Zivilcourage

Vortrag anlässlich der Verleihung des Ludwig-Beck-Preises im Festsaal des Rathauses in Wiesbaden am 12. Juli 2006

Datum:
Mittwoch, 12. Juli 2006

Vortrag anlässlich der Verleihung des Ludwig-Beck-Preises im Festsaal des Rathauses in Wiesbaden am 12. Juli 2006

Heute ist uns das Wort Zivilcourage geläufig. Freilich hat es eine recht verschiedene Ausgestaltung seiner Bedeutung. Der deutsche Ausdruck ist wohl zuerst von Otto von Bismarck gebraucht worden. „Er berichtet im Sommer 1864 seinem Vertrauten R. von Keudell über seinen ersten parlamentarischen Auftritt vom 17.5.1847 und fügt hinzu: ‚Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns Gemeingut; aber sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt.’“

Damit ist auch schon ein wichtiger Hinweis gegeben, warum es diesen Begriff gibt, und warum er auch durchaus an eine große europäische Tradition anknüpfen kann. Denn seit langem steht für den größeren Bedeutungszusammenhang das Wort Tapferkeit. Es kommt schon in der vorchristlichen griechischen Ethik vor, besonders bei Platon und Aristoteles (griech.: „andreia politike“, lat.: „fortitudo civilis“). Die Tapferkeit steht schon früh in der Gefahr, vor allem bloß als eine Tugend des Soldaten verstanden zu werden. Da diese jedoch nicht selten missbraucht worden ist, und Männer oft auch mit dem Hinweis auf ihre notwendige Tapferkeit in einen sinnlosen Tod geschickt worden sind, stieß „Tapferkeit“ besonders auch in moderner Zeit an Grenzen.

Lange Zeit ist das Wort Tapferkeit im christlichen Bereich auch mit dem Mut und der Unerschrockenheit des Glaubenszeugen verbunden worden, der im Martyrium sein Leben hingegeben hat. Freilich verblasste im Lauf der immer mehr säkularen Welt dieser Maßstab. Im Vordergrund stand mehr und mehr vor allem der Typ des Helden, der sich für falsche Ideale instrumentalisieren lässt. Deswegen schätzt man heute weniger die Tugend als eine soldatische Auszeichnung, sondern eben als Zivilcourage. Es geht um die Tapferkeit im bürgerlichen Zusammenleben. Vielfach ist jedochder Begriff in unserem Sprachgebrauch fast ganz verschwunden.

Das offenbar aus dem französischen Sprachgebrauch stammende Lehnwort (courage civil) ist aber noch lange Zeit in der deutschen Sprache nicht heimisch geworden. Offenbar ist das Ende des Zweiten Weltkrieges so etwas wie eine Zäsur. Schließlich hatte z.B. D. Bonhoeffer in „Widerstand und Ergebung“ noch gemeint, dass es in Deutschland kaum gebraucht werde, ähnlich wie K. Löwith der Ansicht war, dass es im Hitler-Deutschland gar keine Zivilcourage gegeben hatte. Darum wird nach 1945 intensiv Zivilcourage angemahnt und verlangt. So entstehen eine Fülle von Titeln und Bemerkungen, die Zivilcourage oft zur zentralen bürgerlichen Qualifikation machen. Der Jesuit M. Pribilla meint im Jahr 1957: „Es muss die militärische Tapferkeit zurücktreten vor der so genannten Zivilcourage, nämlich dem charakteristischen Mut, die Wahrheit und das Recht auch nach oben oder gegen eine irre geleitete Menge mit Einsatz der eigenen Person geltend zu machen und zu verteidigen.“ Man sieht einen engen Zusammenhang zwischen Zivilcourage und Demokratie.

Der – nun eine andere Variante bildende Begriff – zivile Ungehorsam erscheint geradezu als „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“. Dies konnte freilich in gewiss extremer Weise auch dazu führen, dass nun zu einem Widerstand gegen den demokratischen Rechtsstaat aufgerufen wurde. In diesem Sinne kritisiert R. Schröder diesen Verfall echter Zivilcourage als einen „Aufstand der Aussteiger“ und als „krampfhafte Suche nach dem letzten Tabu, das man noch brechen kann“. Von da aus müsste auch der Begriff der Zivilcourage wieder etwas eingedämmt und auf seine tiefere Bedeutung konzentriert werden. So schreibt O. Marquard: „Dabei ist nicht jede x-beliebige Aufmüpfigkeit Zivilcourage. Man braucht sie überhaupt nicht nur für das Nein, sondern auch und gerade für das Ja. Ich meine: Zivilcourage ist vor allem der Mut, zivil – also ein civis, ein polites, ein Bürger – zu sein; oder kurz gesagt: Zivilcourage ist der Mut zur Bürgerlichkeit.“

Diese Kritik von O. Marquard an einer solchen Haltung aus dem Jahr 1993 ist mit Recht massiv. Er sieht in diesem nachträglichen Ungehorsam den Versuch einer Entlastung: „als die große Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein“. Man braucht das schlechte Gewissen nicht mehr selber zu haben, man wird zum schlechten Gewissen für andere, „sodass man immer weniger von sich selber, dafür aber immer mehr von den anderen verlangt, dieses schlechte Gewissen zu haben. Das ist das Entlastungsarrangement, das ich hier meine: die Flucht aus dem Gewissen, das man selber hat, in das Gewissen, das man für andere ist und nicht mehr selber hat. Man entkommt dem Tribunal, indem man es wird; und man wird das Tribunal, indem man – unter Beanspruchung des Kritikmonopols – alle bestehenden Verhältnisse – gerade die nächsten: also vor allem auch die Bundesrepublik – in Frage stellt durch Verweigerung ihrer Bürgerlichkeit.“

Lassen wir vorläufig einmal die Frage nach der „Bürgerlichkeit“ der Zivilcourage beiseite. Ich möchte mich stärker auf die klassische Bedeutung der Tapferkeit einlassen, bevor diese vor allem durch den Nationalsozialismus korrumpiert wurde. Zivilcourage meint die Entschlossenheit, als einzelne Person oder in der Ausübung eines Amtes abweichende Ansichten offen zu vertreten und dafür Konflikte oder sogar Nachteile zu riskieren – und dies gegenüber Vorgesetzten, Mächtigen, eingefahrenen Vorurteilen oder aktuell modische Sichtweisen und auch angesichts der öffentlichen Meinung. Zivilcourage ist das Gegenteil von Bequemlichkeit, Servilität, Konformismus, Opportunismus und Heuchelei. Zivilcourage kann deshalb auch einen sehr verschiedenen Ausdruck finden, angefangen von einem bloßen Widerspruch gegen eine andere Meinung, über die Infragestellung eines Anspruchs und die Provokation bis zu den verschiedenen Formen des Widerstands.

Zweifellos gibt es in der Neuzeit einen engen Zusammenhang zwischen Zivilcourage und Bürgerlichkeit. Denn erst wenn ein unmündiger Untertan sich in einen informierten Bürger verwandelt, der Grundrechte auch einklagen kann, bekommt der Begriff seine Konturen. Es ist eine echte Wächterfunktion gegenüber Übergriffen der Macht. Die dazu erforderliche Selbstständigkeit im Urteilen und die Kraft zur Selbstbehauptung lassen sich durch Achtung auf das Gewissen des anderen, Zulassung von Kritik, Ermutigung zur Selbstverantwortung, Förderung von Bildung und Information sowie einen offenen kommunikativen Austausch stärken. Dies scheint mit ein Grund zu sein, warum Zivilcourage vor allem als eine Auszeichnung der intellektuellen Eliten verstanden wird, was ich jedoch für fragwürdig halte, denn wahre Tapferkeit hängt nicht einfach vom Stand der Information und Bildung allein ab. Es gibt viele einfache Menschen, die mehr Zivilcourage und Tapferkeit aufbringen als die so genannten Intellektuellen.

In diesem Zusammenhang darf man auch nicht vergessen, dass die Tapferkeit im erwähnten Sinn schon von der Antike her zu den Kardinaltugenden zählt. Die Aufzählung beginnt fast immer mit der Klugheit, eng verbunden mit der Tapferkeit. Schon bei Platon gehört die Tapferkeit zu den vier Kardinaltugenden. Das Handeln des Tapferen zielt auf eine Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Hier ist besonders wichtig die Beziehung auf die Furcht. Manchmal muss man Furcht haben, z.B. Schändliches zu tun, manches muss man auch gar nicht fürchten. Tapfer ist man vor allem beim „edlen Tod im Krieg“. Aristoteles ist schließlich ziemlich präzise: „Wer also aushält und fürchtet, was man soll und weswegen man es soll und wie und wann, und wer in derselben Weise Zuversicht hat, ist tapfer.“ So sagt schon Aristoteles, dass die Fälle, in denen von Tapferkeit gesprochen wird, kritisch bewertet werden müssten. Auch ein Staat muss im Übrigen tapfer sein, nämlich als Voraussetzung für Frieden und Muße. „Wer aber nicht tapfer Gefahren überstehen kann, ist Sklave dessen, der ihn angreift.“

Die klassische europäische Tradition, die sich besonders auch bei Thomas von Aquin verdichtet, hat dies aufgenommen. Ich führe einige Sätze an aus den Schriften des Aquinaten, der vor allem durch Josef Pieper bis heute eindrucksvoll interpretiert worden ist: „Das Lob der Tapferkeit hängt im bestimmten Sinn von der Gerechtigkeit ab. Daher sagt Ambrosius: ‚Tapferkeit ohne Gerechtigkeit ist ein Hebel des Bösen.’“ „Nicht in Wahrheit tapfer sind jene, die um der Ehre willen Tapferes vollbringen.“ „Tapferkeit wirkt auf zweifache Weise: im Angriff und im Standhalten.“ „Das vornehmlichere Werk der Tapferkeit, vornehmlicher denn Angreifen, ist Standhalten, das ist: unbeweglich feststehen in der Gefahr.“ „Standhalten ist schwerer als Angreifen.“ „Wer tapfer ist, der ist auch geduldig.“ „Geduld ist in der Tapferkeit eingeschlossen. Denn was dem Geduldigen eigen ist, nicht verwirrt zu werden durch drohende Übel, das besitzt auch der Tapfere.“ „Er aber fügt noch ein Weiteres hinzu, dass er nämlich, wenn es sein muss, dem drohenden Übel zu Leibe geht.“

Ich brauche hier nicht ausführlicher dazulegen, wie sehr diese klassische Sicht auch vielen Aussagen der Bibel entspricht, und zwar sowohl des Alten wie des Neuen Testaments. Schließlich wird vom Glaubenden gerade auch Unerschrockenheit und Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Bösen verlangt. Er soll sich nicht anpassen an das, was ist. Nichts anderes sagen die Worte vom „Salz der Erde“ und vom „Licht der Welt“. Es wird auch verlangt, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Deswegen muss man auch freimütig sein in der Öffentlichkeit, die Gerechtigkeit Gottes zu verkünden und das freie Wort zu riskieren („parrhesia“).

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als verständlich, dass die Rehabilitierung der klassischen Tugendlehre im heutigen Denken immer wieder auch auf die Tugend der Tapferkeit oder eben der recht verstandenen Zivilcourage zurückkommt. In diesem Sinne wird die Tapferkeit auch zu einer Grundtugend des Staatsbürgers und des Lebens in einer Zivilgesellschaft. Besonders der amerikanische Kommunitarismus hat dies in den letzten Jahren eindrucksvoll herausgestellt. Ich verzichte hier auf die Diskussion zur Legitimation des gewaltlosen Widerstandes bzw. des bürgerlichen Ungehorsams, wie ich es oben schon kurz angesprochen habe. Es gibt noch andere Formen der Tapferkeit, z.B. die Treue zu einem Freund. In anderer Weise hat uns Bertolt Brecht in seinem Stück „Mutter Courage“ auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht. Bei Brecht wird die Courage einer trommelnden Taubstummen besungen, die eine Stadt unter Lebensgefahr zum Widerstand weckt. Dieses Nicht-anders-Können, als sich mit allen Kräften einzusetzen, ist hier gemeint.

Doch brauchen wir nicht in die Ferne zu schweifen. Wir haben jetzt deutlich vor uns, wie sehr in unserer Welt Risiko und Ethos zusammengehören. Daran erinnert uns schon der Ursprung dieses Preises, der mit dem Namen von Ludwig Beck gegeben ist. Er ist hier in Wiesbaden-Biebrich (1880) geboren, wurde Leutnant und hatte im Ersten Weltkrieg als Generalstabsoffizier an der Westfront viele Kommandos. Er wird 1935 Generalstabschef des Heeres. Schon früh (1938) bereitet er die Absetzung Hitlers vor. Zunehmend engagiert er sich im Widerstand um Carl Friedrich Goerdeler. Ihm missfällt vor allem Hitlers Machtmissbrauch.

Er gehört zu den führenden Köpfen der Widerstandsbewegung und ist in verschiedenen Widerstandsplänen als neues Staatsoberhaupt vorgesehen. Nach dem missglückten Bombenattentat auf Hitler in der „Wolfsschanze“ scheitert dieser Staatsstreich um Beck. Noch in der Nacht des 20. Juli 1944 werden Todesurteile ausgesprochen. Beck erhält einen Revolver zur Selbsttötung. Nachdem er sich nicht selbst töten konnte oder wollte, wurde er von einem Angehörigen des Wachkommandos erschossen.

Mit Ludwig Beck hat die Stadt Wiesbaden einen vorzüglichen Vertreter für Zivilcourage aufzuweisen und mit Recht den Preis dafür mit seinem Namen verbunden.

Wir werden gewiss bei der Würdigung der diesjährigen Preisträgerinnen, Frau Fatma Bläser und Serap Cileli, sehen, wie wir auch mitten in der Demokratie für unser Zusammenleben einen solchen ungewöhnlichen Mut brauchen. Beide kämpfen, auch durch ihr schriftstellerisches Wirken, für die Freiheit der muslimischen Frau. Ich möchte den beiden Autorinnen herzlich gratulieren und dem Auswahlgremium für diese Vorschläge danken.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Im Original sind Fußnoten enthalten 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz