ZEUGE DES WORTES GOTTES: HERMANN KARDINAL VOLK (1903 – 1988)

Tagung der Akademie des Bistums Mainz anlässlich des 100. Geburtstages am 5./6. Dezember 2003 in Mainz (Erbacher Hof)

Datum:
Freitag, 5. Dezember 2003

Tagung der Akademie des Bistums Mainz anlässlich des 100. Geburtstages am 5./6. Dezember 2003 in Mainz (Erbacher Hof)

Es gilt das gesprochene Wort

I.

Bischof wird man nicht, wenigstens nicht so, wie man andere Berufe ergreift. Man kann sich auch nicht wirklich darauf vorbereiten. Dies macht es gar nicht so leicht, über die persönliche Seite des Bischofs zu sprechen. Manche werden dies begrüßen, weil sie ohnehin stärker die amtliche Seite betonen möchten. Aber der Bischof ist kein Funktionär, sodass eben die personale Art und Weise, wie er sein Amt ausfüllt und ausübt, wiederum von großer Bedeutung ist.

Es kommt also entscheidend darauf an, was ein Bischof, wenn er in dieses Amt berufen wird, an Gaben und Befähigungen mitbringt. In diesem Sinne ist Hermann Volk reich gesegnet in das Bischofsamt gekommen.

Da ist zunächst einmal die Herkunft aus einem einfachen, gläubigen Elternhaus, das ihn zeitlebens prägte. Er wurde am 27. Dezember 1903 als Sohn des Sattlermeisters Franz Volk und seiner Ehefrau Catharina Josepha, geb. Kaiser, in Steinheim am Main geboren. Dort besuchte er die Volksschule und im benachbarten Hanau das Gymnasium. Steinheim ist bis heute vom katholischen Leben tief geprägt. Trotz der Durchmischung der Konfessionen, gerade auch im Rhein-Main-Gebiet, beträgt der Katholikenanteil fast 60 %. Eine ganze Reihe von Priestern sind aus den beiden Gemeinden St. Johann Baptist und St. Nikolaus hervorgegangen. Hermann Volk hing sehr an seiner Heimat, was sich schon darin zeigt, dass er den Turm in Steinheim in sein Wappen aufnehmen ließ. Nie konnte er sich damit abfinden, dass Steinheim nach Hanau eingemeindet wurde. Er hat sich beständig geweigert, die neue Postanschrift „Hanau 7" zu verwenden.

Er hatte eine große, weit verzweigte Verwandtschaft, um die er sich auch durchaus kümmerte. Er hatte grundlegend gute Erfahrungen gemacht in seiner Familie und fühlte sich stets getragen von der Glaubenskraft besonders auch seiner Eltern. Seine ältere Schwester Emmy hat ein Stück weit diese Heimat für ihn gerettet, indem sie ihm über viele Jahrzehnte das Haus führte. Sein Bruder Dr. Georg Volk, ein namhafter, hoch angesehener Mediziner in Offenbach, bildete auf seine Weise eine wichtige Brücke in das Denken und Leben des elterlichen Hauses.

Unmittelbar nach dem Abitur begann Hermann Volk mit dem Studium der Philosophie und der Theologie am Priesterseminar in Mainz. Man atmete in diesen zwanziger Jahren nach dem Krieg immer noch auf. Die Geldnot im Lande konnte die Menschen jedoch nicht von einer erstaunlich großen geistigen Lebendigkeit abhalten. Die katholische Welt war stark geprägt von Namen wie Karl Adam, Erich Przywara und Romano Guardini. Man wird sicher sagen dürfen, dass der junge Hermann Volk durchaus von den entscheidenden Tendenzen der Jugendbewegung und der Liturgischen Bewegung erfasst war. Auch wenn die Professoren im Priesterseminar in der Theologie der Zeit nicht die erste Geige spielten, so haben einige Professoren den jungen begabten Studenten mächtig angeregt, besonders der Philosoph Weingärtner, der Dogmatiker Giegler und vor allem der Moraltheologe Wendelin Rauch. Wendelin Rauch stammte aus dem Erzbistum Freiburg. Kaum jemand wusste, was erst nach dem Krieg an den Tag kam, dass er kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, nämlich im Jahr 1938 zum Bischof von Fulda gewählt war, aber wegen des Einspruchs der Nazis nicht ernannt werden konnte. Schließlich war er von 1925 – 38 Professor für Moraltheologie in Mainz und wurde 1948 Erzbischof von Freiburg (1948 – 1954). Er entfaltete konsequent die ganze Moraltheologie aus dem Prinzip „Die Wahrheit tun". Hermann Volk war von Wendelin Rauch stark beeindruckt. Er war auch sein späterer Primizprediger. Am 2. April 1927 wurde er durch Bischof Ludwig Maria Hugo zum Priester geweiht. Die Kaplanszeiten in Alzey (1927 – 1931) und in Mainz, St. Ignaz (1931 – 1935), hat er nie vergessen. Hier wurde der große Seelsorger geformt. Nie hat er diese seine erste und elementare Berufung zurückgedrängt oder hintangestellt.

Im Bistum hatte man lange keinen Priester mehr zum Weiterstudium freigestellt. Es herrschte auch noch lange Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Priestermangel. Schließlich wurde Hermann Volk zum Weiterstudium bestimmt. Alle hielten ihn für den geeigneten Mitbruder. Der junge Kaplan war begabt in Richtung des philosophischen Denkens, seine Leidenschaft betraf aber mehr die Theologie selbst. Der damalige Mainzer Bischof brauchte eigentlich einen Philosophen und einen Dogmatiker. Also ließ man die endgültige Bestimmung etwas offen und schickte den angehenden Wissenschaftler nach Fribourg in die Schweiz. Hier beginnt dann auch seine Leidenschaft für das Bergwandern und auch für das Besteigen der Berge. Es sollte ihn nie mehr loslassen, besonders die Berge im Wallis hatten es ihm angetan. Er widmete sich zuerst einem Grundbegriff der Theologie, der es ihm schon im Mainzer Priesterseminar angetan hatte und ihn zeitlebens beschäftigte, nämlich der Kreatürlichkeit. Um sein Denken zu schärfen und anzureichern, hat er die Kreaturauffassung bei Karl Barth bearbeitet. 1938 wurde er in Fribourg in der Schweiz mit der Dissertation „Die Kreaturauffassung bei Karl Barth" zum „Dr. phil." und nach kurzer Zwischentätigkeit als Substitut (Aushilfe) in Nidda 1939 in Münster mit der Abhandlung „Emil Brunners Lehre von der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit des Menschen" zum „Dr. theol." promoviert. Nach Aushilfen in Offenbach, St. Paul, und in Gau-Odernheim (1940/41) wurde er im oberhessischen Nidda 1941 Pfarrkurat. In dieser extremen Diaspora-Situation – erst später kamen durch die Heimatvertriebenen mehr Katholiken in die Gegend – hat er die katholischen Mitchristen in fast dreißig umliegenden Ortschaften betreut. Viele kleine Gemeinden hat er vor allem während der Woche mit dem Fahrrad aufgesucht. Aber er blieb auch hart an der wissenschaftlichen Arbeit. Er hat nämlich bereits im Jahr 1942 der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster seine Habilitationsschrift „Emil Brunners Lehre von dem Sünder" vorgelegt. Er blieb jedoch als Seelsorger in Nidda bis nach dem Kriegsende.

Es war zunächst ungewöhnlich, dass ein damaliger Dogmatiker drei seiner wissenschaftlichen Arbeiten den Fragestellungen evangelischer Systematiker widmete. Dies zeigt schon sehr früh die ökumenische Ausrichtung von Hermann Volk, damals übrigens ziemlich einzigartig, zumal Hermann Volk von seiner Heimat Steinheim her ganz katholisch verwurzelt war. In diesen Arbeiten zeigt sich auch, dass der junge Volk philosophisch zwar durchaus von der scholastischen Tradition geprägt war, im Umweg vor allem über Emil Brunner aber doch sich intensiv am dialogisch-personalen Denken orientierte. Dies hat ihn ein ganzes Leben lang begleitet. In dieser Nähe zu einem personalistischen wie auch heilsgeschichtlichen Denken zeigt sich vielleicht am stärksten seine geistig-wissenschaftliche Herkunft von Michael Schmaus, seinem Lehrer in Münster. Er bleibt Schmaus gegenüber jedoch bei aller Dankbarkeit etwas verhalten, vermutlich besonders auch wegen der Verwicklungen von Schmaus in den Nationalsozialismus. So musste Schmaus 1945/46 die Fakultät in Münster verlassen. Hermann Volk übernahm im Oktober 1945 die Vertretung und schließlich im Sommer 1946 eine Ordentliche Professur für Dogmatik an der Universität Münster.

Heute noch sind viele seiner damaligen Hörer von dem überzeugt-überzeugenden Stil von Volks großen Vorlesungen geprägt. Die aus dem Krieg heimkehrende Generation hat hier einen gefunden, der ihr Suchen verstand und zu erfüllen wusste. Hermann Volk fand großen Anklang als akademischer Lehrer. Auch der junge Hans Küng wollte sich bei ihm habilitieren. Volks Tätigkeit in Münster fand im Jahr 1954/55 einen gewissen Höhepunkt, als er Rektor der dortigen Universität war. Aber der überaus große Erfolg und die hohe Akzeptanz von Hermann Volk als akademischer Lehrer und darin schon damals Zeuge des Glaubens verdankte sich auch der beeindruckenden Menschlichkeit Hermann Volks. Er war ein Mensch mit Leib und Seele, kein verknöcherter Professor. Dabei zeigte sich immer wieder sein wacher Sinn für die Musik und alle anderen Formen der Kunst. Er hatte zeitlebens auch eine ausgesprochen schauspielerische Neigung. Nicht zufällig förderte er das Theater der Stadt Münster – unvergesslich seine theologische Einführung in Paul Claudels „Der seidene Schuh" – und war bis zu seinem Tod eng befreundet z.B. mit August Everding, aber auch mit großen Schauspielern, die damals in Münster spielten, z.B. Gustav Gründgens. Es war auch später unverkennbar, dass der Bischof Hermann Volk bis in die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes hinein viel von der Gebärde und Geste, der Mimik und dem dramatischen Spiel des Theaters einbrachte. Wir sehen und hören ihn noch predigen im Mainzer Dom, wie er z.B. in der Festpredigt beim 1000-Jahre-Domjubiläum mit dem Bischofsstab deutlich an die Mauern klopft und fragt: „Feiern wir bloß uralte Steine...?" und dannschließlich den Saum seines Talars und seiner Albe weit hochzieht: „Oder sind wir Leute mit komischen Kleidern...?". – „Wenn ich nicht Priester geworden wäre, könnte ich Schauspieler sein", soll er in seiner Münsteraner Zeit gesagt haben. Vor allem aber hat er im Bereich der Kunst wie auch sonst immer wieder das Gespräch mit den Menschen der Gegenwart gesucht. In diesem Dialog hat er den unverkürzten Glauben der Kirche zur Sprache zu bringen versucht und zugleich seinen Partner und dessen Denken ganz ernst genommen. Dies verband wiederum den Theologen und den Wissenschaftler.

Nach dem Tod von Bischof Albert Stohr – auch er Dogmatiker und sehr aufgeschlossen für die Erneuerung der Liturgie – wurde Hermann Volk am 3. März 1962 vom Domkapitel zu seinem Nachfolger und zum 86. Nachfolger des hl. Bonifatius gewählt. Der Abschied von der Aufgabe eines theologischen Lehrers fiel ihm nicht leicht. Seine Abschiedsvorlesung „Theologie des Wortes Gottes" zeugte nicht nur davon, wie sehr die Zuwendung zum Wort Gottes in der Heiligen Schrift die Achse seiner Theologie war, sondern gab auch einen wichtigen Vorblick des künftigen Konzilsvaters Hermann Volk auf das bald beginnende Zweite Vatikanische Konzil. Denn dort konnte Hermann Volk, zumal auch im Gespräch mit den evangelischen Theologen, diese Gedanken fruchtbar und wirksam ins Spiel bringen. Dies gilt besonders für die immer noch unterschätzte Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei verbum".

Der Weg dorthin erfolgt rasch. Papst Johannes XXIII. ernennt Hermann Volk am 25.3.1962, dem Fest der Verkündigung Mariens, zum Bischof von Mainz. Er wird am 5. Juni, dem Fest des heiligen Bonifatius, im Dom zu Mainz durch den Freiburger Metropoliten, Erzbischof Hermann Schäufele, konsekriert und übernimmt die Leitung des Bistums. Am 8. Oktober reist der neue Bischof von Mainz zum Konzil. Am 11. Oktober wird unter Teilnahme von mehr als 2500 Vätern das Konzil feierlich eröffnet. Mit Hermann Volk ist auch sein langjähriger akademischer Weggefährte Joseph Höffner zum Bischof von Münster (1962 – 1969) und später zum Erzbischof von Köln (1969 – 1987) berufen worden. Im Drei-Päpste-Jahr 1978 nehmen sie zusammen als Kardinäle an beiden Papstwahlen dieses Jahres teil.

 

II.

Gerade das Zweite Vatikanische Konzil hat herausgestellt, dass jeder Bischof Mitverantwortung trägt über seine Diözese hinaus. Jedes Bistum ist auch über das Kollegium der Bischöfe und den Papst mit der ganzen Kirche verbunden. Insofern gibt es im Bischofsamt viel stärker eine weltkirchliche Mitverantwortung und auch eine missionarische Dimension. Dies sind Aspekte, die Hermann Volk während des Zweiten Vatikanischen Konzils sehr konkret erfährt, und die auch künftig wichtige Elemente in seiner eigenen Führung des Bischofsamtes darstellen werden. Dies gilt für die weltkirchliche Ebene, vor allem nach der Berufung in das Kardinalskollegium im Jahr 1973, aber auch für den Bereich der Deutschen Bischofskonferenz.

Deshalb ist ein kurzer Blick nötig, um sich die Mitarbeit von Hermann Volk in den Gremien und Organen der Deutschen Bischofskonferenz zu vergegenwärtigen. Von Anfang an ist er über zwanzig Jahre, nämlich von August 1962 bis September 1982, Mitglied der Glaubenskommission, neun Jahre davon (1969 – 1978) ist er ihr Vorsitzender. Von September 1964 bis März 1976 ist er Mitglied der Liturgiekommission, von 1964 – 1969 ihr Vorsitzender. Von Anfang an ist er übrigens auch Mitglied der Ökumene-Kommission (ab August 1962 bis zu seinem Ausscheiden aus der Bischofskonferenz). Schließlich ist er von März 1968 bis Mai 1976 Mitglied der Kommission für Wissenschaft und Kultur. Er nimmt auch teil an einer Reihe von regelmäßig stattfindenden Zusammenkünften, so z.B. im Kontaktgesprächskreis, einer zweimal jährlich stattfindenden Begegnung zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Diese Einrichtung gibt es bis heute. Dazu kommen noch viele zeitlich beschränktere, aber doch langfristige Aufgaben, denen sich Hermann Volk nicht verweigerte, so z.B. die Gemeinsame Ökumenische Kommission zur Überprüfung der Lehrverwerfungen des 16. Jahrhunderts (1980 – 1985), in Mainz nach dem Papstbesuch im November 1980 beschlossen. Großen Anteil hat der Bischof von Mainz auch am Zustandekommen des Katholischen Erwachsenen-Katechismus, beide abgeschlossen unter der maßgebenden Mitarbeit und Verantwortung von Friedrich Kardinal Wetter.

Dies ist gewiss nur ein beschränkter Ausschnitt aus einem sehr intensiven Einsatz für die Erneuerung der Kirche in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Man denke hier auch an die intensive Mitarbeit von Bischof Volk in den nachkonziliaren römischen Kongregationen, z.B. bei der Erneuerung der Liturgie. Bischof Hermann Volk stand von Anfang seines Amtes vor allem im weiten Horizont der Weltkirche, wie sie in einem Konzil versammelt ist. Da ein allgemeines Konzil der Kirche nur äußerst selten erfolgt, ist es auch für einen Bischof von einem unvergleichlichen Erlebnis- und Erfahrungswert. Es wäre vermessen, den Anteil von Bischof Volk an der theologischen Arbeit des Konzils in Kürze würdigen zu wollen. Im Blick auf die Kirchenkonstitution „Lumen gentium" hat Günther Wassilowsky bereits viele einzelne Elemente zusammengetragen. Die systematische Nutzung des Nachlasses steht jedoch aus. Volks theologischer Berater, Pater Otto Semmelroth, hat früher schon die Bedeutung der Mitarbeit für die Kirchenkonstitution aufgezeigt. Kardinal Willebrands schreibt anlässlich der Verabschiedung Kardinal Volks als Mainzer Bischof am 27. Dezember 1982: „Im Rückblick auf die Konzilsdokumente zeigt sich, welche weittragenden Früchte Ihre damalige Arbeit getragen hat. Nahezu alle zentralen Gedanken und Vorschläge haben nachprüfbaren Einfluss gehabt, namentlich auf die Konstitutionen ‚über die göttliche Offenbarung‘, ‚über die heilige Liturgie’ und ‚über die Kirche‘".

Es ist darum mehr als verständlich, dass Papst Paul VI. den Mainzer Bischof am 5.3.1973 durch seine Ernennung zum Kardinal in seiner Bedeutung für die ganze Kirche, besonders hinsichtlich des Zweiten Vatikanischen Konzils, ausgezeichnet hat. Dabei muss auch der Paderborner Erzbischof Lorenz Kardinal Jaeger genannt werden, weil beide hohe Verdienste für die ökumenischen Aussagen und für das Zustandekommen des heutigen Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen haben, und ihre Kardinalsernennung gewiss auch in diesem Zusammenhang zu sehen ist. In dieser Eigenschaft hat Kardinal Volk im schicksalsreichen Jahr 1978 zweimal bei der Wahl eines neuen Papstes mitgewirkt, nämlich der von Johannes Paul I., der vorher einmal Mainz besucht hatte, und der von Johannes Paul II., der wenige Wochen vor seiner Wahl zum zweiten Mal in Mainz weilte. Papst Johannes Paul II. hat Kardinal Volk immer wieder gewürdigt. Immer wieder hat er mir selbst gegenüber Kardinal Volk als „großen Freund" bezeichnet.

Als Kardinal Volk nach einem kurzen schweren Krebsleiden am 1. Juli 1988 verstarb, war Papst Johannes Paul II. wenige Tage vorher zu einem Pastoralbesuch in Österreich. Der Papst hatte mir am Sonntag, 26.Juni, Grüße und Segenswünsche an Kardinal Volk übermittelt, dem es immer schlechter ging. Ich hatte Sorge, ihn noch lebend anzutreffen, konnte aber am Dienstag, 28.Juni, die Grüße des Papstes noch persönlich überbringen. Man spürte die innere Beteiligung des Papstes an der Krankheit des Mainzer Bischofs. Der Papst war nach dem Gottesdienst am Sonntagmorgen in Salzburg auch deshalb innerlich aufgewühlt, weil an diesem Morgen der neu ernannte Kardinal Hans Urs von Balthasar plötzlich verstarb, der sich eben nach Rom zum Konsistorium aufmachen wollte. Am Tag des Todes von Kardinal Volk wurde Hans Urs von Balthasar in Luzern beerdigt. Beide waren über Jahrzehnte eng befreundet.

Das Leben und Wirken von Bischof Hermann Volk ist eng verbunden mit der Ökumene. Obgleich er aus einer ganz katholischen Umgebung kam, gehört das ökumenische Engagement, wie oben schon im Blick auf die Theologie dargelegt wurde, zu den großen Kräften und Aufgaben in seiner gesamten Lebenszeit. Die getrennten Kirchen hat er dann auf seine Weise in der oberhessischen Diaspora, vor allem in Nidda, kennengelernt. Als er 1945/46 als Professor nach Münster ging, gehörte er zu den ersten Mitgliedern des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen. Über eine lange Zeit blieb er von katholischer Seite aus wissenschaftlicher Leiter in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Edmund Schlink, der die evangelische Seite in der wissenschaftlichen Leitung vertrat. Es war geradezu providenziell, dass man sich von 1946 an, als Deutschland noch in Trümmern lag, über 15 Jahre hindurch jedes Jahr fast eine Woche im Jaeger-Stählin-Kreis, wie man auch sagte, genauer kennenlernen konnte. Denn diese anfangs ohne jede Öffentlichkeit stattfindende wissenschaftliche Arbeit und die menschlichen Begegnungen waren eine hervorragende Voraussetzung für die Zusammenarbeit zwischen den katholischen Konzilsteilnehmern und den evangelischen Konzilsbeobachtern. Aus Deutschland ist hier an erster Stelle Edmund Schlink zu nennen. Insofern hat die ökumenische Arbeit in Deutschland noch reiche Früchte getragen für das Zweite Vatikanische Konzil. Der weitere Fortgang dieser Arbeit braucht hier nicht beschrieben zu werden. Kardinal Volk ist nach dem Ausscheiden von Kardinal Jaeger von 1975 bis 1988 Vorsitzender dieses Arbeitskreises von katholischer Seite aus gewesen. Ich selbst bin 1974 als wissenschaftlicher Leiter und 1988 auch als Vorsitzender nachgerückt.

Einen wichtigen Part hatte Kardinal Vok auch bei der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland von 1971 bis 1975 in Würzburg. Er war Mitglied der Sachkommission I „Glaubenssituation und Verkündigung", der entsprechenden Kommission zur Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Ich selbst war bis Februar 1973 Vorsitzender dieser Synodenkommission. Kardinal Volk hat sich besonders in die Diskussionen um das Grundsatzdokument „Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit", aber auch diejenigen von „Die Beteiligung der Laien an der Verkündigung" und ganz besonders um den zum Teil schwer umkämpften Text „Christlich gelebte Ehe und Familie" eingeschaltet. Selbstverständlich tat er das auch im Blick auf andere Dokumente, wie etwa „Gottesdienst" und „Pastorale Zusammenarbeit der Kirchen im Dienst an der christlichen Einheit". Auch in dieser Hinsicht ist vieles noch ein weißer Fleck auf der Landkarte der Erforschung seines Wirkens. Die vielen Wortmeldungen und „Modi" von Kardinal Volk, die ja verhältnismäßig leicht zugänglich sind, bedürfen noch der Auswertung. Zweifellos hatte Kardinal Volk großen Anteil an der klugen - nämlich zugleich entschiedenen und doch flexiblen - Haltung und Führung der Deutschen Bischofskonferenz in und gegenüber der Synode. Es waren für den Kardinal schwierige Jahre, da er zum Teil unter zunehmenden gesundheitlichen Beschwerden litt. Die Nerven lagen bei verschiedenen Wortmeldungen, besonders wenn sie unglücklich-aggressiv oder theologisch unzureichend formuliert waren, blank. Es fiel ihm schwer, mit einer unmittelbaren Reaktion angesichts einer oft langen Liste von bereits angemeldeten Wortmeldungen warten zu müssen. Am liebsten hätte er die eine oder andere Äußerung lieber rasch in der Luft zerrissen. Es fiel ihm angesichts der gesundheitlichen Belastung schwer, länger zu warten. Der aufgestaute Ärger hat sich dann freilich nicht selten beinahe explosiv entladen. Ich erinnere mich an manche Episode, die vermutlich nirgends niedergeschrieben ist.

Hermann Volk war durch seine Herkunft und seine Begabung, seine theologische Ausrichtung und seine seelsorgliche Sensibilität ein Mann, dem sehr am unmittelbaren Gespräch lag. Besonders bei Konflikten – ich denke hier an die Auseinandersetzungen mit Hans Küng – suchte er das gezielte Gespräch zur Klärung. Ein solches Vorgehen entsprach ganz seiner Art. Aber dies hat ihn nicht dazu verführt, sich in Glaubensfragen anzupassen. Bei aller Offenheit war er ein entschiedener und entschlossener Kämpfer, wenn es um die Wahrheit und Zuverlässigkeit des Glaubens ging. Dabei kam es ihm stets auf die Sache an. Es hat ihm auch nicht genügt, fragwürdige Lehranschauungen zurückzuweisen, denn er wusste, dass die positive Vertiefung der christlichen Lehre unvergleichlich entscheidender ist. Darum lag ihm an solchen Hilfen, die eine größere Einsicht in den Glauben der Kirche ermöglichten. Bewahren gelingt nicht ohne Erneuerung. Wo aber Widerspruch eingelegt werden musste, um die bleibende Mitte des Evangeliums zu markieren, litt Hermann Volk zwar an unversöhnlichen Konfliktsituationen, aber der Kardinal war von Anfang an auch ein unerschrockener, entschiedener und klarer Anwalt des Glaubens der Kirche. Er hat auch als Bischof nie das Gespür verloren, wo Türen offen bleiben müssen für das weitere theologische Forschen. Gelegentlich deutete der eine oder andere diese kluge Umsicht und das feine Unterscheidungsvermögen als Schwäche. Wenn jedoch in unserer Kirche seit dem Konzil – bei allen Schwierigkeiten – eine im Ganzen sachliche und versöhnliche Atmosphäre zwischen Theologie und Lehramt entstanden ist, so kommt das Verdienst hierfür in besonderer Weise Hermann Volk zu. Nie handelte er, gerade bei Provokationen, leichtfertig. Er litt nicht selten unter der Last und Tragweite von Entscheidungen. In ungewöhnlicher Kollegialität ließ er sich von seinen Amtsbrüdern, aber auch von wissenschaftlichen Theologen aller Disziplinen, beraten. In diesem Sinne war er immer ein partnerschaftlich und dialogisch eingestellter Bischof, der freilich die eigene Verantwortung nicht scheute. Aber ich habe nie erlebt, dass er sich auf eine Position reiner Autorität zurückgezogen hätte. Kerzengerade strebte er immer nur nach Einsicht in die Sache. Dadurch hatte sich Kardinal Volk indirekt die größtmögliche Autorität erworben. Er musste auf keine zusätzliche pochen.

Diese grundsätzliche Einstellung bereitete Hermann Volk manchmal schwere innere Konflikte. Er hat es sich nie leicht gemacht, wenn es um die Verantwortung des Glaubens ging. Ich möchte nur drei Beispiele nennen, die ich selbst in unmittelbarer Nähe erfahren durfte, einmal die Auseinandersetzungen um Hans Küngs „Unfehlbar?" und „Christ sein", dann der schwierige Auftrag, nach den mitteleuropäischen Pastoralsynoden gemeinsam ein Votum zur Geschiedenenpastoral auszuarbeiten (Kardinal Volk war Vorsitzender der Arbeitsgruppe), und die Entscheidungen bei den internen Abstimmungen zu den schon genannten Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts. Manches hat den Kardinal ziemlich gequält. Dabei kamen auch die unterschiedlichen Temperamente an den Tag und wirkten sich sehr verschieden aus. So gab es bei aller herzlichen Freundschaft auch spannungsvolle Elemente zwischen Kardinal Volk und Kardinal Döpfner, gerade wenn es um solche Fragen ging.

 

III.

Dieser kurze Überblick zeigt, wie tief der Kardinal in der Auffassung seines bischöflichen Leitungsamtes von den eingangs genannten Voraussetzungen seiner Herkunft und seiner Persönlichkeit bestimmt war. Hinzu kam die Erfahrung der besonderen Verantwortung des Bischofs während des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dies hat Bischof Volk von Anfang an nachhaltig geprägt.

Dies kommt schon eindrucksvoll zum Ausdruck in seinem ersten Hirtenbrief anlässlich seiner Bischofsweihe. Er betont, wie gerne er in Münster an der Universität Theologie lehrte, und dass er diese Aufgabe nur ungern aufgibt. Aber er kommt auch gerne nach Mainz zurück: „Hier ist meine Heimat, hier liegen meine Wurzeln; der verewigte Bischof Albert ist als Professor im Seminar noch mein Lehrer gewesen, und mit vielen Geistlichen des Bistum verbinden mich herzlich die Jahre des gemeinsamen Studiums. Danach war ich in Alzey, Mainz und Nidda 13 Jahre in der Seelsorge tätig, und gern erinnere ich mich an diese Zeit." Er hat die feste Überzeugung, dass die Kirche, gerade auch im Bischof, ein kräftiges Amt zur Orientierung und Leitung braucht. Aber er verbindet dies mit nicht weniger wichtigen Elementen. Auch der Bischof begreift sich vom gemeinsamen Christsein her, ohne das Amt daraus abzuleiten. Er verselbstständigt sein Amtsverständnis nicht. Er weiß um den Dienst, den er bringen soll. „Der Bischof ist daher seinen Gläubigen, die Gläubigen sind ihrem Bischof innerlich durch das Christsein selbst zugeordnet. Beide gehören zusammen wie Hirt und Herde... Die geistliche Gewalt dient nicht so sehr dem, dem sie zuteil geworden ist, als vielmehr denen, welchen das geistliche Amt als Dienst gilt, welche das geistliche Amt beanspruchen. Daher kann auch der Träger geistlicher Vollmacht damit nur anderen, nicht sich selbst helfen; er ist darin, worin er anderen dient, selbst auf die Dienste anderer angewiesen. Das geistliche Amt verselbstständigt also seine Träger nicht... Darum ist der Träger geistlichen Amtes kein Herr über andere." Immer wieder betont er: „Wie jeder Geistliche steht der Bischof, selbst ein Gläubiger, auch unter den Gläubigen. Mit diesen ist er in Glaube, Hoffnung und Liebe auf die gleiche Weise beansprucht, mit diesen steht er vor dem Angesicht des Herrn, seine Barmherzigkeit und Gnade erhoffend." Man kann die Kirche also nicht nur unter dem Bild der Herde und des Hirten beschreiben, sondern braucht ergänzend die Perspektive des Gottesvolkes: „Dieselbe Kirche ist auch das Volk Gottes, welches in allen Gliedern Christus in gleicher Weise als seinen Herrn hat." So werden die Amtsträger „durch den Glauben der Gläubigen auch selbst in ihrem Glauben gestärkt und ermuntert". Der Kardinal hat zeitlebens diese Einstellung bewahrt. Deshalb war ihm auch jeder Klerikalismus fern und zuwider. Von dem Vorrang der Botschaft selbst her glaubte er auch an die geschichtsüberlegene Macht des Glaubens: „Allein, im Unterschied zu den Ideen der Menschen, die sich meist verbrauchen, veraltet der Glaube nicht. Denn er stützt sich auf den ewigen Gott und seinen Gesalbten, Christus Jesus... Gott muss nicht anders werden, um nicht zu veralten. Gott bleibt derselbe und ist doch immer jünger als wir selbst... Darum ist der Glaube allen Zeiten gemäß... ‚das Wort unseres Herrn währt in Ewigkeit‘".

Wenn man nach den äußeren Schwerpunkten des Wirkens von Kardinal Volk fragt, dann muss man zuerst die Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils nennen, vor allem die Reform der Liturgie und den Aufbau der verschiedenen Räte, durch die die Mitverantwortung der Laien gewährleistet wird. Wenn ich drei andere Akzente in dieser Amtszeit herausgreife, dann ist es der dritte „Deutsche Liturgische Kongress" im Jahre 1964 in Mainz mit seiner großen Ausstrahlung für die Erneuerung der Liturgie, das 1000-jährige Domjubiläum im Jahre 1975 und – gewissermaßen als Höhepunkt – der Besuch von Papst Johannes Paul II. im November 1980. Dabei muss ich vieles beiseite lassen, was durchaus Erwähnung finden sollte: Der weitere Ausbau katholischer Schulen, karitative Einrichtungen und nicht zuletzt der Gemeindeaufbau in den Diasporagebieten des Bistums, besonders notwendig durch den Zustrom vieler Heimatvertriebener in Oberhessen. Gab es 1945 221 Gemeinden, so stieg ihre Zahl bis auf ca. 350 Seelsorgestellen.

Wenigstens kurz genannt werden muss die Errichtung der Pfarrgemeinderäte. Die diözesanen Räte, z.B. der Pastoral- und Kirchensteuerrat, wurden zu wichtigen Gremien bei der Weitergabe des Glaubens. Für die Seelsorge entscheidend war auch der frühe Einsatz von Ständigen Diakonen, Gemeindereferent/-innen und Pastoralreferent/-innen. Das Bistum hat schon sehr früh die neuen pastoralen Berufe gefördert, was uns aus finanziellen Gründen dazu zwang, später mit Einstellungen vergleichsweise zurückhaltender zu werden.

Noch wichtiger aber ist der innere Schwerpunkt dieses mehr als zwanzigjährigen apostolischen Wirkens. Kardinal Volk hat die erste Aufgabe des Bischofs in vorbildlicher Weise wahrgenommen, nämlich Verkünder des Evangeliums Jesu Christi zu sein. Überall hin in das ganze Bistum hinein hat er das Wort Gottes getragen und den vielen einzelnen Menschen und dem ganzen Bistum Orientierungen aus dem Glauben für das Leben geschenkt. Es kam ihm immer darauf an, das christliche Leben geistlich zu vertiefen und zu intensivieren. Alle zentrifugalen Kräfte, alle partikulären Interessen und alle spezialisierten Dienste hat Bischof Volk immr wieder auf das Eine Notwendige hin versammelt. Er hat den Mut gehabt, die Kirche durch das wirkmächtige Wort Gottes, zu dem auch das Sakrament gehört, zu führen. „Zeugnis-Geben" wurde mit Recht zu einem Schlüsselwort in der Sprache und Verkündigung des Bischofs von Mainz. Kardinal Volk hat – nicht zuletzt im Blick auf die Erneuerung der Gestalt des Gottesdienstes und der Sakramente – die theologischen und spirituellen Grundlagen jeder Reform sichtbar gemacht und vertieft. Nicht zuletzt darin ist es begründet, wenn im Bistum Mainz keine so harten Extreme entstanden sind, wie etwa anderswo. Was er sagte, war immer auch von seiner eigenen gläubigen Erfahrung geprägt. Dies hat ihm eine besonders hohe Glaubwürdigkeit eingebracht.

Im Rückblick auf die Erfüllung dieser Aufgaben darf man heute im Zusammenhang des hundertsten Geburtstages erst recht sagen, dass Hermann Kardinal Volk eine besonders reine Gestalt des Bischofs in der Einheit seines spirituellen, theologischen und pastoralen Auftrags darstellt. Für das Maß, das er hiermit gesetzt hat, gebührt ihm – weit über unsere eigene Zeit hinaus – der Dank aller.

(c) Karl Kardinal Lehmann

I.

Die Heiligsprechung des Opus Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer am Sonntag, 6. Oktober 2002, ist Anlass, um sich mit seiner spirituellen und kirchlichen Gestalt näher zu befassen. Dies ist bei jedem neuen Seligen und Heiligen notwendig. Im vorliegenden Fall ist es jedoch ganz besonders wichtig. Dies ergibt sich nicht so sehr aus dem Grund, dass der im spanischen Kulturkreis gebürtige und davon bestimmte Prälat schon mehr als 27 Jahre tot ist, sondern ein Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass seine Gestalt auch als Seliger und Heiliger von vornherein überdurchschnittlich geprägt ist durch das Vorverständnis, das jemand zu dem von ihm gegründeten Werk, dem Opus Dei, mitbringt. Obwohl die Auseinander-setzung darüber nachgelassen hat, gibt es bis in die jüngste Zeit hinein sehr dezidierte Darstellungen und auch heftige Diskussionen (Vgl. z.B. P. Hertel, Schleichende Übernahme. Josemaría Escrivá, Sein Opus Dei und die Macht im Vatikan, Oberursel 2002 (Publik forum); ders., „Ich verspreche euch den Himmel", Düsseldorf ²1980; K. Steigleder, Das Opus Dei, Zürich (4. Auflage) 1991; Paulus-Akademie (Hg.), Opus Dei – Stoßtrupp Gottes oder „Heilige Mafia"?, Zürich 1992.).

Diese haben auch vor der Heiligsprechung nicht Halt gemacht. Um so notwendiger scheint es mir zu sein, nun einmal sine ira et studio auf die spirituelle Gestalt des Opus Dei-Gründers zurückzukommen.

Die Stoßrichtung der Kritik wird leicht erkennbar aus dem Klappen-Text des Buches von P. Hertel „Schleichende Übernahme". Dort heißt es, gewiss auch in der Intention der Werbung: „Unglaublich, was immer noch geschehen kann: Die Heiligsprechung von Josemaría Esrivá, Gründer des Opus Dei. Eine Absicht seines Geheimbundes ist es, die Macht in der römisch-katholischen Kirche zu erobern. Das unverschmutzte Opus Dei solle als Werk Gottes die nach dem letzten Konzil verschmutzte Kirche reinigen und zur Tradition zurückführen. Weil der Papst nicht nur vom Hl. Geist inspiriert sei, müsse Opus Dei auch diese Lücke füllen. – Peter Hertel... deckt auf, mit welchen Mitteln die straff organisierte Formation sich in den Kommandozentralen festsetzt. Der Machtzuwachs des Geheimbundes ist rasant, der Verwaltungsapparat des Papstes durchsetzt, die Wahl des nächsten Papstes vom Opus Dei ‚gut‘ vorbereitet. Die aufgedeckten Regelverstöße auf dem kirchlich vorgeschriebenen Weg der Heiligsprechung zeigen auf, mit welchen Finessen Opus Dei arbeitet."

Es wird nicht leicht sein, sich ein in jeder Hinsicht ungeschminktes, möglichst vorurteilsfreies Bild zu machen von einem Heiligen, der wie alle anderen Menschen auch schließlich ein Anrecht hat auf die Wahrung des guten Rufes und die Vermeidung von Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen. Ich sehe in der möglichst unbefangenen Darstellung des Lebens und Wirkens, vor allem auch der spirituellen Gestalt Escrivás die einzige Möglichkeit, durch diese Vorurteile und Verzerrungen hindurch zur authentischen Gestalt durchzustoßen. Dies soll in diesem Beitrag versucht werden. Man kann auf die Dauer das spirituelle Profil – die kleine Schrift „Camino" ist in über 40 Sprachen übersetzt und in über vier Millionen Exemplaren verbreitet – nicht einfach übergehen.

II.

Als Voraussetzung zur Erfassung der spirituellen Gestalt mag es gut sein, zuerst die wichtigsten Daten der Biographie von Josemaría Escrivá zu erwähnen. Er hat in der Zeit von 1902 bis zu seinem Tod 1975 eine für Europa und besonders für Spanien schwierige Zeit durchlebt, mit zwei Weltkriegen und dem Spanischen Bürgerkrieg der Jahre 1936 bis 1939. Er ist am 9. Januar 1902 in Barbastro in der spanischen Provinz Aragón als zweites Kind von José Escrivá y Corzán und Maria Dolores Albás Blanc geboren worden. Die Schwester Carmen war um drei Jahre älter. Der Vater besaß einen Tuchladen und eine kleine Schoko-ladenfabrik. Mit zwei Jahren war der Junge so schwer erkrankt, dass die Ärzte ihn bereits aufgegeben hatten. Die Eltern gelobten im Fall seiner Genesung eine Wallfahrt zu dem altehrwürdigen Gnadenbild von Torreciudad. In der Tat wurde das Kind ganz plötzlich und überraschend gesund. Zwischen 1910 und 1915 sterben die drei nach ihm geborenen Schwestern Rosario, Mariá Dolores und Chou im Alter zwischen 9 Monaten und 8 Jahren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beginnt er das Gymnasium an einer von Piaristen geleiteten Schule in Barbastro (1912-1915). Zwischen 1915 und 1917 macht der väterliche Betrieb Bankrott. Die Familie zieht weg und übersiedelt nach Logroño.

Um den Jahreswechsel 1917/18 hatte der Fünfzehnjährige ein Erlebnis, das sein Leben entscheidend prägen sollte. Er entdeckt im Schnee die Fußspuren eines Unbeschuhten Karmeliten. Sie wecken in ihm den Wunsch nach einer großherzigen Bereitschaft für Gott.

Es ist das erste Ahnen einer Berufung. Er entschließt sich, Priester zu werden. Er beginnt im Jahr 1918 das Theologiestudium als Externer im Priesterseminar in Logroño. Der Wunsch wurde immer lebendiger, das Leben auf irgendeine Weise großzügig für Gott einzusetzen. Aber er wusste noch nicht, wohin ihn dieser Ruf führen könnte. 1919 wird der sehnlich von ihm selbst erwartete Bruder Santiago geboren. Dieser sollte, wenn Josemaría Priester wird, seinen nun leeren Platz für die Familie ersetzen.

Nach Abschluss der Studiengänge in humanistischer Kultur und Philosophie wechselt er von 1920 bis 1927 zur Fortsetzung des Theologiestudiums an die Päpstliche Universität von Saragossa. Der Weg zum Priestertum und besonders zum Diözesanpriester war nicht selbstverständlich. Lange hatte er überlegt, ob er nicht in den Karmel eintreten sollte. Einige Zeit zog es ihn jedoch zur Architektur hin. Er achtete das Priestertum. „Zu Hause hatte ich gelernt, dass Priestertum zu achten und zu ehren. Aber das war nichts für mich, das war etwas für andere!" (D. M. Helming, Fußspuren im Schnee. Josemaría Escrivá. Gründer des Opus Dei, St. Ottilien 1991, 13.) Deshalb war auch sein Vater ziemlich überrascht und erstaunt. „Eines guten Tages sagte ich meinem Vater, dass ich Priester werden wollte. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Er hatte zwar andere Pläne für mich, widersetze sich aber nicht. Er sagte nur: Mein Sohn, überlege dir das gut. Die Priester müssen heilig sein. Es ist sehr hart, kein Zuhause und keine irdische Liebe zu haben. Denke noch einmal darüber nach. Aber ich werde mich nicht widersetzen." ( Ebd., 13f.)

Josemaría war ein hervorragender Student der Theologie. Er wuchs auch in seinem inneren Leben. Täglich besuchte er das Gnadenbild der Mutter Gottes vom Pilar. Viele Nächte verbrachte er still für sich auf einem Balkon mit Sicht auf das Allerheiligste in der Seminar-Kirche. Er fastete oft, schlief auf dem Fußboden und verrichtete andere Werke der Buße, um sich Gott auch im Blick auf seinen Leib ganz verfügbar zu halten.

Wenige Monate vor der Priesterweihe starb plötzlich sein Vater am 17. November 1924. Der beispielhafte Einsatz des Vaters für die Familie hat Escrivá tief geprägt. Die Eltern erzogen den Sohn in großer Freiheit. Er wird später einmal sagen, dass er seinem Vater die Berufung verdankt und dass er jeden Morgen und jeden Abend die Gebete spricht, die er von seiner Mutter gelernt hat. Kaum übertreffbare Worte findet er über die Mütter, die „wirklich heroisch sind, auch wenn sie niemals spektakulär in Erscheinung treten. Sie machen keine Schlagzeilen – wie man so sagt –, aber sie opfern sich immer wieder auf, sie stellen freudig ihre Wünsche und Neigungen zurück, sie verschenken ihre Zeit oder verzichten auf Selbstbehauptung und auf mögliche Erfolge, damit ihre Kinder glücklich sind." ( Ebd., 15.)

III.

Am 28. März 1925 wurde Josemaría zum Priester geweiht und feierte zwei Tage später in der Mutter Gottes-Kapelle der Kathedrale in Saragossa seine Primiz. In dem kleinen Dorf Perdiguera auf dem Lande übernahm er die Vertretung des erkrankten Pfarrers. Er lernte das harte, schwere Leben der kleinen Leute, aber auch des Landpfarrers kennen. Wie in Spanien oft üblich, holte er seine Familie, nämlich Mutter, Schwester und Bruder, nach Saragossa. Sie sollten ihn aber selten sehen. Denn im Jahr 1923 hatte er bereits ein Zusatzstudium der Rechtswissenschaften an der staatlichen Universität von Saragossa begonnen. Im Januar 1927 macht er dort das juristische Abschlussexamen und übersiedelt bald danach nach Madrid, um seine Studien mit dem Doktorrat im Zivilrecht abzuschließen, was dann erst 1939 gelingt. Er hatte dieses Studium mit Billigung seines Vaters im Jahr 1923 begonnen. Der Vater sah darin wohl so etwas wie eine zusätzliche Sicherheit. In Saragossa arbeitet er auch in der Krankenseelsorge. Gleichzeitig hat er eine Dozentur für Römisches Recht und für Kirchenrecht an einer Akademie inne. Außerdem gibt er Privatstunden, um seine Familie unterstützen zu können. Schließlich kümmerte er sich mit einigen Mitstudenten, wie schon in Saragossa, so auch jetzt in Madrid um sozial Schwache und Schwerkranke. Den Waisen- und Straßenkindern erteilte er Katechismus- und Erstkommunionunterricht. Zugleich ist er Seelsorger für die Lehrenden und Lernenden der Hochschule. Josemaría war ein gebildeter, gewandter und trotz seiner durchlöcherten Schuhe ziemlich eleganter junger Mann. Seine Studenten konnten kaum glauben, dass er sich mit dem „Proletariat" abgab. Sie haben ihm nachspioniert – er ging tatsächlich zu den Randsiedlern.

Im Grunde wartete Josemaría jedoch immer noch auf einen Wink des Herrn, um Klarheit über seine Berufung zu finden. Dies sollte sich bald ändern. Am Schutzengelfest (2.10.) des Jahres 1928 beschäftigt er sich während einiger Besinnungstage nochmals mit seinen geistlichen Notizen aus den letzten zehn Jahren. Wie er selbst berichtete, „sah" er dabei plötzlich in seiner vollen Gestalt das, was später „Opus Dei" heißen sollte. Er bleibt später mit Informationen über dieses Ereignis ziemlich zurückhaltend, aber es ist kein Zweifel, dass der 26jährige Priester hier die geistliche Geburt der von ihm gegründeten Gemeinschaft erfahren durfte.

Es ist auch zugleich der „Kern" dieser Botschaft erkennbar: Menschen aus allen Berufen und sozialen Situationen sollen inmitten ihres alltäglichen Tuns nach der Fülle des christlichen Lebens streben. Er sollte diesen Laien den göttlichen Ruf bewusster machen und Wege der Heiligung in der beruflichen Arbeit und in der Erfüllung der gewöhnlichen Aufgaben der Christen weisen. Hier liegt auch das Zentrum seiner Botschaft, die er im Jahr 1966 in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen formulierte: „Der Geist des Opus Dei greift die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun. Alle Menschen ohne Ausnahme ruft Christus auf, vollkommen zu sein wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Heiligwerden bedeutet für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, ihre eigene Arbeit zu heiligen, sich in dieser Arbeit selbst zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen, damit sie täglich auf dem Weg ihres Lebens Gott begegnen. – Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer stärkere Bewertung der Arbeit mit sich bringt, erleichtert offensichtlich den Menschen unserer Zeit das Verständnis für diesen Aspekt der christlichen Botschaft, den die Spiritualität des Opus Dei so sehr hervorhebt. Entscheidend aber ist das Wehen des Heiligen Geistes, der in seinem lebensspendenden Wirken unserer Zeit zum Zeugen einer tiefen Erneuerung im ganzen Christentum hat machen wollen. Liest man die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils, so erscheint als ein wichtiger Teil dieser Erneuerung gerade die neue Wertschätzung der gewöhnlichen Arbeit und der Würde der Berufung zu einem christlichen Leben und Arbeiten mitten in der Welt."( Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Köln 1969, 4. Auflage 1992, 84f. Die in diesem Band gesammelten Interviews aus den Jahren 1966-1968 geben einen ausgezeichneten Einblick in Leben und Werk von Josemaría Escrivá.)

IV.

Offensichtlich konnte der noch erstaunlich junge Priester diese Vision anderen von Anfang an mit äußerster Klarheit vor Augen führen. Sie war auch nicht an eine konkrete historische Situation gebunden, obgleich es immer um die Umsetzung der empfangenen Botschaft vor Ort und in der konkreten Zeit ging. Er war überzeugt, dass es dafür eigentlich nur zweier Mittel bedarf, nämlich das Kreuz und das Evangelium. Nun erfolgt rasch der Ausbau dessen, was er in der Vision gesehen hatte. Bereits im Jahr 1930 wird ihm deutlich, dass zum Opus Dei Frauen gehören sollten. Es wäre aufschlussreich, der Bedeutung und Stellung der Frau näher nachzugehen. Die ersten Berufungen kommen. Das erste Apostolische Werk, die Akademie DYA, wird in Madrid eröffnet. Die ersten wichtigen Schriften erscheinen im Jahr 1934: „Geistliche Betrachtungen" und „Der heilige Rosenkranz", das erste ein Vorläufer des Camino, der Rosenkranz erschien mit über 100 Auflagen in 20 Sprachen.

Während des Bürgerkrieges, der am 18. Juli 1936 ausbricht, bleibt Josemaría Escrivá unter Lebensgefahr in Madrid. Im September 1937 besorgt er sich über den Konsul von Honduras die nötigen Dokumente, um Spanien verlassen zu können. In einem Gewaltmarsch überquert er die Pyrenäen und trifft am 2. Dezember 1937 über Andorra in Frankreich ein. Während des Bürgerkriegs, der am 28. März 1939 endet, lebt er eine Weile in Burgos und nimmt zunächst von dort die Apostolische Arbeit wieder auf. Nach dem Krieg ist er wieder in Madrid. Ein wichtiger Einschnitt ist die Approbation des Opus Dei am 19. März 1941 als „Fromme Vereinigung" (pia unio). Bald darauf gründet er die „Priesterliche Gesellschaft vom Hl. Kreuz", die eng mit dem Opus Dei verbunden ist. Am 22. April stirbt unerwartet seine Mutter. Am 11. Oktober 1943 erhält das Opus Dei die erste Approbation vom Hl. Stuhl. 1944 werden die ersten aus den Opus Dei hervorgegangenen Priester geweiht, darunter auch der spätere Nachfolger von Josemaría Escrivá, der lange Zeit mit ihm zusammenarbeiten sollte: Don Alvaro Del Portillo. Alle drei Neupriester waren Ingenieure. Als 1947 die Säkularinstitute offiziell kirchlich gegründet werden (Vgl. dazu G. Pollak, Der Aufbruch der Säkularinstitute und ihr theologischer Ort, Vallendar 1986.), erhält auch das Opus Dei die Zulassung nach dieser neuen Form geistlichen Lebens. Der Gründer ist nicht glücklich über diese Form, aber sie ist das, was unter den gegebenen Möglichkeiten am ehesten seiner Vision entspricht.

Rasch erfolgt der weitere weltweite Ausbau der Gemeinschaft. Seit 1946 lebt Josemaría Escrivá als Generalpräsident des Opus Dei in Rom. Der Gründer wird öfter vom Papst Pius XII in Privataudienz empfangen. 1948 wird das „Collegium Romanum Sanctae Crucis" als Studienzentrum eröffnet, in dem Tausende aus allen Ländern der Welt ihre geistliche Bildung erhalten. Es ist vor allem für die Priester gedacht. Im Jahr 1950 gewährt Papst Pius XII. dem Opus Dei die endgültige Approbation. 1952 beginnt in Pamplona der Aufbau der Universität von Navarra, die dem Gründer bis ans Lebensende ganz besonders am Herzen liegt. Im Jahr 1953 wird das Bildungszentrum auch für die Frauen des Opus Dei eröffnet (Vgl. dazu Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 129-172.) In dieser Zeit dürfen auch Nicht-Katholiken und Nicht-Christen Mitarbeiter werden. Hatte er im Jahr 1939 das Doktorrat in den Rechtswissenschaften erhalten, so wird er im Jahr 1955 an der Päpstlichen Lateranuniversität das Doktorat in Theologie erhalten. 1960 empfängt der neue Papst, Johannes XXIII., den Generalpräsidenten in Audienz. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils wirkt vor allem Don Alvaro Del Portillo als Berater mit (Zum Opus Dei und zum Konzil, vgl. P. Berglar, Opus Dei, Salzburg 1983, 267-278.). Josemaría Escrivá begibt sich in dieser Zeit und danach als Pilger zu vielen europäischen Heiligtümern, übrigens auch nach Guadalupe in Mexiko.

Im Jahr 1975 begeht er in Rom sein Goldenes Priesterjubiläum. Ende Mai führt ihn seine letzte Reise nach Spanien. Wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Rom, am 26. Juni, stürzt er in seinem Arbeitszimmer zu Boden und stirbt. Jede Hilfe, die ihm noch zuteil wird, ist vergeblich. Anderthalb Stunden dauerte der Kampf um sein Leben. Sein Leichnam ruht in der Krypta der Kirche Maria vom Frieden im Zentralsitz der Prälatur in Rom.

V.

Bald nach seinem Tod entsteht eine große Wallfahrt zu seinem Grab. Es sind besonders viele junge Menschen. Die Pilger kommen aus allen Erdteilen. Bereits am 12. Mai 1981 wird der Seligsprechungsprozess eröffnet, der 1986 auf der Diözesanebene abgeschlossen und am 17. Mai 1992 durch die feierliche Seligsprechung zu Ende geführt wird.

Im Jahr 1982 gibt Papst Johannes Paul II. der Öffentlichkeit seine Entscheidung bekannt, das Opus Dei als Personalprälatur zu errichten. Mit der Apostolischen Konstitution „Ut sit" vom 28. November kommt die juristische Suche nach einer angemessenen kirchlichen Organisations-Gestalt des Opus Dei an ein Ende. Es ist die rechtliche Form, die Josemaría Escrivá immer gesucht und gewünscht hatte. Die Personalprälatur, angeregt durch das Dekret über Dienst und Leben der Priester des Zweiten Vatikanischen Konzils (PO 10), soll für Weltpriester eine eigene Möglichkeit der Inkardination schaffen, um deren mobilen und flexiblen Einsatz zu ermöglichen. Eine endgültige Regelung erfolgt einerseits im Motu proprio „Ecclesiae Sanctae" und anderseits im Rahmen des neuen Kirchenrechtes (vgl. cc. 294-297 CIC). Damit können auch im Jahr 1983 die Statuten der Prälatur vom Hl. Kreuz und Opus Dei erlassen werden. (Näheres dazu bei A. de Fuenmayor u.a., Die Prälatur Opus Dei. Zur Rechtsgeschichte eines Charismas. Darstellung, Dokumente, Statuten = Münsterischer Kommentar zum CIC, Beiheft 11, Essen 1994 (Übersetzung aus dem Spanischen, wo das Werk 1989 erschienen ist), 4. Auflage, Navarra 1990. In diesem Band sind auch alle wichtigen Dokumente abgedruckt: 513-679. Die Statuten wurden auch eigens herausgegeben: Rom 1982.)

Die Personalprälatur besteht aus Weltpriestern und ist geprägt durch ihren Zweck. Das Personalbistum ist eine Diözese, deren konstitutiver Teil des Gottesvolkes neben dem Territorium durch eine personale Kategorie umschrieben ist (vgl. can. 372 § 2 CIC). Die Personalprälatur ist ein eigenständiger, zweckgebundener, für die Weltgeistlichen bestimmter Inkardinationsverband, den es nur in der lateinischen Rituskirche gibt. Zur Personalprälatur gehören also die in ihm inkardinierten Priester, aber auch die der Prälatur eingegliederten Laien. Alle vereint eine einzige Berufung, ein Geist, ein Ziel, eine Leistung. Das Opus Dei ist bisher die einzige Einrichtung mit dieser Bezeichnung. Sie weicht in ihrer Struktur von der im CIC vorgezeichneten Gestalt ab. Die Diskussion über diese Form einer Gemeinschaft, die weder dem Ordensstand noch dem Säkularinstitut entspricht, geht weiter.

Die Seligsprechung hatte ein großes Echo. So wurde der Ruf nach einer Heiligsprechung immer lauter. In der Tat konnte Johannes Paul II. bald nach der Feier des 100. Geburtstages von Josemaría Escrivá am 6. Oktober 2002 unter großer Anteilnahme die Heiligsprechung vollziehen. (Zur Selig-sprechung vgl. den Bildband: Geh ein in die Freude deines Herrn. Seligsprechung von Josefmaria Escrivá, Gründer des Opus Dei, Köln 1992. )

Viele Veröffentlichungen des Gründers erschienen nach dem Tod und haben in vielen Sprachen sehr hohe Auflagen erreicht. Die wichtigsten Bücher sind: Der Weg (Köln 1983); Die Spur des Sämanns (Köln 1986); Im Feuer der Schmiede (Köln 1987); Christus begegnen (Köln 1981); Freunde Gottes (Köln 1980); Der Kreuzweg (Köln 1981); Der Rosenkranz (Köln 1976 u.ö.). Im Zusammenhang der Heiligsprechung begann auch das Erscheinen der bisher umfangreichsten, auf drei Bände berechneten Biographie von Andrés Vásquez de Prada. (Der Gründer des Opus Dei. Josemaría Escrivá. Eine Biographie. Band 1: Die frühen Jahre (Köln 2002). Dieser Band endet mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936. Band 2 soll die Jahre 1936 bis 1945, Band 3 die Jahre 1945 bis 1975 umfassen. Zum 100. Geburtstag und zur Heiligsprechung erschien ein wichtiger Band „Josemaría Escrivá. Profile einer Gründergestalt", herausgegeben vom früheren Prälaten der deutschen Region, César Ortiz, Köln 2002.)

VI.

Mit dieser biographischen Skizze sind zugleich auch die Umrisse der spirituellen Gestalt von Josemaría Escrivá sichtbar geworden. Nach langer Zeit des Wartens ist, so haben wir gesehen, bei der entscheidenden Vision vom 2. Oktober 1928, die Grundintuition mit großer Deutlichkeit erkennbar geworden. Ein Kern liegt in der Aussage, „dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun". Es gibt viele Interpretationen, um das damit Gemeinte näher zu entfalten. (Vgl. dazu P. Berglar, Opus Dei, 278ff.; V. Messori, Der „Fall" Opus Dei, Aachen 1995 (italienische Ausgabe: Mailand 1994), C. Ortiz (Hg.), Josemaría Escrivá, 123, 225ff., 253ff., 311ff., 347ff.; D. Le Tourneau, Das Opus Dei, Stein am Rhein 1987, 49ff.; P. Rodgríuez u.a., Das Opus Dei in der Kirche, Paderborn 1997, 107ff., 159ff.; )

Vielleicht ist das Wort von der „neuen Weltverantwortung", das wir auch im Titel benutzen, noch zu künstlich und anspruchsvoll für das Elementare, das in dieser Spiritualität zum Ausdruck kommt. Escrivá geht davon aus, dass der Christ ein unbefangeneres, freilich keineswegs naives Verhältnis zur Welt und zu seiner Arbeit gewinnen muss.

Hier setzt er sich am stärksten von den klassischen Orden ab. Er bestreitet entschieden und grundlegend, dass nur derjenige ein ganz auf Gott gerichtetes Leben führen kann, der auf irgendeine Weise Abstand von der Welt hält, so z.B. durch Klostermauern, Gelübde, Ordenskleid und auch Ordensregeln. Er sah es als falsch an, dass das eigentliche christliche Leben faktisch oft gleichgesetzt worden ist mit der Abgeschiedenheit von der Welt, wie dies ein Ideal vieler Ordensgemeinschaften war. Auch die Weltpriester haben nach Escrivá ihr persönliches religiöses Leben weitgehend in dieser Richtung, wenn auch in abgemilderten Formen, orientiert. Weil der Laien-Christ oft noch stärker Versuchungen und Zerstreuungen ausgesetzt ist, hat man ihm ein Leben nach dem Evangelium gar nicht zugetraut und ihn nicht selten als einen „Christen zweiter Klasse" gesehen, der die bedingungslose Nachfolge Jesu Christi nicht beschreiten könne. Die Laien selbst haben sich nach Escrivá dieser negativen Vorstellung zu lange gebeugt.

Diese Tradition prägte – gewiss mit Ausnahmen – nach Escrivá die ganze katholische Kirche. Es scheint, dass sie im Spanien der 20er und 30er Jahre besonders krasse Formen angenommen hatte. Es liegt also gewiss etwas Revolutionäres darin, wenn Escrivá sich mit solchen Argumenten nicht mehr mit einer ausgedünnten Ordensspiritualität für Laien abfinden möchte. Er traut der Gnade Gottes im Wirken vieler Laienchristen mehr zu. So hat Escrivá ganz grundlegend die Berufung jedes Christen in den Vordergrund gestellt. Wiederum ist hier das Time-Interview vom 15. April 1967 aufschlussreich: „Am ehesten ist das Opus Dei zu verstehen, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jede Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den anderen Leuten. Die Mitglieder des Opus Dei sind normale Menschen, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 50. Vgl. auch ebd., 49ff., 77ff., 87ff.) Kann man nicht verstehen, dass dieses Programm, auch wenn es vielleicht manchmal missverständlich umgesetzt wurde, viele Menschen anzog und anzieht?

Die Unbefangenheit dieser Worte kann leicht täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine naive Zuwendung zur Welt. Der Gründer war sich vollkommen klar, dass derjenige, der mehr in der Welt lebt, um so tiefer die Wurzeln seiner Existenz in Gott erfahren muss. Nicht zur Abkehr von der Welt ist der Laien-Christ gerufen, sondern zu ihrer verantwortlichen Gestaltung im Sinne des Schöpfers. Immer wieder kommt die Formulierung vor: sich durch seinen Beruf heiligen, seinen Beruf heiligen und die anderen durch den eigenen Beruf heiligen. Im Jahr 1967 formuliert Escrivá diese grundlegende Überzeugung in einer Predigt mit folgenden Worten: „Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes... Gott ruft euch auf, ihn gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns... Es tut unserer Zeit Not, der Materie und den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen." (Zitiert nach D. M. Helming, Fußspuren im Schnee, 22)

Deshalb hat Escrivá immer auch wieder Leute gesucht und mit ihnen gerungen, die ein intensives weltliches Leben führten und große Aufgaben erfüllen mussten. Er hielt die Einsatzbereitschaft und die Disziplin solcher Menschen für günstige Voraussetzungen, um sich in ähnlichem Maß auch für geistliche Ziele einzusetzen, die die alltäglichen Aufgaben nicht etwa verdrängen, sondern – wie er gerne sagte – „veredeln". Er war überzeugt, dass Menschen, die den beruflichen Anforderungen eher ausweichen und auch wenig Änderungsbereitschaft erkennen lassen, weniger geeignet sind für das Opus Dei. Eine solche Aussage kann im Blick auf die Armen, Schwachen und Bedrängten gewiss zwiespältig werden. Aber die entscheidende Stoßrichtung ist klar. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass Escrivá die Mächtigen und Einflussreichen aufsuchen und gewinnen wollte, sondern Menschen mit einer hohen Bereitschaft zum Einsatz und auch zur Veränderung. Das ganze menschliche Leben muss in der Kontemplation wurzeln. Immer wieder sagte Escrivá, die Waffe des Opus Dei sei nicht die Arbeit, sondern das Gebet.

Damit hat er manchmal Menschen in der Welt geradezu verblüfft. Prof. Victor García Hoz, Psychologe und später Mitglied von Opus Dei, erzählt uns: „Im Jahre 1941 sagte Don Josemaría einmal zu mir: ‚Gott ruft dich auf dem Weg der Kontemplation.‘ Ich war total verblüfft. Ich war schließlich ein verheirateter Mann mit damals drei Kindern, zu denen noch weitere dazukommen konnten und tatsächlich auch kamen. Außerdem hatte ich hart zu arbeiten, um meine Familie zu ernähren. Dass jemand einem Mann wie mir Kontemplation, geistliche Beschaulichkeit, als ein erreichbares Ziel hinstellte, das war in der damaligen Zeit einfach ungeheuerlich" (Ebd., 21.). Die Welt selbst wird so für den Laien im strengen Sinn zum Ort der Begegnung mit Gott. Jederzeit und an jedem Ort stehen die Wege der Kontemplation allen offen, die arbeiten. „Alles Wesentliche an der christlichen Berufung bleibt unverändert. Doch neu ist die Weise, sie zu verwirklichen. Nachdem anderthalb Jahrtausende lang das Ordensideal vorherrschte, greift das Opus Dei wieder die Art auf, mit der die Christen der ersten Jahrhunderte ihren Glauben lebten. Ein in mancher Hinsicht gewagtes Unternehmen. Kein Wunder, dass es bei aller Zustimmung auch auf Missverständnisse und Skepsis, ja Ablehnung stieß und stößt." (Ebd., 22.)Gerade hier darf man nicht vergessen, dass von den über 80.000 Mitgliedern in fast 100 Ländern nur 2% Priester sind.

VII.

Ich verzichte darauf, diese Aspekte zu vertiefen und weiter zu entfalten. Wenn man jedoch Escrivá verstehen will, muss man immer wieder zu diesem grundlegenden Gedanken zurückkehren. Nur von daher ist es auch verständlich, dass er in relativ kurzer Zeit so viele Menschen ansprach, die mitten im säkularen Leben standen und dennoch Christen sein wollten. Viele haben einen solchen Weg der Heiligung mitten in der Welt gesucht, ihn aber mit den traditionellen Wegen nicht finden können.

Dennoch ist dieser Weg eigentlich nicht etwas Neues. Mit Recht hat der Gründer immer wieder gesagt, dieser Geist des Opus Dei sei „so alt wie das Evangelium – und wie das Evangelium so neu". (Ebd.) Er verweist auf das frühe Christentum. Aber es gibt natürlich auch Akzentuierungen und Vorläufer, die solche Gedanken bereits thematisierten. Man wird hier, wie in allen Lebensprozessen, nicht immer alles mit Zitaten nachweisen können. Escrivá hat sich bestimmt manche Aussagen der Ordensspiritualitäten zu eigen gemacht, z.B. das Benediktinische Ethos des „Ora et labora" („Bete und arbeite"). Dies gilt ganz gewiss auch für das „Gott suchen in allen Dingen" des hl. Ignatius von Loyola und des Jesuitenordens, aber vermutlich auch für die Spiritualität der Theresia von Lisieux, in der das alltägliche Leben eine besondere Form der Heiligung erfährt. Schließlich darf man nicht vergessen, wie zentral „Heiligung" im AT und NT ist, besonders auch in der reformierten Tradition. (Vgl. z.B. J. Zmijewski, Heiligung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflag, Band IV, Freiburg i.Br. 1995, 1331-1332.)

Bei diesem Vergleich denke ich z.B. an Aussagen der folgenden Art: „Ich versichere euch, wenn ein Christ die unbedeutendste Kleinigkeit des Alltags mit Liebe verrichtet, dann erfüllt sich diese Kleinigkeit mit der Größe Gottes. Das ist der Grund, warum ich immer und immer wieder betone, dass die christliche Berufung darin besteht, aus der Prosa des Alltags epische Dichtung zu machen. Himmel und Erde scheinen sich am Horizont zu vereinigen; aber nein, in euren Herzen ist es, wo sie eins werden, wenn ihr heiligmäßig euren Alltag lebt." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 177 (Nr. 116). Besonders hingewiesen sei auf den beinahe klassischen Text „Die Welt leidenschaftlich lieben", ebd., 173-183, eine Ansprache an der Universität von Navarra am 8. Oktober 1967.) Wenn man in die Kleinigkeiten des Alltags Liebe hineinlegt, dann wird man auch die Spuren Gottes darin finden. Alles andere ist für Escrivá „Blechmystik", die letztlich aus eitlen Träumereien und falschen Idealismen besteht. Escrivá scheut sich nicht, unmittelbar die ganz materielle Wirklichkeit als Feld christlicher Bewährung zu sehen und spricht wiederholt von einer „Materialisierung" des christlichen Lebens oder auch von einem „christlichen Materialismus". Wir haben vielleicht heute Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache. Aber jeder, der verstehen will, kann diese Sprache deuten und auslegen – was wir ja sonst auch machen.

Ich denke aber auch an die Einschätzung der irdischen Dinge und ihre Autonomie bei Thomas von Aquin, der den Eigenwert der Schöpfungswirklichkeit und das Gutsein der aus den Händen Gottes hervorgegangenen Welt unmissverständlich betont. Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man an Männer wie Thomas Morus denkt, die ihre Überzeugung aus dem Gewissen mit ihrem Leben besiegelten. Es ist jedoch das Verdienst von Escrivá, dass er mit Entschiedenheit die Ansätze der Tradition aufgreift und daraus wirklich nicht nur eine „Spiritualität für Laien", sondern eine „laikale Spiritualität" schafft. In diesem Sinne ist Escrivá ohne jede Frage ein Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Viele Aussagen des Konzils über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche und zum Glaubenszeugnis in Kirche und Welt haben hier ihre Wurzeln.

In dieser Grundintuition ist alles andere vorgezeichnet. Deshalb ist es auch nicht notwendig, an dieser Stelle die Konsequenzen sichtbar zu machen. Dies gilt z.B. für die Suche nach einer adäquaten rechtlichen Form, in der die Grundgedanken des Opus Dei angemessen gelebt werden können. „Für einen Lebensweg, der die Heiligung des Laien-Christen im Alltag und durch ihn zum Ziel hatte, für die spezifische Berufung zu etwas Unspezifischem also, gab es in der Kirche noch kein juridisches Modell. Erst das realiter von Menschen in aller Welt gelebte Opus Dei schaffte nach und nach eine innerkirchliche Gegebenheit, welcher schließlich, gemäß den organischen Lebensprinzipien der Kirche die adäquate Rechtsform zuwachsen musste." (P. Berglar, Opus Dei, 11) Diese Einsicht bestimmt auch manche andere Eigenheiten des Opus Dei. So gibt es im Bereich der irdischen, säkularen Probleme eine große innere Freiheit, wie sie der Einzelne im Alltag seines Berufes auch braucht, während die Ausrichtung auf ein transzendentes, übernatürliches Ziel mit großer Gemeinsamkeit verfolgt wird.

VIII.

Ich kehre kurz an den Anfang zurück. Es kam mir darauf an, die spirituelle Grundgestalt des neuen Heiligen darzulegen. Wenn die Kirche einen neuen Heiligen geschenkt bekommt, dann muss sie sich auch fragen, was der Geist Gottes durch einen solchen Zeugen hindurch der Kirche einer Zeit sagen möchte. Wir haben dies vielleicht bisher zu wenig versucht. Dies gilt nicht nur für Josemaría Escrivá, sondern auch für Mutter Teresa, Edith Stein, Adolf Kolping, Maximilian Kolbe, Titus Brandsma und manche andere. Es wäre ein unverzeihliches Versäumnis, wenn wir uns nicht wenigstens mühen würden, das spezifische Zeugnis in dieser Bedeutung für uns heute zu entdecken.

Deshalb habe ich mir auch den Mut genommen, einmal alle üblichen Diskussionen über das Opus Dei zurückzustellen. Ich will dabei nicht leugnen, dass es in der Vergangenheit da und dort bei der Inkulturation eines solchen Werkes in unserer Gesellschaft Probleme und Missverständnisse gegeben hat, die freilich auf mehreren Seiten liegen. Aber die spirituelle Herausforderung, die im Opus Dei liegt, darf nicht einfach mit Rückgriff auf diese Verdächtigungen abgewürgt werden. Leider gehen nicht wenige Veröffentlichungen auf das grundlegende Charisma von Josemaría Escrivá überhaupt nicht ein. (Vgl. R. Hutchison, Die heilige Mafia des Papstes, München 1996; M. del Carmen Tapia, Hinter der Schwelle. Ein Leben im Opus Dei. Der schockierende Bericht einer Frau, Zürich 1993; J. Ropero, Im Bann des Opus Dei. Familien in der Zerreißprobe, Solothurn 1995; zur Auseinandersetzung vgl. auch Opus Dei. Ziele, Anspruch und Einfluss, hrsg., von H. Schützeichel, Düsseldorf 1992, vgl. hier auch die Beiträge von H. St. Puhl; „Katholischer" Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche, hrsg. von W. Beinert, Regensburg 1991. Vgl. auch oben Anm. 1)

Es scheint mir gerade darum ein Gebot der Stunde zu sein, mit Sorgfalt und Fairness das Profil des neuen Heiligen genauer zu betrachten. Wenn das Opus Dei selbst in der Verwirklichung des Werkes etwas falsch gemacht hat oder machen sollte, dann muss man es zuerst gewiss an der Bibel, besonders aber an der Gestalt des Gründers und seiner Vision messen. Alles andere wäre nicht seriös. Darum macht man es sich zu einfach, wenn man versucht, das Opus Dei als eine Sekte oder gar so etwas wie eine Mafia abzustempeln.

Die Kirche kann es sich heute nicht leisten, Charismen, die in ihr entstanden und aufgeblüht sind, zu verachten. Sie kann sich auch nicht leisten, Bewegungen dieser Art gegeneinander auszuspielen. Ich bin fest überzeugt, dass wir angesichts der großen Herausforderung des christlichen Glaubens heute alle Kräfte bündeln müssen, um bei aller Ausformung im Einzelnen aus der Mitte des Glaubens heraus ein gemeinsames Zeugnis vor der Welt ablegen zu können. Dies ist gerade auch wichtig in der Stoßrichtung dessen, was Josemaría Escrivá im Blick auf eine „laikale Spiritualität" wollte. Die Kirche muss die Laien befähigen, inmitten ihrer säkularen Tätigkeit authentische Zeugen des Evangeliums zu sein. Es ist gar nicht möglich, dass der Arm der verfassten Kirche überall hinreicht. Es braucht die Selbstständigkeit aller Christen je an ihrem Ort, um dem Evangelium in allen Feldern unseres Lebens einen Weg zu bahnen und Raum zur Entfaltung zu geben. Davon wird in hohem Maß die Zukunft der Kirche abhängen.

Ich will evtl. vorhandene Probleme nicht verdrängen oder gar verdecken. Aber sie können wirklich nur gelöst werden, wenn wir uns der zündenden Idee im Leben und Wirken des heiligen Josemaría Escrivá stellen. So möchte ich mit einer wichtigen Aussage des neuen Heiligen schließen: „Es versteht sich von selbst, dass sich diese Vorstellungen von einem heiligmäßig gelebten Alltag kaum verwirklichen lassen, wenn man nicht im Besitz jener vollen Freiheit ist, die dem Menschen – auch nach der Lehre der Kirche – aufgrund seiner Würde als Ebenbild Gottes zusteht. Die persönliche Freiheit – wenn ich von Freiheit spreche, meine ich natürlich immer eine verantwortungsbewusste Freiheit – besitzt eine wesenhafte Bedeutung für das christliche Leben. – Versteht also meine Worte als das, was sie sind: als Aufforderung, tagtäglich und nicht nur in besonderen Notsituationen eure Rechte auszuüben, ehrlich eure staatsbürgerlichen Pflichten in Politik, Wirtschaft, Universität und Beruf zu erfüllen und mutig die Folgen eurer persönlichen Entscheidungen sowie die Bürde der euch zustehenden Autonomie auf euch zu nehmen. Diese christliche Laienmentalität wird euch dazu befähigen, jede Form von Intoleranz und Fanatismus zu meiden; oder positiv ausgedrückt: sie wird euch helfen, in Frieden mit all euren Mitbürgern zusammenzuleben und das friedliche Zusammenleben in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu fördern." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 178 (Nr. 117).)

So kommt es in erster Linie darauf an, endlich einmal den heiligen Josemaría Escrivá selbst zu Wort kommen zu lassen. Dies sollte mein Beitrag sein, sich dieser oft verkannten Gestalt neu zu nähern und sie besser zu verstehen. Die Heiligsprechung vom 6. Oktober 2002 könnte dabei eine wichtige, ja entscheidende Hilfe sein.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz