„Wer ist Jesus?"

Predigt von Kardinal Lehmann bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

Datum:
Donnerstag, 24. September 2015

Predigt von Kardinal Lehmann bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

Wir dokumentieren im Folgenden das Manuskript für die Predigt von Kardinal Karl Lehmann in der Eucharistiefeier anlässlich der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am Donnerstag, 24.09.2015, im Hohen Dom zu Fulda. Es gilt das gesprochene Wort.

Schrifttext: Mk 8,27-35

Wir behandeln in diesen Tagen von der Flüchtlingsdramatik bis zum Gedenken an das Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren viele Themen und Probleme. Deswegen ist es wohl auch gut, wenn wir gerade in der letzten Eucharistiefeier dieser Tage an die Wurzeln gehen und uns fragen: Warum tun wir dies alles? Dafür wählte ich einen Text aus dem Markus-Evangelium, den wir vor Kurzem als Sonntags-Evangelium hatten. Der Text ist, wie wir hörten, sehr dicht und komprimiert. Dazu setzt er auch sehr rasch ein und kommt ziemlich überraschend zur Sache.

Kein Wunder: Die Menschen fragen, wer ist denn dieser seltsame Jesus. Die Jünger haben schon früh „untereinander" gefragt: „Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?" (Mk 4,41) Sie haben seine Macht über Sturm und Wogen erfahren. Im heutigen Evangelium rätseln aber nicht die Jünger untereinander, wer Jesus sei, sondern Jesus selbst stellt die Frage, die eine Antwort verlangt. Jesus will offenbar von sich aus eine Klärung der Frage.

Der gehörte Text steht in der Mitte des Markus-Evangeliums und hat immer schon eine große Bedeutung gehabt. Es gibt klar erkennbar drei Abschnitte und gedankliche Einheiten: Die Frage Jesu an die Jünger und das Messiasbekenntnis des Petrus (8,27-30), die erste Ankündigung von Jesu Leiden und Auferstehung (8,31-33) und der Ruf in die Nachfolge (8,34-35).

Jesus ist mit seinen Jüngern abseits der lauten Welt. Er steht an der Grenze zwischen dem Heiligen Land und dem Heidengebiet, aber auch vor der Wende seines Weges nach Jerusalem. Die Frage „Wer ist Jesus?" ist also nicht zufällig. Jesus stellt seine Jünger und will gerade vor dem Weg nach Jerusalem klären, wer er ist und was alles auf ihn zukommt. Jesus selbst ergreift im Unterschied zu der schon erwähnten Rede der Jünger „untereinander" die Initiative und gibt dadurch der Frage ein großes Gewicht. Er spricht sehr direkt, überraschend und herausfordernd. Zuerst aber bereitet er die Frage an die Jünger selbst vor: „Für wen halten mich die Menschen?" Die Frage geht also nicht nur an die Jünger, sie geht alle an. Es ist Jesus nicht gleichgültig, wie „man" über ihn denkt. Es ist eine öffentliche Frage.

Die Jünger, die Bescheid wissen, sollen die Antwort geben. Sie wissen auch, was „die Leute" - Lukas sagt: die „Volksmenge" - meinen und denken. Die Frage geht jedermann an, aber die Antwort erwartet Jesus von den Jüngern. In der Tat können die Jünger auch recht schnell Auskunft geben. Einige halten Jesus für Johannes den Täufer, von dem manche glaubten, dass er nach der Hinrichtung durch Herodes (vgl. Mt 14,3-12) wieder auferstehe; Elija ist eine mächtige prophetische Gestalt der Geschichte Israels, die man als einen Vorläufer des Messias versteht und die das Anbrechen der Endzeit ankündigt. Es kann aber auch ein anderer Prophet sein. So nennt z.B. das Matthäus-Evangelium den Propheten Jeremia (Mt 16,14). Dies alles bestimmt weiterhin die Meinung der Menschen und damit eben auch der Öffentlichkeit. Es sind die überkommenen Ansichten, eigentlich nichts Neues. Dies hat man alles erwartet. Es liegt im Rahmen der gängigen Antworten. Man kennt diese Gestalten.

In diese fast selbstverständlichen plausiblen Antworten platzt aber nun Jesu mit einer elementaren Veränderung der Blickrichtung und Vertiefung seiner Frage: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" Jetzt sollten sie sich nicht auf andere berufen, nachplappern, was „man" so sagt. Da kann man sich hinter dem Gerede anderer auch verstecken. Jetzt sind sie selbst an der Reihe. Es kommt auf ihr Herz, auf ihr Innerstes und Persönlichstes an. Es ist aufschlussreich, dass Petrus für sie alle antwortet. Er hat eben unter den Jüngern ohne Zweifel eine Führungsrolle. Seine Antwort geht nun über das, was die Leute so sagen, weit hinaus: „Simon Petrus antwortete ihm: Du bist der Messias!" Da werden nun diese gängigen Antworten, was die Leute über ihn meinen, jäh durchbrochen. Es wird nicht nur eine gängige Meinung zum Besten gegeben, sondern die Antwort ist schon eine Art Bekenntnis. Hier braucht es Mut, um sich so zu bekennen. Dies geht über bloße Information, was die Leute eben meinen, hinaus. Die Antwort überschreitet aber auch inhaltlich alles bisher Gesagte. Der Messias ist, was nun die Übersetzung angeht, der „Gesalbte" Gottes. Damit ist er ein Heilbringer und Befreier Israels. Es gibt verschiedene Messiasvorstellungen zur Zeit Jesu, aber in jedem Fall ist die Rede vom Messias ein hohes Bekenntnis, ja die Erfüllung der Erwartung Israels. Er ist der messianische König. Man denkt aber unwillkürlich auch an die spätere Vernehmung Jesu vor dem Hohen Rat in der Leidensgeschichte, wo der Hohepriester Jesus verhört und fragt: „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?" Die Antwort Jesu lautet: „Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen." (Mk 14,61f.).

Zugleich ist diese Bezeichnung Jesu als Messias bei aller hohen Einschätzung Jesu überaus zwiespältig, denn diese ganz besondere Stellung ist sehr mit dem Streben und dem Ausüben von Macht verbunden, auch wenn man in Israel dies verschieden auslegt. Die Rede vom „Messias" ist auch gefährlich, weil politisch missdeutbar, Jesus überhaupt in diese Kategorie einzuordnen. Der Kontrast zwischen der Volksmeinung und dem Messias-Bekenntnis des Petrus bedeutet also noch nicht die letzte Klärung. Nicht zuletzt darum verbietet Jesu, weiter darüber zu reden. Warum - dies geht vor allem aus der Fortsetzung der Geschichte hervor: Jetzt verstehen die Jünger noch nicht alles, jedenfalls nicht das Entscheidende.

Jetzt offenbart nämlich zunächst Petrus seine Vorstellung von „Messias". Jesus sagt den Jüngern, der Menschensohn - also er selbst - müsse „vieles erleiden", werde von den Führern des Volkes regelrecht „verworfen" (Ps 34,20; 118,22), aber auch nach drei Tagen „auferstehen." Über das kommende Leiden, den Tod und auch die Auferstehung hat Jesus sehr frei und offen geredet. Es konnte kein Missverständnis geben. Dies alles aber reicht Petrus: „Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe." (8,22) Was da Jesus über das Leiden sagte, das ist nicht vereinbar mit der Messiashoffnung des Petrus. Aber Jesus redet ähnlich klar und - so muss man den Text wohl wörtlich verstehen - fährt Petrus regelrecht an: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen." (8,33) Mit „Satan" ist wohl nicht der Teufel selbst gemeint, aber Petrus ist für Jesus - obgleich er sich zu ihm als Messias bekennt - ein teuflischer Widersacher, ein Versucher. Es ist schon ein sehr harter Vorwurf: Du hast nicht Gottes Sache im Sinn, sondern die üblichen Absichten der Menschen im Kopf. Dies ist ein richtiger Donnerschlag im Blick auf das Bekenntnis des Petrus. Trotz des hohen Bekenntnisses zu Jesus als Messias, das sich abhebt von der Meinung der „Volksmenge", könnte der Kontrast nicht schärfer sein. Was für eine Spannung und Dramatik in dieser äußersten Konfrontation, die das Evangelium, auch die anderen Evangelientexte, nicht verschweigt. Was für ein Fall für Petrus: Der Erste der Jünger versteht den Herrn im Letzten offensichtlich überhaupt nicht. Man kann also etwas aussprechen, wie z.B. das Messias-Bekenntnis zu Jesus, aber doch gründlich Missverständnissen erliegen (vgl. auch Mt 5,37). An dieser Stelle geht es offenbar um das Ganze.

Was für eine Stimmung ergab sich wohl aus diesem tiefen Riss in der Beantwortung der Frage, wer ist Jesus? Jesus weiß, dass er dies alles nicht so einfach stehen lassen darf. Deswegen heißt es nun auch, dass Jesus danach „die Volksmenge und seine Jünger zu sich rief und sagte: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach." (8,34) Das Bekenntnis für sich allein ist also trotz allem noch nicht ausreichend. Man kann sich also mit hohen Worten zu Jesus bekennen, aber vieles bleibt dann doch zweideutig, kann zwiespältig werden und gar zu Unaufrichtigkeit und Heuchelei führen. Jesus warnt immer wieder vor diesem Missbrauch des Wortes und vor allem des Bekenntnisses. Zum Bekenntnis gehört nach Jesus darum die Nachfolge, hier wirklich buchstäblich gemeint: hinter ihm hergehen, seinen Spuren folgen. Das Bekenntnis allein reicht nicht. Es braucht die Tat des Lebens, und zwar bis zur Hingabe.

Auch wird man an den Früchten sehen, was das Bekenntnis wirklich wert ist. Man muss mit Jesus auch sein Kreuz und mit ihm das Kreuz dieser Welt tragen. Lukas wird dieses Wort Jesu durch einen kleinen Zusatz ergänzen: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach." (Lk 9,23) Es gelten nicht nur die großen heroischen Taten der Nachfolge, sondern es zählt die konkrete Treue in den alltäglichen Dingen. Deswegen formuliert Jesus noch ein praktisches Kriterium als letzte Folgerung des Bekenntnisses zu ihm, gleichsam die Frucht des Ganzen: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten." (8,35) Die konkrete Hingabe an Gott und die Menschen ist das Kriterium.

Jetzt verstehen wir, warum dieses Jesus-Wort bei Markus in der Mitte des Evangeliums steht und warum es so etwas wie eine Konzentration und Zusammenfassung des Evangeliums darstellt. Dies ist wohl auch der Grund, warum Jesus in der Unterweisung der Jünger immer wieder auf die Verknüpfung der Schönheit seiner Botschaft mit der Nachfolge und auch dem unausweichlichen Weg zur Passion, zum Kreuz und zum Tod in Jerusalem hinweist. Insgesamt gibt es ja nicht zufällig drei Leidensweissagungen, die freilich auch die Auferstehung einschließen. (vgl. Mk 9,30-32; 10,32-34) Dies ist und bleibt die Mitte der Glaubensschule Jesu, in die jeder immer wieder gehen muss. Dies ist auch der Kern und die Mitte jeder Reform und - vielleicht in anderen Worten - einer überzeugenden Menschlichkeit.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz