Wozu noch Religion?

Beitrag im DeutschlandRadio Berlin, 2. September 2001

Datum:
Sonntag, 2. September 2001

Beitrag im DeutschlandRadio Berlin, 2. September 2001

Die Frage „Wozu noch Religion?" gehört zu denen, bei denen ich sofort denke: Ist die Frage richtig gestellt? Die Frage spielt ja mit der Vorstellung, man könnte Religion abschaffen. Fragen mit „Wozu?" kann ich stellen, wenn ich eine Sache durch etwas Besseres ersetzt habe, also zum Beispiel Atomstrom durch erneuerbare Energie, aber ich kann nicht fragen: Wozu noch atmen? Wozu noch denken? Wozu noch essen oder trinken? All das kann ich nicht abschaffen, ohne mich selbst aufzuheben. Natürlich kann ich sehr philosophisch und tief Fragen dieser Art stellen: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? In diesem Tiefgang könnte ich gewiss auch fragen, „Wozu noch Religion?"

Ich bin also der Meinung, dass religiöse Fragen sich von selber stellen, sie gehören einfach zum Menschen und können nicht abgeschafft werden. Wem diese Behauptung als zu kühn erscheint, dem möchte ich einfach ein paar Indizien nennen: Biologen und Verhaltensforscher sagen uns, dass die Gattung „Mensch" die einzige ist, die ein „geistiges Auge" hat. Nur wir können uns Wirklichkeiten vorstellen, die aktuell nicht gegeben sind. Ich kann mir vorstellen, was derzeit in Australien passiert oder wie die Verhältnisse auf dem Mond beschaffen sind. Ich kann mir auch vorstellen, was morgen auf mich wartet. Jedes Mal, wenn ich in meinen Terminkalender schaue, erschrecke ich, wie voll er ist.

Nur Menschen können sich Realitäten, die relativ unabhängig sind von Ort und Zeit, vor ihr geistiges Auge setzen und sich damit auseinandersetzen. Selbst intelligente Tiere wie Schimpansen oder Delphine, also Lebewesen, die so etwas wie Gefühle und auch Erinnerungen haben, geben durch ihr Verhalten keinen Grund zu der Annahme, dass sie diese Fähigkeit ebenso wie wir besitzen. Schon daran kann man sehen, dass die Gattung Mensch eine Singularität ist. Wir sind so etwas wie ein Sonderfall in der Geschichte des Lebens. Gerade diese Fähigkeit, die Wirklichkeit, wie sie ist, mit der Wirklichkeit, wie sie vielleicht einmal sein wird, sein könnte oder sein sollte, zu vergleichen und daraus Konsequenzen zu ziehen, macht den Menschen zum Erfinder und Gestalter seiner Umwelt. Wenn ich weiß, dass der nächste Winter bestimmt kommt, dann besorge ich mir – jedenfalls in unseren Breiten – etwas zum Heizen und zum Anziehen.

Der Mensch ist auch das einzige Lebewesen, das weiß, dass es endlich ist. Der Philosoph Hans Blumenberg hat einmal sehr dramatisch darauf hingewiesen, dass alle Menschen in einem Lebenszeit-Weltzeit-Dilemma leben. Damit meint er, dass wir alle wissen, dass die Erde und der Kosmos schon ein paar Millionen, Milliarden Jahre alt sind. Wenn wir gar den wissenschaftlichen Kosmologen folgen, dann wissen wir, dass sich vom Urknall bis zum Wärmetod der Welt ein ungeheurer Zeitbogen spannt. Das deckt sich mit der biblischen Vorstellung, die vom ersten Tag der Schöpfung ebenso spricht wie vom jüngsten Tag. Die Weltzeit erstreckt sich von Alpha bis Omega. Aber meine Lebenszeit bringt es nur auf sechzig, siebzig, achtzig, im äußersten Fall hundert Jahre, und selbst der älteste Mensch, der je lebte, dessen Lebenszeit hat es nur auf einen dramatischen Bruchteil in der großen Weltzeit gebracht. Die Weltzeit geht ungerührt weiter, auch wenn wir tot sind. Natürlich kann man die Frage nach der eigenen Endlichkeit und nach dem Sinn des Lebens verdrängen, man kann sich ablenken, und den Versuch machen, sich nur in der Gegenwart aufzuhalten. Der Dichter Horaz wird ja neuerdings oft mit seiner Empfehlung zitiert: „Carpe diem", das heißt pflücke und genieße den Tag, denke nicht an morgen, das kann für Menschen, die sich vergrübeln und nicht auch einmal feiern können, sogar ein sehr guter Ratschlag sein, aber am Ende kommen doch auch die nachdenklichen Stunden. Es können Stunden glücklicher Erfüllung sein, aber auch leidvolle Stunden, in denen wir hart mit unseren Grenzen, mit unseren Schmerz- und Lebensgrenzen konfrontiert werden.

Viele Menschen gehen auch mit ihrer Endlichkeit so um, dass sie versuchen, Spuren zu ziehen. Da will jemand ein Lebenswerk hinterlassen. Er stellt sich vor, wie das, was er geschaffen hat, weitergeht, auch wenn er längst gestorben ist. Der alte Faust in Goethes großem Drama wünscht sich am Ende seines Lebens „... dass die Spur von meinen Erdentagen, nicht in Äonen untergeht". Er hört, wie Arbeiter fleißig mit Spaten hantieren und die Erde ausschachten. Er hat ein großes Werk der Landgewinnung geplant und ist der Meinung, dass seine Arbeiter Deiche aufwerfen, die das Meer zurückdrängen. Aber er ist blind, in Wirklichkeit schaufeln die Lemuren sein Grab.

Was wird mit uns sein, wenn wir gestorben sind? Wird unser Leben einen Sinn gehabt haben? Diese Frage stellt sich nicht erst fünf Minuten vor Zwölf, sie schlägt gerade für die intelligenten und nachdenklichen Menschen zurück auf ihr reales Leben. Wer nicht alle seine Glückserwartungen in den achtzig Jahren Lebenszeit unterbringen muss, weil er daran glaubt, dass die Fülle des Lebens ihn nach seinem Tod erwartet, der lebt gelassener. Aus dem geradezu panischen Zwang, das eigene Glück in der begrenzten Lebenszeit – koste es was es wolle – selber herstellen zu müssen, ist schon viel Unheil entstanden. Die Antwort der Bibel auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ist das große Ja, das auch die Begrenztheit unserer Lebenszeit überstrahlt.

Es gibt zwei Möglichkeiten: Wenn wir tatsächlich das einzige Lebewesen sind, das nach dem Morgen und dem Übermorgen, nach dem Sinn des Lebens und nach der Endlichkeit sowie ihrer Überwindung fragen kann und all dieses Suchen ginge ins Leere, alle Hoffnung auf eine Zukunft jenseits der Todesgrenze wäre Wunschdenken und Illusion, dann müsste man doch sagen, wären wir eine Missgeburt der Evolution. Ein Lebewesen, das nicht anders kann als sich leere Hoffnungen und schlechthin unerfüllbare Illusionen zu machen, wäre gleichsam falsch programmiert. Ich sehe mich also vor die Wahl gestellt, mich und meine Mitmenschen für eine Fehlentwicklung und Misskonstruktion zu halten. In dieser Situation müsste ich eigentlich zu mir selber nein sagen.

Wenn ich aber grundlegend zu mir ja sage, dann sage ich ja zu mir in jeder Hinsicht. Ich sage nicht nur ja zu meiner physischen Wirklichkeit, ich sage auch ja zu meinen Hoffnungen, und wenn sich mir diese Hoffnung immer wieder gleichsam von außen auferlegt ist, will ich auch annehmen, dass sie nicht unbegründet ist. Wir Christen sprechen uns dieses Ja gegenseitig zu. Es ist ein Ja zu uns selber, zum Sinn des Lebens und zur ganzen Schöpfung. Es ist Hoffnung, es ist eine begründete Zuversicht, eine „gute Nachricht", die griechische Sprache hat uns das Wort „Evangelium" dafür geschenkt.

Dies ist die eine Möglichkeit. Es gibt jedoch noch eine Alternative. Die Frage „Wozu noch Religion?" kann auch so gemeint sein: Geht nicht der Einfluss der Kirche zurück? Schreitet nicht die Säkularisierung voran? Der Philosoph Hegel und sein Schüler Marx haben einmal gemeint, so etwas wie ein „Gesetz der Geschichte" entdeckt zu haben. Marx behauptete, dass die Religion nur eine Art Kompensation des menschlichen Leids und Elends sei. Er meinte, wenn man Leid und Elend abschafft, dann stirbt die Religion von selber ab. Marx, Feuerbach, Freud und alle, die in ähnlicher Weise einen psychischen Mechanismus beschreiben, der erklären soll, wie Religion funktioniert, mögen einen Teil der Wirklichkeit treffen, aber sie machen einen Fehler. Sie meinen, wenn sie die Funktion erklärt haben, sei die Sache damit gleichsam wegerklärt und erledigt. Die Frage, ob die Religion wahr ist, hat nichts zu tun mit der Frage, ob die Religion mir nützt oder schadet. Natürlich tröstet die Religion, natürlich gibt sie uns Halt in schweren Notlagen. Dies ist auch die Erklärung dafür, weshalb in Notzeiten die Kirchen voll sind und sich die Kirchen eher leeren, wenn sich die Menschen mit vielen vermeintlichen Glückseligkeiten ablenken können. So sind wir offenbar gestrickt, dass wir uns gern auf viele kleine Fluchten begeben. Viele Reize stehen uns zur Verfügung, mit denen wir unsere Gegenwart verzaubern. Bloß nicht ins Nachdenken kommen. Es ist ja auch eine ganze Unterhaltungsindustrie, die davon lebt, dass wir das Vergessen in der unmittelbaren Gegenwart suchen. Ich sage aber auch: Es wird keinem Menschen ernsthaft gelingen, die wirklich wichtigen Fragen des Lebens vollständig abzuräumen. Sie werden ihn sonst irgendwann einholen. Deshalb bin ich auch nicht erstaunt, dass uns die Soziologen inzwischen sagen, dass die klassische Säkularisierungsthese, nach der die Religion in der Moderne mehr und mehr verschwindet, sich nicht bestätigen lässt. Die Religion ist keineswegs auf dem Rückzug. Weltweit gesehen erlebt der Islam eine Renaissance, aber auch das Christentum breitet sich vor allem in Asien und Afrika weiter aus. Und das schnellste Land der Moderne, die USA, ist alles andere als gottlos. Für den Durchschnittsamerikaner – ob er nun zu irgendeiner der protestantischen Glaubensgemeinschaften gehört, ob er Jude ist oder Katholik – gehört es zum normalen Leben, sich einer Gemeinde anzuschließen, den Gottesdienst zu besuchen. Öffentliche Gebete im Weißen Haus, im Capitol, in Schulen sind keineswegs verpönt. Teile Mittel- und Westeuropas scheinen hier einen Sonderweg zu gehen.

Auch bei uns sind die Menschen nicht religionslos, aber es gibt so etwas wie einen Kult des Individuums, der sich in dem Slogan artikuliert: „Das muß jeder für sich selbst entscheiden". Ein richtiger Satz übrigens, ein Satz, der mitten in die christliche Tradition gehört. Es ist ja das Gewissen jedes einzelnen Menschen, das sich vor die Wahl gestellt sieht, auf das große göttliche Ja zustimmend oder ablehnend zu antworten. Schon in der Paradiesesgeschichte von Adam und Eva sind die Menschen frei, das heißt, sie können ja oder nein sagen. Der Begriff von der Würde der einzelnen Person, von ihrem Gewissen und von ihrer Freiheit ist ursprüngliches biblisches Erbe. Im Kulturvergleich ist er keineswegs selbstverständlich. Wir merken dies immer dann, wenn es um die Menschenrechte geht und wenn wir feststellen müssen, dass z.B. im asiatischen Denken dieser Begriff vom Individuum und der Würde des einzelnen Menschen nur schwer zum Verständnis gebracht werden kann. Die Freiheit des Einzelnen ist aber nur die eine Seite unseres Menschenbilds. Zu ihm gehört auch, dass der Mensch auf Gemeinschaft angelegt ist. Die Formen der Gemeinschaft, sogar die Formen der Familienstruktur sind, wie wir derzeit schmerzlich lernen, kulturabhängig, sie unterliegen einem Wandel, der vielleicht größer ist, als wir oft vermutet haben, aber es muss sie geben. Was ich wirklich für bedrohlich halte, ist eine weitgehende Ablehnung aller Bindungen, die über den Einzelnen hinausgehen. Das ist die Ideologie des Was-bringt-mir-das. Wenn ich sehe, wie in manchen Talkshows aggressives Verhalten und der blanke Egoismus bejohlt und bejubelt werden, dann kann einem angst und bange werden. Alle gesellschaftlichen Institutionen, Parteien, Gewerkschaften, genauso wie die Kirchen, leben von der Fähigkeit der Menschen, sich für eine Gemeinschaft zu engagieren. Es ist eine große Zukunftsaufgabe, dass wir unter den Bedingungen eines schnellen Wandels, den uns die Ökonomie vorgibt, es schaffen, in unseren Kirchen, aber auch in anderen Formen des Gemeinschaftslebens uns einander wieder zuzuwenden. Keiner kann als Solist glücklich werden. Glück ist eine Erfüllung, die der Mensch nur in der Gemeinschaft findet.

Die Kirche ist eine besondere Gemeinschaft. Sie hat sich unter den ungeheuren Anspruch gestellt, so etwas wie Platzhalterin und Zeichengeberin Gottes in der Geschichte und in jeder Zeit zu sein. Sie muss sich gewiss an diesem Anspruch auch messen lassen. Daher gibt es immer auch berechtigte Kritik am kirchlichen Handeln. Aber – und das muss in aller Bescheidenheit auch gesagt werden – es muss zuerst von Gott geredet werden! Das ist der Auftrag der Kirche.

Warum es aber gerade jetzt höchste Zeit ist, von Gott zu reden, hat noch einen besonderen Grund: In einer Zeit, in der das ökonomische und marktförmige Denken auch in Lebensbereiche übergreift, in denen eigentlich kein Geld verdient werden muss, wird die Frage: „Gibt es überhaupt noch ein Außerhalb des großen ökonomischen Nutzenkalküls?" zur Überlebensfrage für uns alle. Da ist die biblische Aufklärung, die die vielen nützlichen Gottheiten des Polytheismus verabschiedet hat zu Gunsten eines Gottes, der gerade nicht ein selbstgemachtes Produkt unserer Bedürfnisse und Wünsche ist, hochaktuell. Die Antwort unseres, des biblischen Gottes auf die Frage „Wozu?", einfacher gesagt auf die Frage: „Was bringt mir das?" ist die Aufforderung, die Antwort am Ende Gott und seinem großen Ja zu überlassen. Dies heißt nicht, dass wir bloß die Hände in den Schoß legen dürften. Im Gegenteil, wenn wir alles getan haben, sind wir immer noch unnütze Knechte. Gott ist immer größer als der Mensch.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz