu wissen meinen. Und dann die Entdeckung der Endlichkeit des Menschen gegenüber einer idealistischen Erhöhung: Wir sind beschränkt, wir sind endlich. Wir durchschauen nicht alles, wir stecken selber immer schon in tiefen Bedingtheiten unseres Lebens drin. Nicht alles darf nach dem Muster eines Problems behandelt werden, des Verifizierbaren. Es gibt Dinge, die uns anders angehen, nicht nur als Objekt und Probleme. Es waren Gabriel Marcel, Karl Jaspers und viele andere, die aufgezeigt haben, dass wir nicht alles als Problem angehen dürfen, das wir in den Griff bekommen, sondern dass es manches gibt, was uns einfach umfängt, was uns als Menschen zentral mitbestimmt, ohne dass wir es durchschauen können und sollen. Und sie haben dafür das Wort Geheimnis benutzt, besonders Gabriel Marcel.

Aber dann war es die Entdeckung des dialogischen, des personalen Denkens, das sich ganz anderer Kategorien bedient. Personales Kennen strebt nicht einfach nach Durchschauen. Wenn uns jemand einfach nur durchschauen will, werden wir skeptisch und misstrauisch. Personales Kennen will im Grunde auch anerkennen, möchte ja sagen, möchte nicht alles von mir aus vereinnahmen, freut sich an der Eigenart des anderen, zieht nicht alles herab sozusagen auf die eigene Art und Weise des Strebens, des Denkens und Wollens. Personales Kennen will die in Liebe bejahte Eigenart des anderen annehmen und sich daran freuen, froh sein darüber. Schließlich hat alles, was ist, seine besondere Art und Weise, sich zu geben, wenn man es nicht von außen einfach durch fremde Kategorien schon erdrückt.

So hat Gott seine eigene Sphäre. Man hat dies das Heilige genannt, das uns entzogen ist und das wir nicht beherrschen können, das Unverfügbare, oder, wie viele Jahrzehnte unseres Jahrhunderts gesagt worden ist, das ganz Andere, der ganz Andere, den wir nicht einfach verrechnen können mit dem, was wir aus unserem Alltag kennen, der immer wieder für Überraschungen gut ist. Und gerade die Wiederentdeckung des patristischen und des ursprünglichen mittelalterlichen Denkens hat uns geholfen, besser zu sehen, wie Gott ganz anders ist, in welchem Sinne er ein Geheimnis ist. Das große Buch von Henri de Lubac „Auf den Wegen Gottes“, im Krieg noch erschienen, dann immer wieder in mehreren Auflagen aufgelegt, erst vor einiger Zeit noch einmal in deutscher Sprache neu überarbeitet erschienen, hat gezeigt, wie reich die Überlieferung des Denkens, der Philosophie und der Theologie ist, um dieses ganz Andere, Unaussprechliche, Unbegreifliche, Geheimnishafte Gottes auf eigene Weise sagen zu können.

5. Das Geheimnis Gottes

Daher ergibt sich ein ganz neuer Ansatz, Gott als Geheimnis zu denken, besonders, wenn noch der ganze Ertrag der biblischen Wissenschaften aus vielen Bemühungen eingebracht wird. Wir sehen, dass Gott auf seine Weise weltüberlegen ist – bei aller Zuwendung zur Schöpfung –, dass er eine eigene Souveränität hat gegenüber aller Geschichte und dass diese Geschichtsmächtigkeit Gottes das Geheimnis einer Wahrheit ist, wie nämlich Gott in der Geschichte wirkt: sehr oft verborgen. Dadurch hat sich auch der Begriff Geheimnis wieder anwenden lassen auf Gott selbst. Die Theologie hat dies immer gemacht, die großen Konzilien, und nicht zuletzt das Vaticanum I haben es in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Aber man kann nicht übersehen, dass auch in der gewöhnlichen Theologie dieses Wort „Geheimnis“ doch meist eher etwas negativ bestimmt wird: die Grenze unseres Verstehens, das bloß vorläufige Erkennen und Wissen gegenüber einem Letzten.

Es waren dann vor allen Dingen Denker, die Anstöße aus der Philosophie unseres Jahrhunderts aufgenommen haben, um das, was Geheimnis heißt – angereichert durch die große Überlieferung – neu zu denken. Unvergesslich, was Erich Przywara dazu beigetragen hat, unvergesslich, was Karl Rahner in drei großen Beiträgen, die in seinen Schriften zur Theologie im vierten Band abgedruckt sind, uns dazu hinterlassen hat: drei Vorlesungen über eine katholische Theologie des Geheimnisses. Plötzlich wird dieses Thema nicht einfach nur in ein paar Nebensätzen abgehandelt, so unbegreiflich ein Geheimnis ist, sondern es ist der rote Faden aller Theologie geworden, der Anfang und Ende durchwirkt und bestimmt. Der personale Mitteilungscharakter gerade auch von Offenbarung ist immer deutlicher geworden. Offenbarung und Geheimnis, das widerspricht sich nicht, das gehört ganz eng zusammen. Nur wenn Gott ein Geheimnis ist und bleibt, dann gibt es auch wirklich Offenbarung, etwas Neues in ihr, etwas Unableitbares, etwas Befreiendes, etwas, was wir nicht einfach schon kennen, Überraschendes.

Darum kam man dann bald viel weiter hinaus über eine nur negative Kennzeichnung von Geheimnis als Grenze. Ja, Geheimnis kam ganz nahe – man sieht es besonders bei Karl Rahner und bei Henri de Lubac – an das Verständnis dessen, was kreatürlicher Geist ist. Geist, kreatürlicher Geist ist ganz nahe an dem, was Gott heißt, und zwar durch einen ursprünglichen Sinn für das Geheimnis. Und so ist das Geheimnis nicht das bloß Vorläufige, sondern das Ursprüngliche, das Erste, nicht bloß bedauerliche Grenze, sondern göttliche Überfülle. Der Mensch begreift in seiner tiefsten Erkenntniskraft – gerade dann, wenn er am meisten zu denken wagt, bis an die Grenze geht –, dass Gott unbegreiflich ist. Geheimnis ist also das, bei dem die Erkenntnis ankommt, wenn sie zur Vollendung gelangt.

Aber sie ist nicht einfach nur Erkenntnis, schon gar nicht im Sinne des analytischen Denkens allein; wenn personale Erkenntnis immer auch Anerkennung ist, ja sagt, freie Anerkennung bedeutet, dann wird diese Erkenntnis vollendet, indem sie zur Liebe wird. Anbetung ist letzten Endes nichts anderes als diese Einheit der Erkenntnis und der Liebe vor einem unaussprechlichem Geheimnis. Erkenntnis muss Liebe werden, oder sie scheitert an ihrem eigenen Wesen. Unzufrieden bemächtigt sie sich dann dessen, was nicht zu bezwingen ist. Geheimnis dagegen ist also eine Positivität ganz eigener Art, ist das Verhältnis zwischen kreatürlichem Geist und Gott und wirklich die Vollendung des Menschen.

Die klassische negative Theologie hat dies schon deutlich gewusst und immer wieder von der Unaussprechlichkeit Gottes gesprochen, von dem Schweigen, das man lernen muss, um ihn zu verstehen. Angelus Silesius sagte es einmal in einem wichtigen Sinnspruch: „Je mehr du Gott erkennst, je mehr wirst du bekennen, dass du je weniger Ihn, was Er ist, kannst nennen“. Aber dennoch ist auch die Warnung wichtig, nicht zu früh Zuflucht zu nehmen zu einer theologia negativa, diese nicht gleichzusetzen mit Trägheit des Geistes. Geheimnis hat nichts mit Denkfaulheit zu tun. Gott ist nicht in dem Sinn unaussprechlich, dass er nicht verstehbar wäre, dass er uns nicht eine Überfülle von Licht, von Orientierung schenken würde. Er ist unaussprechlich, weil er stets über allem steht, was über ihn ausgesagt werden kann. Er ist wirklich der immer größere Gott. Darum müssen alle unsere Begriffe, erst recht alle unsere Vorstellungen, erst recht alle unsere Vorurteile zerbrochen werden, da sie einen Käfig bilden, in dem wir Gott oft fangen und beherrschen möchten. Gottes Bilder müssen immer wieder zerbrochen werden, sonst kommen wir nicht zum wirklichen, zum göttlichen Gott. Darum ist auch Negativität, wenn wir sagen, was Gott nicht ist, nicht einfach Verneinung, sondern es hält sich durch, dass wir eigentlich bejahen. Der menschliche Geist erschöpft sich nicht darin, dass er Revolte ist, Opposition oder Ablehnung, sondern er ist durch alle Negation hindurch, bei der er gleichsam Eierschale nach Eierschale ablegt, Zustimmung. So gibt es in der Logik der negativen Theologie so etwas wie einen ständigen Wechsel zwischen der Rede über das, was Gott nicht ist, wie wir ihn uns nicht vorstellen dürfen, und den Aussagen darüber, dass wir doch etwas mehr verstehen von dem, wie er ist, dass wir es nicht einfach nur dabei belassen, dass die Worte uns unzureichend erscheinen, sondern dass es Worte sind, die ihn auch durchaus benennen. Und doch sagt gerade eine Theologie und eine Philosophie, die unablässig nach ihm suchen, dass wir dies nicht überschätzen dürfen. Ich erwähne nur Thomas von Aquin, der einmal sagte: „Der ‚Unnennbare' ist der schönste aller seiner Namen, denn er setzt ihn von vornherein über alles, was man versuchen könnte, über ihn auszusagen“.

Es gibt viele Beispiele für diese Ambivalenz der Rede über Gott, auch schon in der Heiligen Schrift, Themen, die uns heute wieder beschäftigen. Dürfen wir zu Gott einfach Vater sagen? Denken wir diesen Vater nicht oft nach dem Muster menschlicher Vatererfahrungen, wo es auch Despoten, schlimme Patriarchen gibt, Willkür gibt? So darf Gott als Vater nicht gedacht werden. Vater heißt aber auch, dass wir im Ursprung von ihm herkommen, dass wir immer wieder seine Güte und seinen Schutz erfahren, dass wir uns ihm verdanken. Aber Vater dürfen wir ? das sagt uns schon die Heilige Schrift ? nicht einfach denken in der Weise menschlicher Geschlechter, sondern genauer gesehen hat dieser Gott?Vater auch in der Heiligen Schrift schon Züge des Mütterlichen in sich aufgenommen. Der Weltkatechismus der katholischen Kirche sagt in einem eigenen kleinen Absatz über Gott als Vater, dass Gott auch mütterliche, frauliche Züge hat, dass weder das Mannsein noch das Frausein einfach ausreichen, um zu sagen, wer Gott ist und wie er ist; sondern dass wir immer wieder an diesen Krücken menschlicher Worte entlang gehen müssen, um uns mit ihnen aufzuschwingen, um einzelne oft blitzartige Einblicke zu haben in das, was Gott ist, noch mehr, wer er ist. Damit wird auch jedes falsche System zunichte, das meint, irgendeine Geschlossenheit erreichen zu können, jedes theologische System, das meint, es käme zu irgendeiner Perfektion.

Thomas von Aquin, in dem Theologie und Heiligkeit eine fast einmalige Synthese und Einheit erreicht haben, ist auch hier ein überragendes Vorbild. Als er sein riesiges Werk – er wurde ja gar nicht so alt – geschrieben hatte, sich in ganz vorbildlicher Weise um Erkenntnis bemüht hatte, da überwältigte ihn für einen Moment so sehr die Überfülle des Lebens im Geheimnis Gottes, dass er nach diesem Augenblick kaum mehr in der Lage war zu schreiben. Es sei ihm alles vorgekommen wie Spreu, Stroh, was er geschrieben habe, im Vergleich zu dem, was er geschaut habe. Doch auch die Mystik entschleiert nicht Gott, sondern sie führt den wahren Mystiker immer tiefer hinein in diese unendliche Geheimnishaftigkeit Gottes.

6. Geheimnis und Offenbarung

Gott bleibt nicht einfach der Schweigende. Es gibt zwar Millionen von Menschen, für die sich Gott als Gott dadurch auszeichnet, dass er immer schweigt. Götter müssen nicht immer reden, sie können auch schweigen, sie brauchen keine Worte. In der Bibel gibt es auch das Schweigen Gottes. Aber Gott kann das Schweigen brechen und tritt aus seiner Herrlichkeit heraus, indem er spricht. Indem er spricht, teilt er sich selbst mit, offenbart sich, gibt uns von dem, was in ihm selber ist. Und dies nennen wir dann ganz wörtlich Offenbarung. Ohne Geheimnis gibt es ? wie schon gesagt ? keine Offenbarung. Darum hat Gott auch eine letzte Freiheit, ob und wie er sich in der Offenbarung der Welt zuwendet. Dass Gott spricht, dass Gott aus seinem seligen Geheimnis heraus sich uns Menschen überhaupt zuwendet, dass das heilige Geheimnis in die Nähe von uns Menschen kommt: das ist das Wunder der Offenbarung. Das ist eigentlich Gnade.

So ist das Geheimnis das Erste, das Ursprüngliche, nicht einfach eine letzte Grenze. Geheimnis ist für den, der sich ihm anvertraut, der es demütig liebt, der sich ihm angstlos ergibt, wissend und liebend, der einzige Friede. Und dieses Geheimnis bleibt auch Geheimnis in der Anschauung Gottes. Es ist nicht einfach so, dass das Geheimnis nur in unsere Erdenzeit hineinpasst; dann brauchte man es nicht mehr. Nein, wir endliche, kreatürliche Menschen erfahren bei aller Unmittelbarkeit des Sehens Gottes von Angesicht zu Angesicht ihn immer als den unendlich Seligen, den unendlich immer wieder Tiefsten. So können wir verstehen, dass das Eintreten in das Allerheiligste, in den Raum Gottes selber zugleich auch ein Umhülltwerden ist mit der göttlichen Dunkelheit, die uns immer wieder neues Licht schenkt und spendet.

Nun gibt es nicht nur ein Geheimnis, sondern da Gott sich geoffenbart hat, hat er uns in die Geschichte hinein Geheimnisse seines Lebens und seines Wirkens geschenkt, Mysterien der Offenbarung in die Geschichte hinein. Die Theologie aller Jahrhunderte kennt vor allen Dingen drei Grundgeheimnisse: die Dreifaltigkeit Gottes, die Menschwerdung Jesu Christi und die Nähe seiner Gnade. Trinität, Inkarnation und Gnade, das ist eine ganz besondere Verdichtung des Geheimnisses in den Geheimnissen. Wir können auch sagen: Geheimnisse im Plural gibt es nur, weil es das Geheimnis gibt, weil sie es entfalten, gerade so, wie Gott uns sich durch die Offenbarung schenkt. Daher müssen wir wieder alles neu bedenken, dürfen nie die bleibende Grundlage des Geheimnisses Gottes vergessen. Wie reden wir oft von ihm, wie stellen wir uns ihn vor, was für Krämerseelen sind wir oft, wenn wir von Gott reden, was haben wir für falsche Vertraulichkeiten im Umgang mit Gott? Das heilige Geheimnis ist uns in Gott gegeben. Wenn es so in unsere Nähe kommt, wie uns der Glaube sagt, dann ist das stets ein Wunder. Darum ist dieses Geheimnis Gottes in der Erfahrung der Menschwerdung Jesu Christi, der Gnade, der Sakramente in einer besonderen Weise anschaulich. Das Wunder besteht immer darin, dass der unbegreifliche Gott sich uns in die Nähe schenkt. So führt die Anschauung Gottes immer tiefer hinein in das Geheimnis Gottes, und dies ist nichts anderes als Seligkeit.

In allen Funktionen und Aufgaben kommt es im letzten doch vor allem immer wieder darauf an, dass wir zu diesem Geheimnis Gottes führen. Wie oft sind eigentlich die Prioritäten auch unseres kirchlichen Handelns verstellt? Wie oft könnten wir vom Herrn erfahren, dass wir uns wie Marta um gar vieles kümmern, aber zu wenig um dieses Eine Notwendige? Darum brauchen wir dringend die heute so oft beschworene Mystagogie, die Hinführung zum bleibenden Geheimnis Gottes. Das bleibt eine unaufhörliche Bewegung, ein stetiger Übergang vom Licht zum Dunkel, vom Wort zum Schweigen, und umgekehrt. Je tiefer man Gott versteht, um so mehr weiß man, dass man ihn im Nichtbegreifen mehr verstanden hat. Geheimnisse muss man hüten, pflegen, das Gegenteil einfach von nur entdecken, entlarven, zergliedern, zerstückeln. Das Geheimnis hütet das Gottsein Gottes. Gott bleibt nur er selber im Geheimnis.

7. Jesus offenbart Gott als Vater

Es bleibt die Aussage: „Ich glaube an Gott, den Vater“. Wir sprachen bereits kurz von Gott als Vater in den Religionen. Nun müssen wir noch etwas genauer hinsehen und in die Heilige Schrift schauen. Jesus offenbart in seinem Tun und durch sein Wort in einer neuen Weise Gott als Vater. Zunächst scheint darin nichts Neues zu liegen, denn in der Geschichte der Religionen wird Gott ja oft „Vater“ genannt. Aber schon das Alte Testament, das bekanntlich in der Verwendung der Kategorie „Vater“ auf Gott höchst vorsichtig ist, bringt neue Akzente. Es geht nämlich nicht um Vorstellungen, die mit der physischen Erzeugung des Kosmos oder von Menschen durch einen göttlichen Schöpfer zusammenhängen. Mit dem Vatersein Gottes ist zunächst einmal das Verhältnis der Erwählung des Volkes Israel durch Jahwe bezeichnet. So heißt das Volk Israel der erstgeborene Sohn Gottes (Ex 4,22f.). Jahwe ist darum Israels Vater (Jer 31,9). „Sohn Gottes“ heißt dann vornehmlich der erwählte König des Volkes. Vom künftigen Spross des Davidshauses heißt es z. B. in der alten Nathan?Verheißung: „Ich will ihm Vater sein, und er soll mir Sohn sein“ (2 Sam 7,14; Ps 89,27 ff.). Hier wird also keine physische Sohnschaft ausgesagt, sondern durch Erwählung und Bevollmächtigung von Seiten Gottes erhält der Beauftragte eine bestimmte Rechts- und Machtstellung. Darum heißt er „Sohn“. Dies ist zentral wichtig für die Interpretation des Begriffs „Sohn“ in der neutestnamentlichen Christologie. Heute wissen wir um den biblischen Hintergrund dieser Aussagen, der viel entscheidender ist als hellenistische Motive einer Göttergenealogie: Die mythisch orientierte Vorstellung von einer physischen Gottzeugung wurde in Israel radikal abgewandelt in eine auf personaler Erwählung begründete Gottessohnschaft.

Im Judentum wird erst später der Gedanke der Vaterschaft Gottes auf das Verhältnis des einzelnen Frommen zu Gott übertragen. Das Fundament dieser Ausweitung ist aber nicht, wie oft angenommen wird, die Idee einer allgemeinen Vaterschaft Gottes für alle Menschen, sondern es ist sogar eher eine Einschränkung auf den Einzelnen hin, insofern er der Erwählung Gottes durch den Gehorsam des Glaubens entspricht. „Sei den Waisen ein Vater und der Stellvertreter des Mannes für die Witwen, dann wird Gott dich Sohn nennen und dir gnädig sein und dich vom Verderben erretten“ (Sir 4,10). Schließlich zeigt sich dann noch später der Vater?Name Gottes wiederum als Inbegriff einer universalen Hoffnung, die so das ganze Volk umfasst: „Sie werden nach meinem Gebote tun, und ich werde ihr Vater sein, und sie werden meine Kinder sein“ (Jubiläenbuch 1,24).

Jesus bezieht nie das Vater?Sohn?Verhältnis auf das Volk als ganzes. Er sieht in der Vaterschaft Gottes nichts Selbstverständliches im Sinne einer universal?menschheitlichen Bedeutung. Vaterschaft Gottes gibt es nur im Bereich der Herrschaft Gottes. Gott sorgt freilich nicht nur für die Frommen. Er ist Vater „über Böse und Gute, Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45; 21,28 ff.). Diese Grenzenlosigkeit der Güte begründet auch die Feindesliebe, die für Jesus in besonderer Weise spezifisch ist: „Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid ...“ (Mt 5,44 f.). Gott weiß um unsere Sorgen, bevor wir ihn bitten. Ein ganz entscheidender Zug Gottes als des gütigen Vaters zeigt sich in der Geschichte vom verlorenen Sohn, welche freilich eher ein Gleichnis vom grenzenlosen Erbarmen Gottes für den Verlorenen ist. Der Vater lässt den Sohn in Freiheit ziehen, am Ende geht er dem Sohn entgegen, ja sieht ihn schon aus der Ferne, nimmt ihn in bedingungsloser Vergebung auf. Hier scheint ein neues Gottesverständnis auf: Gott als Vater der Verlorenen. Außerdem sind es gerade die Kleinen, die Armen und Verachteten, die Gott schützt. Die Lebensrätsel bleiben bestehen: Das Evangelium wird von den Klugen verworfen; der Sämann arbeitet in vieler Hinsicht vergeblich (vgl. Mk 4,4 ff.); Leid und Tod können nicht vordergründig verrechnet werden (vgl. Lk 13,1?5). Der Vater hält jedoch Leben und Sterben der Seinen in der Hand (vgl. Mt 10,29 ff.). Wer auf diesen Vater unbedingt vertraut, der hat auch die Gewissheit, dass er nicht im Tod bleibt, sondern diesen überwindet (vgl. Mk 12,27). „Stärker als alle Fragen, Rätsel und Ängste ist das eine Wort Abba. Der Vater weiß.“

Jesus offenbart also in seinem Tun und in seiner Predigt das wahre Antlitz Gottes, der die unter den Menschen aufgerichteten Zäune zwischen den Fernen und den Nächsten, den Freunden und den Feinden, den Schwarzen und den Weißen, den Armen und den Reichen einreißen will. Dies ist nur möglich durch Vergeben ohne Bedingung, Dienen ohne Kalkulation nur auf Erfolg, Verzicht ohne Gegenleistung. So werden gerade die Schwachen, Kranken und Armen zu den besonders Erwählten. Ihr Leben hat vor Gott einen Sinn. Darum darf der Mensch auch nicht mit dem leeren und absurden Leiden paktieren. Die Hoffnung des Vaters weckt den Hunger nach Sinn, das Dürsten nach Gerechtigkeit für alle und den Einsatz für den Frieden der Menschen untereinander. Somit heben sich die Einwände gegen den tyrannischen und despotischen, angsteinjagenden und herrischen „Vatergott“ von selbst auf. Die Menschen haben sich das Bild Gottes oft nach der Erfahrung von gewalttätiger Herrschaft und willkürlicher Züchtigung gestaltet. Jesus zerfetzt – eigentlich ganz nebenbei – diese selbstgemachten Fratzen Gottes. Sie haben nichts zu tun mit dem göttlichen Gott.

8. „Vater“ als Gottesanrede Jesu

Die soeben versuchte Darlegung ist auch deshalb wichtig, weil man das Vater?Sohn?Verhältnis christlich nicht nur in der Binnenrelation Jesu zu Gott, sondern im größeren Zusammenhang seiner Sendung in die Welt durch den Vater sehen muss. Dennoch muss jetzt das Auge geschärft werden für die Besonderheit dieser Relation.

Diese Eigenart äußert sich vor allem in der Gottesanrede. Alle fünf Traditionsschichten der Evangelien (Logienquelle, Mt.-Sondergut, Lk.?Sondergut, Markus, Johannes) stimmen einheitlich darin überein, dass Jesus in sämtlichen Gebeten die Anrede „Vater“ gebraucht hat – mit einer Ausnahme: nämlich Mk 15,34 par Mt 27,46: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (hier war der Wortlaut durch die Fassung von Ps 22,2 vorgegeben). Es besteht auch ein relativ hoher Konsens darüber, dass hier – ganz unabhängig von der Authentizität der einzelnen Gebete – ursprüngliche Jesusüberlieferung zu greifen ist. Es gibt auch vereinzelte Gegenstimmen. Dies ist um so aufschlussreicher, weil bisher m.W. im antiken Judentum die persönliche Gottesanrede „mein Vater“ nicht nachgewiesen werden konnte, erst im Mittelalter in Süditalien.

Die Ungewöhnlichkeit dieser Gottesanrede wird noch durch das Wort „Abba“ gesteigert. Zwar ist es uns nur bei Mk 14,36 ausdrücklich überliefert: „Abba, Vater, dir ist alles möglich, lass diesen Kelch an mir vorübergehen; doch nicht, was ich will, sondern, was du willst.“ Aus der eigentümlichen Überlieferung der Vateranrede in der synoptischen Tradition und aus dem paulinischen Zeugnis des frühchristlichen Gebetsrufes „Abba, Vater“ (Röm 8,15; Gal 4,6) darf man vorsichtig schließen, dass Jesus sich auch in den übrigen Gebeten dieses „Abba“ als Anrede Gottes bediente. Der Befund lässt sich also nicht übersehen: Während bisher für das Judentum nicht nachgewiesen werden konnte, dass Gott die Anrede „Abba“ zugesprochen wurde, hat Jesus wohl in seinen Gebeten Gott immer so angeredet.

Betrachtet man die genauere Bedeutung von „Abba“, dann wird die Zurückhaltung des Judentums auch inhaltlich verständlich. Abba ist seinem Ursprung nach eine Lallform, es gehört zu den ersten Plapperlauten des Kindes in der Wiege. So wie unser „Papa“ jedoch nicht auf die Kleinkindersprache beschränkt ist, wurde auch Abba zur Zeit Jesu in einem weiteren Sinne verwendet, nämlich einmal auch von erwachsenen Kindern, dann gegenüber einer älteren Person, die besonderen Respekt verdient, z. B. einem Rabbi, einem Meister gegenüber. Wenn man diese Verwurzelung von Abba bedenkt, dann erkennt man den letzten Grund der Scheu im Judentum, Gott auf diese Weise anzureden: Abba war vor allem die Sprache der Kinder und des Alltags, so dass bei der jüdischen Sensibilität für die Ferne und Unvergleichlichkeit Gottes dieser Wortgebrauch nicht nur dreist und zudringlich, sondern wohl auch ehrfurchtslos und anstößig erschienen wäre.

Was bedeutet es nun, wenn Jesus selbst – und zwar im Unterschied von den Jüngern nur er allein – den Vater mit „Abba“ anredet? Die Neuheit und Einmaligkeit dieser Gottesanrede weist auf das besondere Verhältnis zu seinem Vater: Es zeugt von einer solchen Vertrautheit und Nähe, von einer solchen Intimität und Innigkeit der Beziehung, wie wir sie sonst nicht kennen. Zugleich schwingt ein vertrauendes Sichgeborgenwissen mit, das jedoch nicht mit gewöhnlicher Vertraulichkeit verwechselt werden darf. In aller Nähe bekunden sich Abstand und Respekt, Gehorsam und Ergebung. Man denke vor allem an das schon zitierte Wort bei Mk 14,36: „Abba, Vater, dir ist alles möglich, lass diesen Kelch an mir vorübergehen; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“

9. Zur Allmacht Gottes

Es wird gut sein, noch eine Aussage zu erläutern, nämlich das uns vom Credo her vertraute Bekenntnis zur Allmacht Gottes. Sie steht ja in einem engen Zusammenhang mit der Vateraussage und erläutert damit in gewisser Weise das Gottesverständnis. Die Allmacht als Eigenschaft Gottes erscheint schon im Glaubensbekenntnis des frühesten Christentums als Inbegriff aller göttlichen Vollkommenheiten. „Allmächtiger“ begegnet von Anfang bis heute als Anrede Gottes und erhält sogar die Bedeutung eines göttlichen Namens. Damit sind in einem Gottes Erkennen, Wollen und Tun umfasst.

Mit Allmacht ist unbegrenzte Herrschaft gemeint. Zahlreiche Bilder illustrieren Gottes unendliches Können: die Kraft seines Wortes, seines Armes und seines Geistes. Bei Hiob heißt es zusammenfassend: „Ich hab erkannt, dass du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt.“ (42,2). Das Wort „Allmacht“ umfasst so auch das Schöpfungshandeln Gottes. Ihm verdankt alles, was ist, das Dasein. Es geht dabei nicht nur um das Hervorbringen von Neuem, sondern alles hat nur Bestand durch seine Kraft.

Es ist nicht zufällig, dass das Bekenntnis zum allmächtigen Gott eine tragende Säule des Credo bildet. Ohne die Eigenschaft „allmächtig“ verlöre das Wort Gott jeden Sinn. Gott hat nicht nur etwas mit der bestehenden Wirklichkeit zu tun, zum Beispiel mit der Natur, oder mit einer moralischen Herausforderung, etwa Friede für alle, sondern er kann, er vermag alles, was er will und was sinnvoll ist. Gott hat alle Möglichkeiten. Er ist das Maß aller echten Möglichkeit.

Schon immer gab es heimlichen oder lauten Protest gegen den Glauben an die Allmacht Gottes. Das himmelschreiende Unrecht und alles Fürchterliche in der Welt straften das Wort vorn Allmächtigen Lügen. Die Rede über Gott und die Erfahrung der Wirklichkeit prallten an dieser Stelle immer schon so heftig aufeinander wie sonst nicht. Die Erfahrung von Auschwitz hat für viele jede Rede von der Allmacht Gottes geradezu gelähmt. Die Welt ist voller Klagen.

Man darf Gottes Allmacht nicht als Steigerung weltlicher Herrschaft denken. Unsere Erfahrungen mit Unterdrückung und Überwältigung dürfen nicht Ausgangspunkt und Maß für das Denken von Gottes Allmacht sein. Er steht über den Gegensätzen von Macht und Ohnmacht. Allmacht hat nichts mit Beliebigkeit und Willkür zu tun. Allmacht darf man nur von der Einzigartigkeit Gottes her denken. Es bleibt dennoch ein schwieriges Wort. Die Rede von der Allmacht Gottes muss damit fertig werden, dass der wahre Messias ein armer Mensch war, der nicht einmal in der Lage war, sein Kreuz allein zu schleppen. Gottes Allmacht ist nicht den Geschöpfen entgegengesetzt oder gar feindlich. Gott will die Geschöpfe und bejaht sie unendlich. Seine Allmacht erdrückt uns nicht. sondern gewährt uns Raum, Selbständigkeit und Freiheit. So zeigt die Schöpfung, dass Gott seine „Macht“ mit uns teilen will. Er gebraucht sein Können dazu, ganz ungezwungen Zeugen seiner Güte in der Welt zu schaffen.

Gottes Allmacht ist die Macht seiner Liebe. Die Menschwerdung Jesu von Nazareth ist der höchste Ausdruck solcher Macht. Jesus hat in seinem Leben und Sterben diese grenzenlose Kraft der Liebe leibhaftig erwiesen. Eine solche Liebe erleidet und erträgt alles. Der Allmächtige geht in die Ohnmacht eines Menschen ein, der schutzlos den Gewalten dieser Welt ausgeliefert war. Schwäche wird zur Stärke. Eine Liebe, die selbst den Tod nicht scheut, ist auch stärker als dieser selbst. Am Ende ist nur die frei geschenkte Liebe allmächtig. Darum gibt es auch die inständige Bitte, Gott möge alles wenden. Daher betet auch Jesus in äußerster Bedrängnis: „Vater, alles ist dir möglich“ (Mk 14,36).

Wir sind mit Recht skeptisch, wenn uns das Wort von der Macht begegnet. Nur wenn wir Allmacht gut biblisch mit Liebe verbinden, können die harten Einwände ihre Macht verlieren. Die Theologie unseres Jahrhunderts hat die Einwände der Zeitgenossen im Ohr und gibt sich redlich Mühe. Am Ende wird die Antwort jedoch nur dem Beter voll einleuchten, gerade dann, wenn er in der Not schreit und klagt.

10. Zum Schluss ein Wort Martin Bubers

Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Schwestern und Brüder, es gibt einen Text, der in ganz besonderer Weise vor das Geheimnis Gottes führt. Er stammt von Martin Buber und ist ein begnadetes Wort über das, was Gott heißt. Dieses Wort aus dem Buch „Gottesfinsternis“ aus dem Jahr 1953 möchte ich als kleine, abschließende Besinnung an das Ende meiner Ausführungen stellen, nicht bloß im Auszug, sondern ein klein wenig verlängert. Es ist auch heute noch gut, auf diesen weisen Denker zu hören. Zum Wort „Gott“ sagt er:

„Ja ... es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten funkelndsten Begriff aus der innersten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unverbindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben. Ihn meine ich ja, den die höllengepeinigten, himmelstürmenden Geschlechter der Menschen meinen. Gewiss, sie zeichnen Fratzen und schreiben 'Gott' darunter; sie morden einander und sagen 'in Gottes Namen'. Aber wenn aller Wahn und Trug zerfällt, wenn sie ihm gegenüber stehen im einsamsten Dunkel und nicht mehr 'Er, Er' sagen, sondern 'Du, Du' seufzen, 'Du' schreien, sie alle das Eine, und wenn sie dann hinzufügen 'Gott', ist es nicht der wirkliche Gott, den sie alle anrufen, der Eine Lebendige, der Gott der Menschenkinder?! Ist nicht er es, der sie hört? Der sie – erhört? Und ist nicht eben dadurch das Wort 'Gott', das Wort des Anrufs, das zum Namen gewordene Wort, in allen Menschensprachen geweiht für alle Zeiten? Wir müssen die achten, die es verpönen, weil sie sich gegen das Unrecht und den Unfug auflehnen, die sich so gern auf die Ermächtigung durch 'Gott' berufen; aber wir dürfen es nicht preisgeben. Wie gut lässt es sich verstehen, dass manche vorschlagen, eine Zeit über von den 'letzten Dingen' zu schweigen, damit die missbrauchten Worte erlöst werden! Aber so sind sie nicht zu erlösen. Wir können das Wort 'Gott' nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganz machen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge“.

 

Literatur

Martin Buber, Werke I, München – Heidelberg 1962 (dort bs. 503ff; 509ff; 1109ff.).

Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1948 u.ö. (Fischer Taschenbuch 1958 u.ö.).

Henri de Lubac, Auf den Wegen Gottes, Freiburg 1992 (Vgl. dazu auch Martin Lenk, Von der Gotteserkenntnis. Natürliche Theologie im Werk Henri de Lubacs, Frankfurt 1993).

Gabriel Marcel, Sein und Haben, Paderborn ³1980.

H.J. Pottmeyer, Der Glaube vor dem Anspruch der Wissenschaft, Freiburg 1968, 364ff.

Erich Przywara, Gottgeheimnis der Welt (München 1923), in: ders., Religionsphilosophische Schriften, Einsiedeln 1982 (= Schriften II), 123 ff.

Karl Rahner, Vorlesungen über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie, in: Schriften zur Theologie IV, Einsiedeln 1964, 51-99.

 (c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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