Zur Bedeutung des Protestantismus aus katholischer Sicht heute

Vortrag anlässlich des Symposiums 475 Jahre Protestation in Speyer und 100 Jahre Gedächtniskirche am 22. April 2004 in Speyer

Datum:
Donnerstag, 22. April 2004

Vortrag anlässlich des Symposiums 475 Jahre Protestation in Speyer und 100 Jahre Gedächtniskirche am 22. April 2004 in Speyer

Es ist nicht leicht, recht spezifische kirchliche Jubiläen einer größeren Öffentlichkeit in ihrer Bedeutung zu vermitteln. Zweifellos ist es jedoch heute eine besondere Chance im Zusammenhang von Gedenkfeiern und Jubiläen für solche Gedenktage eine größere Aufmerksamkeit zu schaffen. Es besteht zwar die Gefahr, dass ein solches Gedenken auch rasch wieder in der Schnelllebigkeit und Flüchtigkeit der Mediengesellschaft versinkt. Aber eine „Eintagsfliege“ ist allemal besser als nichts. Jedoch hatten es die großen kirchlichen Ereignisse immer auch etwas einfacher. Denn gerade auch die Reformations-Gedenktage und Martin Luthers Geburts- und Todesdaten sind schon seit Jahrhunderten Jubiläen, die immer stark beachtet worden sind, und die selbst Geschichte gemacht haben. Sie sind nämlich wie sensible Zeitansagen, die den Stand der Sache zwar momentan, aber doch aufschlussreich anzeigen.

Mit der 475. Wiederkehr der Protestation in Speyer und auch mit dem nun 100. Geburtstag der Gedächtniskirche dürfte es, besonders wenn man auch die Literatur für beide, in sich eher zusammenhängende Jubiläen betrachtet, ähnlich sein. Darum feiert man auch jeweils anders. Vielleicht besteht das Neue besonders auch darin, dass bei diesem Anlass katholische Vertreter stärker als bisher mitwirken. Ich möchte mich jedenfalls für die freundliche Einladung zu diesem Vortrag am heutigen Abend, noch ganz dicht am Jubiläumstag selbst, herzlich bedanken.

 

I.

Das Datum des 19. April 1529 wäre bei der reichen Geschichte der Ereignisse im Zusammenhang der Reformation wohl kaum so deutlich in unserem Gedächtnis, wenn nicht die Übergabe der „Protestatio“ auf dem Reichstag durch Fürsten und Stände an den Kaiser und seinen Vertreter schließlich zur heute noch gebräuchlichen Bezeichnung „Protestanten“ bzw. „Protestantisch“ oder „Protestantismus“ geführt hätte. Nicht zuletzt darum wurde 1904 auch die Gedächtniskirche in Speyer eingeweiht als Erinnerungskirche an dieses Ereignis vor 475 Jahren. Der pfälzische Protestantismus hat beim Gedächtnis dieser Ereignisse zweifellos eine besondere Aufgabe. Diese Kirche ist zugleich über die Gemeinde und die Landeskirche hinaus ein Denkmal, das weltweit an die Entstehung des Protestantismus erinnert.

Die Vorgänge sind bekannt. Dennoch dürfte es gut sein, im Sinne einer kurzen Erinnerung an die Ereignisse in Speyer zu erinnern. Bis ein Konzil die strittigen Glaubensfragen lösen würde, hatte der erste Reichstag von Speyer 1526 die Durchführung des so genannten Wormser Edikts (1521) gegen Luther und seine Anhänger den territorialen Autoritäten in ihrer Verantwortung gegenüber Gott und dem Kaiser anheim gestellt. Nachdem Martin Luther bei seinem Auftreten vor dem Reichstag (17./18. April) einen Widerruf abgelehnt hatte, erging das Wormser Edikt (26. Mai), das die Reichsacht über ihn verhängte und die neue Lehre verbot. Es ist bekannt, wie lebensgefährlich diese Entscheidung für Luther war. „Der Ketzer wurde für vogelfrei erklärt, seine Gefangensetzung und die Verbrennung seiner Schriften wurden angeordnet. Dem politisch eigentlich Verantwortlichen allerdings, dem Kurfürsten von Sachsen, wagte der Kaiser das Edikt nicht zuzustellen; dort, wo der Ketzer saß, hatte es keine Gültigkeit.“ Der Beschluss des Reichstags von 1526, nämlich die Durchführung des Dekrets den territorialen Rechtsgewalten zu überlassen, diente den evangelischen Fürsten und Ständen als Grundlage für die Institutionalisierung der Reformation im Rahmen der landesherrlichen Kirchenregimente.

Diese Jahre waren ohnehin schwierig. Man kann gewiss nicht sagen, Luthers Popularität sei in jenen Jahren im Niedergang begriffen. Der Bauernkrieg ging zu Ende und brachte 70.000 bis 75.000 Tote. Die gesellschaftliche Geringschätzung der Bauern hat sich durch den Fehlschlag und Ruin bestätigt und für Jahrhunderte festgesetzt. Die hohen Flugschriftenzahlen gingen zurück. Partiell zeichneten sich Ernüchterung, Klärung und auch Enttäuschung ab. Das alte Kirchenwesen wurde in manchen Gegenden wieder hergestellt. Aber es gab eben doch die Institutionalisierung der Kirche mit Hilfe des Staates. Die Periode der „reformatorischen Bewegung“ ging somit eher zu Ende.

Im Verlauf dieses Prozesses war der zweite Speyerer Reichstag vom Februar bis zum April 1529 durch andere Ereignisse bestimmt: Kaiser Karl V. hatte in der Zwischenzeit eine große außenpolitische Stärke errungen. Sein Bruder Ferdinand von Österreich, der Kaiser Karl V. im Reich vertrat, hatte den entschiedenen Willen, die Reformation im Interesse einer kirchlichen und politischen Geschlossenheit zurückzudrängen. So hat er auch im Reichstag eine schroff antireformatorische Vorlage eingebracht und in den Verhandlungen gegen die Minderheit der reformatorisch gesonnenen Reichsstände weitgehend durchgesetzt. So ist auch der Reichstagsabschied vom 22. April bestimmt: Das Wormser Edikt sollte dort, wo es bisher durchgeführt worden war, weiter praktiziert werden. In den reformatorischen Territorien, in denen „die anderen Lehren entstanden und zum Teil ohne merklichen Aufruhr, Beschwerde und Gefahr abgewendet werden können“ sollten alle weiteren Neuerungen unterbleiben. So wurde ausdrücklich die Abschaffung der Messe, was ja zum Kern der Gottesdienstreform dieser Zeit gehörte, eigens untersagt. Besondere Bestimmungen richteten sich gegen die Leugnung der Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl und gegen die Täufer. Auch wenn die reformatorischen Reichsstände – darin lag der Kompromiss – nicht auf das Wormser Edikt verpflichtet wurden, so sollten doch die weitere Ausbreitung der Reformation und eine innere Festigung des im Entstehen begriffenen evangelischen Kirchenwesens verhindert werden.

Am 19. und 20. April legten darum die evangelischen Fürsten (Kurfürst Johann der Beständige von Sachsen, Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach, Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, Landgraf Philipp von Hessen, Fürst Wolfgang von Anhalt und 14 Städte, darunter Straßburg, Nürnberg und Ulm) mündlich und schriftlich Protest ein. Am 25. April haben sie diesen Protest die Form eines feierlichen notariellen Appellationsinstruments gegeben, das zugleich einen hohen öffentlichen und rechtlichen Charakter hatte. Die protestierenden Stände betrachteten zum einen die Aufhebung des einmütigen Beschlusses von 1526 durch eine bloße Mehrheitsentscheidung als ungültig. Sie haben sich dabei gleichzeitig auf ihr im evangelischen Glauben gebundenes Gewissen berufen, weil „in den Sachen Gottes Ehre und unserer Seelenheil und Seligkeit belangend ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft geben muss“ . Diese Protestation war im Kern – was mir ökumenisch wichtig scheint – kein Protest gegen die katholische Kirche und ihre Lehre, vielmehr ein Widerspruch gegen die Aufhebung des einstimmig gefassten Reichstagsbeschlusses von 1526, der die Durchführung des Wormser Ediktes suspendierte und den Fürsten und Ständen den Rechtsgrund zur Durchführung der Reformation gegeben hatte.

In der soeben zitierten Formel von Speyer – „in den Sachen Gottes Ehre und unser Seelenheil und Seligkeit belangend ein jeder für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft ablegen muss“ – übernahm eine Gruppe von Ständen das Bekenntnis Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms 1521, das in Glaubensfragen keiner äußeren Autorität oder Mehrheit, sondern allein dem an Gottes Wort gebundenen Gewissen zu folgen sei. In diesem positiven Sinne der Gewissensfreiheit bzw. Glaubensfreiheit beruft sich der Protestantismus bis zum heutigen Tag auf die Protestation von Speyer. Hier liegt in der Tat die Geburtsstunde des Protestantismus. Da die evangelischen Stände sich bei späteren Reichstagsverhandlungen auf ihre „Protestation“ beriefen, wurden sie bald von den anderen Parteien „Protestantes“ bzw. in der deutschen Sprache „Protestierende“ genannt. Die Theologen zögerten damit, dieses Wort als Selbstbezeichnung zu gebrauchen. Auch auf evangelischer Seite wurde der Begriff längere Zeit nicht rezipiert, weil er den als sehr grundsätzlich empfundenen Gegensatz zwischen der lutherischen und reformierten Lehre eher einzuebnen schien. Vor allem im 17. Jahrhundert drang das Wort „Protestant“ immer stärker in den deutschen Sprachraum vor, zum Teil vermittelt über die Niederlande und England. Besonders in der deutschen Aufklärung setzt sich der Begriff ziemlich rasch durch. Für die Ausprägung des Begriffes war Friedrich Schleiermacher sehr wirksam, der zur Wesensbestimmung des Protestantismus die klassische Formel geprägt hat: „... kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, dass ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig macht von seinem Verhältnis zur Kirche.“ In der Folgezeit setzt sich auch das Substantiv „Protestantismus“ durch, ohne dass diese Geschichte bis heute ausreichend beschrieben worden ist.

 

II.

Es ist zunächst bezeichnend, dass die Wortgruppe „protestantisch“ bzw. „Protestantismus“ zunächst keine theologische Kategorie ist. Es verbindet sich ein bestimmter Rechtsstandpunkt, hier z.B. die Kritik am Mehrheitsprinzip, und eine religiöse Überzeugung, die sich vor allem auf das Gewissen beruft. Zunächst geht es auch um die staatskirchenrechtlichen Folgen, um dieses Wort hier zu gebrauchen. Das Reich wird definitiv in verschiedene „Religionsparteien“ gespalten. Dies ist aber hier nicht näher darzustellen. Martin Heckel hat über Jahrzehnte diese Geschichte der Konfessionalisierung und Säkularisierung zugleich ausführlich dargestellt. Die Reformation wurde als eine die Territorien übergreifende Erneuerung der Kirche erkennbar, die sich auch mit einem gemeinsamen Identitätsbewusstsein verband. Es stellten sich in der Folge vor allem zwei Grundaufgaben, nämlich zunächst in der theologischen Untermauerung der in Speyer dokumentierten Gemeinsamkeit, was mit der Confessio Augustana geschah, und in der Organisation eines militärischen Bündnisses, was durch den Schmalkaldischen Bund geschah. „Mit der Confessio Augustana legte sie (i.e. die prot. Kirche) 1531 ihr bis heute gültiges Bekenntnis vor, das hier als Staatsschrift die Wahrheit der evangelischen Verkündigung und ihre Berechtigung im Reiche erweisen sollte. Als Organisation des Widerstandsrechtes wurde der Schmalkaldische Bund zur Abwehr des katholischen Rechtsstandpunktes, besonders der Acht und der Kammergerichtsprozesse, geschaffen.“ Es ist freilich auch nicht zu übersehen, dass künftig dieser Dualismus der beiden Religionsparteien den Dualismus zwischen Kaiser und Reichsständen entscheidend überlagert und „verformt“ hat. Es ist immer wieder dargelegt worden, gerade auch von Martin Heckel, dass dadurch nicht nur die Einheit des Reiches und letztlich das Reich zerstört worden ist, sondern dass die Säkularisierung des neuzeitlichen Staates zum Schaden beider einen mächtigen Schub erhalten hat. Hier erinnere ich auch an die Studien von Roman Schnur, die zum selben Ergebnis führen. Wie die Forschung gezeigt hat, wurzeln hier auch Begriffe wie Souveränität und Parität.

Doch interessiert uns hier stärker der theologische Gebrauch des Begriffs Protestantismus. Hier gab es zweifellos immer wieder auch, wie schon erwähnt, ein Zögern. Schließlich war der Begriff für längere Zeit ein Kampfwort mit einem polemischen Unterton. Deshalb sehen manche in diesem Begriff auch einen „fragwürdigen, als Schimpfname gebrauchten und seither mit viel falschem Protestpathos verklärten Ausdruck.“ Karl Barth hat am Protestantismusbegriff in einem historiographischen Sinne festgehalten, gab ihm aber systematisch-theologisch keine Funktion. „Die Worte ‚protestantisch‘ und ‚Protestantismus‘ sehe ich gerne aus unserem Sprachschatz verschwinden.“ Gerhard Ebeling wollte aus konfessionskundlichen Motiven heraus am Begriff festhalten. Paul Tillich wollte ihm gar eine zentrale Bedeutung geben. Diese Abwertung des Protestantismus-Begriffs, die vor allem durch die dialektische Theologie Karl Barths und seiner Freunde erfolgte, richtete sich zwar als Absage an den Kultur- und Neuprotestantismus, führte aber doch zu einer Zurückhaltung gegenüber dem Protestantismus-Begriff überhaupt. Seit den 70er Jahren gibt es eine „verhaltene Renaissance des Protestantismus-Begriffs“ , was durch eine erneute Zuwendung zur Theologie des 19. Jahrhunderts und durch eine positive Neubewertung des Neuprotestantismus sowie durch eine Wiederbelebung der Theologie Schleiermachers bewirkt wurde.

Es ist trotz der Zurückhaltung in einer theologischen Perspektive jedoch unverkennbar, dass der Protestantismus-Begriff zweifellos von Anfang an eine Tendenz enthält. Diese besteht gewiss darin, dass im Blick auf die Ehre Gottes und das Heil der Menschen „ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft ablegen muss“. Dies bedeutet eine erhebliche Relativierung bzw. ein Protest im Blick auf den Mehrheitswillen der Reichsvertreter aber auch eine Berufung auf die Freiheit des Glaubens und des Gewissens. Ganz gewiss ist damit auch eine in ihrem Ausmaß noch nicht näher bestimmte Individualisierung bezeichnet. Darin ist mindestens implizit auch eine wichtige theologische Komponente mitgegeben.

Es ist unverkennbar, dass dieser Grundgedanke, einschließlich der Bekenntnissituation Luthers in Worms 1521, mit zu den zentralen Gestaltungskräften der frühen Neuzeit gehörte. In diesem Sinne kann man wirklich sagen, dass das Ereignis der Protestation 1529 in Speyer mit zu den Triebkräften der Ausbildung der Moderne gehört und dass wir alle mit auf dem Boden dieses Ereignisses stehen, und zwar ganz unabhängig davon, ob wir heute evangelisch oder katholisch sind oder einer anderen oder keiner Kirche angehören. Jeder neuzeitliche Bürger ist davon geprägt. So gehört die Protestation von 1529, ganz unabhängig von allen Folgen, in die lange und schwierige Geschichte der Toleranz und besonders auch der Religionsfreiheit, die uns ja auch heute – denkt man nur an den Kopftuchstreit und die Verwendung religiöser Symbole in der Öffentlichkeit – noch herausfordert und bedrängt. Dies kann man heute auch nicht nur als einzelner katholischer Christ, sondern auch verbindlich von der Lehre der Kirche her sagen, nachdem das Zweite Vatikanische Konzil sich in einem langen Ringen die Religionsfreiheit als Menschenrecht, eben auch vom Glauben her so verstanden, anerkannt hat. Dies ist übrigens nicht nur eine typisch katholische Verzögerung in der Rezeption, sondern Voraussetzung dafür ist auch eine Klärung des Wahrheitsanspruchs der Religion mit der Freiheit. Es ist leicht, Freiheit zu gewähren, wenn man den Wahrheitsanspruch mehr oder weniger aufgegeben oder zurückgestellt oder völlig privatisiert hat. Aber dies wäre ein anderes Thema.

Dies alles hat freilich auch dazu geführt, dass bis zum heutigen Tag das Wort „Protestantismus“ zu einem Signal für sehr viele Dinge geworden ist. Oft heißt es sehr allgemein und in einer weiten menschlichen Perspektive: „Heute leben wir zum Glück in einer Gesellschaft, in der jeder frei seine Meinung äußern kann, ohne staatliche Repressalien befürchten zu müssen. Trotzdem gibt es Menschen, die sich nicht offen zu ihren Überzeugungen und zu ihrem Glauben bekennen. Oft haben sie Angst, mit einer eigenen, abweichenden Meinung anzuecken oder auch nur aufzufallen. Die Neigung, sich stillschweigend an die vorherrschende Meinung oder an den vermeintlichen Zeitgeist anzupassen, ist groß. Etwas weniger Anpassung an das, was man für den Zeitgeist hält, und etwas mehr echt protestantischer Bekennermut könnte uns allen nicht schaden.“ Diesen Feststellungen und Forderungen kann man gewiss weithin zustimmen. Sie zeigen freilich auch, dass der Protestantismusbegriff rasch über die religiöse und kirchliche Sphäre hinausgleitet und sich so auch schnell vom genuinen Boden des christlichen Glaubens emanzipiert. So kann auf einer anderen Ebene Hegel im Anschluss an die Entdeckung der modernen Freiheit durch die Wirkungen des christlichen Glaubens sagen: „Nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, ist das eigentümliche Prinzip des Protestantismus.“ Andere erblickten das sich in der Neuzeit durchsetzende Prinzip der Freiheit des Geistes. So heißt es bei F. Chr. Baur: „Der Protestantismus ist seinem innersten Wesen nach das Prinzip der Autonomie die Befreiung und Entäußerung von allem, worin der seiner selbst bewusste Geist nicht sein eigenes Wesen erkennen und sich mit sich selbst Eins wissen kann“.

Hier kann natürlich „Protestantismus“ auch zu einem Schlagwort werden. Es wird dann mit einem großen Pathos aufgeladen, wenn es für die neuzeitliche Freiheitsgeschichte überhaupt in Anspruch genommen wird. Dies geschieht natürlich auch und leicht in der konfessionellen Polemik. So hat F. Chr. Baur in Auseinandersetzung mit J.A. Möhler die Differenz von Protestantismus und Katholizismus zu einem nicht mehr überbrückbaren Gegensatz zwischen Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Unfreiheit, Neuzeit und Mittelalter emporgesteigert. Da nimmt es nicht Wunder, wenn es auch zu entsprechenden Gegenreaktionen kommt. So schreibt der bekannte Dichter der Romantik Novalis: „Mit der Reformation war es um die Christenheit getan... Daher zeigt uns auch die Geschichte des Protestantismus keine herrlichen Erscheinungen des Überirdischen mehr.“ In einem ähnlichen Sinne heißt es verurteilend im bekannten „Syllabus Errorum“ Pius IX. aus dem Jahre 1864: „Der Protestantismus ist nichts anderes als eine unterschiedliche Form der selben wahren christlichen Religion, in der es ebenso wie in der katholischen Kirche möglich ist, Gott zu gefallen.“ So kann man auch die folgende Entwicklung verstehen, dass nämlich das Wort „Protestantismus“ zur Selbstbezeichnung kaum mehr verwendet wird. Die Kirchen verwenden lieber den Begriff „evangelisch“. So auch seit 1978 in der Pfalz. „Aus dem offiziellen kirchlichen Sprachgebrauch ist das Wort Protestantismus als Selbstbezeichnung in Deutschland so gut wie verschwunden.“ – wie es sich Karl Barth ja schließlich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wünschte.

Freilich gibt es noch eine andere Dimension, die tiefer reicht. Die evangelische Theologie hat sich besonders im 19. Jahrhundert um die so genannten „Prinzipien“ des Protestantismus bemüht. Dies ist eine lange und komplizierte Geschichte. Am Anfang wurden oft zwei Prinzipien genannt, nämlich das formale Prinzip der alleinigen Autorität der Schrift und das materiale Prinzip der Rechtfertigungslehre. Dies hat sich z.T. bis zu Paul Tillich durchgehalten. Aber es gibt auch schon früh Stimmen, dass dieses „Prinzip“ keinem einzelnen Dogma zukomme, nicht einmal der Rechtfertigungslehre. Das höchste protestantische Prinzip sei vielmehr die evangelische „Freiheit in Glaubenssachen“, die ihrerseits auf der Schriftautorität als einziger untrüglicher Richtschnur des Glaubens und Lebens beruhe. Die These vom Doppelprinzip entstammt dem 19. Jahrhundert. Für Luther ist eher die Schriftautorität die Grundlage. Doch kann die Sache hier nicht im einzelnen verfolgt werden.

Es hängt mit der reformatorischen Verschärfung der theologischen Auseinandersetzung zusammen, dass das „Prinzip“ des Protestantismus schon von seiner Geburtsstunde her kritisch, abgrenzend und exklusiv ist. Dies kommt nirgends so deutlich an den Tag wie in dem mehrfachen „allein“ des reformatorischen Bekenntnisses: sola fide, solus christus, sola gratia und sola scriptura. Es ist jedoch auch gerade heute deutlich geworden, dass das jeweilige „allein“ bei aller bleibenden konstitutiven Bedeutung ergänzt werden muss. Man denke nur an Formulierungen wie: „sola fide numquam sola“. In der Tat hat das ökumenische Gespräch unserer Tage zu sehr differenzierten Antworten gefunden, die wirklich ergänzend wirken. Dies nimmt der evangelischen Kirche und Theologie nicht ihre Identität, aber öffnet diese grundlegend zum ökumenischen Gespräch. Dies gilt besonders nach der Annahme der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre vom 31. Oktober 1999.

Es müssten jetzt alle noch offenen Kontroversen in Glaubensfragen behandelt werden. Dies ist nicht möglich. Es gibt jedenfalls, ohne dass ich hier alle Ergebnisse im einzelnen aufführen kann, ein hohes Konsenspotenzial in vielen Fragen, die bisher unüberbrückbar erschienen. Ich erwähne nur die jahrelangen Untersuchungen über das Verhältnis zu den wechselseitigen Lehrverurteilungen, die Studien des Ökumenischen Arbeitskreises „Verbindliches Zeugnis I – III“ aus den Jahren 1992 – 1998 und die laufenden Gespräche besonders zur Apostolizität von Kirche und Amt.

Ich bin der Überzeugung, dass hier der Protestantismusbegriff sich noch einmal wandelt, d.h. erweitert und vielleicht auch korrigiert. Das reformatorische Bekenntnis war ja immer im Einklang mit den altkirchlichen Lehrentscheidungen und der großen kirchlichen Tradition des Ostens und des Westens. Man denke nur an Augustinus. Protestantismus darf also nicht ein Begriff für eine sich abgrenzende Selbstbehauptung und eine etwas pathetische Selbststilisierung werden. Man muss aufpassen, dass man keine falsche Identitätssuche betreibt. Dies gilt für alle Kirchen, die im Zeitalter der Ökumene und ihren Fortschritten manchmal Sorge haben um ihr eigenes Profil. Aber Identität erreicht man in dieser Hinsicht nur über die radikale Öffnung auf die größere Gemeinsamkeit, die gewiss über die Jahrhunderte mehr überdauert hat, als wir früher oft wussten. Wer hier exklusiv auf das „protestantische Prinzip“ allein setzt, wie es leider immer wieder geschieht, der steht in der Gefahr, sich elitär abzukapseln und gesprächsunfähig zu werden. Am Ende seiner eindrucksvollen Problemskizze im 27. Band der TRE zum Stichwort „Protestantismus“ schreibt Hermann Fischer zusammenfassend und eindrucksvoll: „Protestantische Identität lässt sich nur wahrnehmen, wenn es gelingt, in den historischen Brüchen die Kontinuität, in der Fülle der sich individuell aussprechenden religiösen Anschauungen die orientierende Mitte und in der Vielfalt der theologischen Konzeptionen das Innere bewegende Prinzip freizulegen.“

Um dies zu erproben, bedarf es weiterhin des ökumenischen Gespräches auf Herz und Nieren. Es ist nicht zufällig, dass das Wesen und die Bedeutung der Kirche mit den Folgen für das Amtsverständnis neue und vertiefte Gesprächsgegenstände bilden. Dabei wird auch neu zu fragen sein, wie weit der Protestantismus – gerade in der zugespitzten Form – „das ständige Korrektiv des Katholizismus“ braucht, um nicht in „Entleerung und Säkularisierung“, in einen „kulturellen Aktivismus“ oder „moralischen Utopismus“ abzugleiten. Bei diesen Formulierungen von Paul Tillich möchte ich es bewenden lassen.

 

III.

Ich erlaube mir noch einen Blick auf das Verhältnis zur katholischen Kirche. Dies ist nicht identisch einfachhin mit Katholizismus. Die Bestimmung des Katholischen erschöpft sich aber auch nicht in dem Zusatz "Römisch-Katholisch“, so sehr die Bestimmung des Katholischen immer auch verbunden ist mit dem Bischof von Rom, und zwar bereits in sehr früher Zeit, nämlich im 2. Jahrhundert. Dabei begreift sich die katholische Kirche nicht im theologischen Sinn als eine Konfession neben anderen. Dies ist sie gewiss im staatskirchenrechtlichen und gesellschaftlichen Sinn. Eher darf man hier an das klassische Glaubensbekenntnis mit den Wesenseigenschaften der Kirche denken: die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Dies ist ein wichtiges Erbe, das der weiteren Entfaltung bedarf.

Längst vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Theologie verschiedener Länder die ursprüngliche Bedeutung des Katholischen wiederentdeckt. Zentrales Werk dafür ist das berühmte Buch von Henri de Lubac, „Catholicisme“, erstmals 1938 erschienen, 1943 von Hans Urs von Balthasar deutsch übersetzt und 1970 unter dem Titel „Glauben aus der Liebe“ erneut in deutscher Sprache vorgelegt. Es sind freilich noch andere zu nennen, die an dieser Wiederentdeckung großen Anteil haben, wie Möhler, Congar, Guardini, Przywara, K. Adam, Thils, aber auch Dichter wie Péguy und Claudel. Besonders Y. Congar hat zur selben Zeit aus der Perspektive des Ökumenischen ähnliches formuliert. Schon die Übersetzung von de Lubacs Buch war schwierig, denn „Catholicisme“ hatte besonders in der deutschen Sprache eine so konfessionelle Überbetonung erhalten, dass von da aus keine Erneuerung möglich war.

Die Bestimmung des Katholischen in diesem ursprünglichen Sinne ist theologisch sehr umfassend. Es ist keine primär ekklesiologische Kennzeichnung allein, sondern leitet sich vom trinitarischen Leben Gottes über seine Offenbarung in der Schöpfung und in der Geschichte ab und zielt auf die Mitteilung des Heils durch die Übernahme von Sendung hinein in die ganze Welt und für die Menschheit. Katholisch ist die Kirche, weil sie - das Geheimnis der ganzen lebendigen Wahrheit Gottes in sich bergend - berufen ist, dieses Geheimnis des Heils in ihrer Sendung in die gesamte Welt allem mitzuteilen. Darum wird von hier aus die ganze Fülle mit dem Reichtum der Gaben Gottes in der Kirche wiederentdeckt.

Hier knüpft man bei der frühen Kirche an und geht so hinter die späteren Einengungen des Begriffs „katholisch“ zurück. Art. 13 von „Lumen gentium“ ist dafür exemplarisch. Die Katholizität ist darum zuerst eine Gabe des Herrn selbst. Das Volk Gottes fördert und übernimmt Anlagen, Fähigkeiten und Sitten der Völker, „soweit sie gut sind“. Die Katholizität verwirklicht sich in den einzelnen Völkern und Kulturen in einem großen Geben und Nehmen. Von der Kirche selbst, die in ihrer reichen Vielfalt vor Augen ist, wird gesagt: „Kraft dieser Katholizität bringen die einzelnen Teile ihre eigenen Gaben den übrigen Teilen und der ganzen Kirche hinzu, so dass das Ganze und die einzelnen Teile zunehmen aus allen, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken. ... Darum gibt es auch in der kirchlichen Gemeinschaft zu Recht Teilkirchen, die sich eigener Überlieferungen erfreuen, unbeschadet des Primats des Stuhles Petri, welcher der gesamten Liebesgemeinschaft vorsteht, die rechtmäßigen Verschiedenheiten schützt und zugleich darüber wacht, dass die Besonderheiten der Einheit nicht nur nicht schaden, sondern ihr vielmehr dienen... Zu dieser Gütergemeinschaft nämlich sind die Glieder des Gottesvolkes berufen, und auch von den Einzelkirchen gelten die Worte des Apostels: ‘Dienet einander, jeder mit der Gna-dengabe, wie er sie empfangen hat, als gute Verwalter der vielfältigen Gnadengaben Gottes’ (1 Petr 4,10).“

In diesem Zusammenhang ist es auch selbstverständlich, dass die Katholizität nicht nur selbstgenügsame Gabe bleibt, die man nur noch verwaltet. Es ist kein Zustand und kein „Besitz“. Sie ist vor allem auch Aufgabe, die in die Sendung stellt. In diesem Sinne muss Katholizität immer erst noch zwischen Werden und Vollendung verwirklicht werden. Die wahre Katholizität zeigt der Kirche auch immer wieder, wie sehr sie hinter dieser Gabe zurückbleibt. Darum ist hier auch, wie de Lubacs Buch deutlich zeigt, der Ursprung einer Theologie der Mission, des Zeugnisses der Christen und der Kirche in den verschiedenen Lebensbereichen, der ökumenischen Öffnung, des Dialogs mit den Religionen der Völker und auch der Auseinandersetzung mit dem Atheismus. So werden auch die Ortskirchen in ihren eigenen Werten höher eingeschätzt. Das Prinzip der Uniformität wird zu größerer Variabilität geöffnet. Katholizität heißt: die Fülle des Heils und seiner Güte in der Vielfalt der Gaben.

Vielleicht erscheinen diese Worte manchmal etwas schwebend, ja vielleicht auch nebulös. In der Tat ist diese Katholizität nicht einfach irgendwie als fixer Zustand dingfest zu machen. Sie ist immer in Bewegung von ihrem Ursprung zu ihrem Ziel, als Gabe und Aufgabe. Aber was Ignatius von Antiochien schon festgehalten hat, daran lässt auch das Zweite Vatikanische Konzil keinen Zweifel: Die Katholizität meint umfassende Fülle, von der die Kirche herkommt und nach der sie sich ausstreckt, aber zugleich hat sie immer auch eine bestimmte Gestalt mit ihren wandelbaren und unwandelbaren Ordnungen des Lebens. In diesem Sinne ist die Katholizität der Kirche eben nicht eine wolkige Größe, sondern sie wird konkret getragen, in der Geschichte verwirklicht und immer wieder durch Berufung und Sendung neu aktualisiert. Dazu gehören auch Strukturen. Katholizität ist z.B. da, wo der Nachfolger Petri in Gemeinschaft mit den Bischöfen die Kirche leitet.

So wird auch erkennbar, dass Katholizität eine theologische Größe, ja eine Aussage des Glaubensbekenntnisses der Kirche bleibt. Es handelt sich nicht primär um übernationale Organisation, Tendenz zur kulturellen Vereinheitlichung, globale Verständigung, Idee der einen Menschheit. Katholizität ist nicht nur einfach ein säkulares Angebot immer größerer Universalisierung.

Die Katholizität ist durch die Sünde der Menschen in der Kirche immer wieder einge-schränkt, verletzt und getrübt. Die Spaltungen in der Kirche und die Schismen bzw. Häresien haben die ursprüngliche Katholizität verwischt und verdunkelt. Vor allem ist die Fülle in ihrer Wirkung durch die Spaltungen der Christen behindert. Vielfalt allein behindert die Einheit nicht, wohl aber Tendenzen zu einer Selbstbehauptung, die sich verschließt, und zu einer runden Identität, die sich nicht mehr solidarisch identifi-zieren kann mit dem, was leidet.

In ökumenischer Hinsicht bedarf es noch weiterer Klärungen. Es ist in manchen evangelischen theologischen Entwürfen ein Trend, die Kategorie Katholizität weitgehend eschatologisch zu interpretieren. Konkret hat dies zur Folge, dass die Katholizität so etwas als Vorwegnahme der eschatologischen Fülle in der Partikularität der noch ausstehenden Geschichte verstanden wird (W. Pannenberg). Schließlich erscheint die Katholizität als Ausdruck der Bewegung der Kirche in dem Prozess auf das eschatologische Ziel hin. Die Katholizität ist so bezogen auf das universale Heil. Darum sind Gebet und Solidarität mit den Armen Ausdrucksformen dieser erst im Reich Gottes vollendeten Katholizität (J. Moltmann).

Die katholische Theologie kann viele Elemente aufnehmen, die im übrigen auch in der altkirchlichen Lehre von der Kirche nicht fehlen. Auch in „Lumen gentium“ gibt es eine eschatologische Komponente. Doch besteht auch kein Zweifel daran, dass das Konzil die wahre Katholizität nicht in eschatologischer Ferne erblickt. So heißt es in der Kirchenkonstitution, dass die Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche konkret verwirklicht ist und hier ihre „konkrete Existenzform“ findet. Obwohl im Ökumenismusdekret deutlich anerkannt wird, dass auch die anderen Kirchen vom Geist als „Mittel des Heils“ gebraucht werden können, so wird doch daran festgehalten: „Nur durch die katholische Kirche Christi, die das allgemeine Hilfsmittel des Heiles ist, kann man Zutritt zu der ganzen Fülle der Heilsmittel haben.“

 

IV.

Es ist in diesem Zusammenhang offenkundig, dass für den katholischen Theologen die Frage nach dem „typisch Katholischen“ oder dem „typisch Evangelischen“ ein erhebliches Problem darstellt. Man kann so nur fragen, wenn das Abgrenzende und ein Stück weit auch das Exklusive einen Vorrang haben. Die Frage nach der Katholizität geht gerade umgekehrt an das Problem heran und stellt die umfassende Fülle sowie die ganze Wirklichkeit an die Spitze. Freilich entsteht auch hier das dornenreiche Problem, wie die höchstmögliche Integration aller Gaben in die eine katholische Kirche möglich ist, diese aber zugleich eine bestimmte Gestalt ist, die nicht alles Beliebige in sich aufnehmen kann. Die Kirche kann nicht das Sammelsurium aller möglichen Beliebigkeiten, gleichsam der Markt aller religiösen Möglichkeiten sein.

Genau an dieser Stelle entsteht die Frage nach dem Rang und der Tragweite von Verschiedenheit. Es gibt nämlich - ohne dass dies hier näher erläutert werden kann - Verschiedenheiten, die auf den ersten Blick fast wie tödliche Gegensätze erscheinen können, aber doch nicht einander wirklich ausschließende Widersprüche sind. Es gibt ohnehin im Kampf um die Reinheit und die Wahrheit des Glaubens Verfahren und Vorgehensweisen, die eher auf klärende Abgrenzung ausgerichtet sind. Diese Unterscheidung der Geister ist unverzichtbar. In diesem Zusammenhang mag es dann so aussehen, als ob verschiedene Begriffe und Terminologien sich sachlich ausschließen. In Wirklichkeit, d.h. bei genauer und strenger Betrachtung, können sie sich jedoch unbeschadet vordergründiger Polemik auch ergänzen. Die Rechtfertigungslehre bietet dafür besonders viele Beispiele. Hier braucht nicht das ganze Instrumentarium ökumenischer Hermeneutik vor Augen geführt zu werden, die der Erhebung, Deutung und Sicherung eines solchen Befundes dient.

Wenn man vom „typisch Evangelischen“ oder „typisch Katholischen“ spricht, gerät man in höchste Gefahr, dass man eine vielleicht zweifellos vorhandene Differenz unangemessen fixiert und auf diese Weise zu einem Unterscheidungsmerkmal hochsteigert, das es in Wirklichkeit gar nicht ist. Man denke nur an die Gegensätze von Wort und Sakrament, an das allgemeine Priestertum (wir Katholiken sagen lieber: das gemeinsame Priestertum) und das Amt, an die forensische und die effektive Rechtfertigung usw.

Entscheidend ist nämlich nicht die Frage, ob es überhaupt Differenzen gibt, sonder ob sie ein solches Ausmaß haben, dass sie kirchentrennend sind. Differenzen können auch z.B. verschiedene Stile und Ausdrucksformen einer Theologie, der Frömmigkeit, der Kirchenordnung usw. darstellen. Sie können dann zwar in der Prägung der jeweiligen Eigenart, also des „Typischen“, sehr durchgreifend und tiefreichend sein und dennoch sind sie nicht automatisch auch Ausdruck der Kirchentrennung. Solche Unterschiede gibt es wohl, zum Beispiel in der Wertung des Papsttums, aber es ist jedes Mal nachzuprüfen, ob eine Differenz wirklich kirchentrennender Natur ist.

Aber es geht nicht nur um leicht auffallende Unterschiede. Identische Strukturen sind noch kein Beweis dafür, dass auch dasselbe gemeint ist. Es gibt theologische Anschauungen, die davon ausgehen, dass sich hinter gleichlautenden Formeln eine tiefgreifende Differenz auftun kann. So ist G. Ebeling, wenigstens in seinen früheren Arbeiten, der Meinung, dass es solche tiefgreifende konfessionell-hermeneutischen Differenzen im Verständnis derselben Aussagen der Bibel gibt. In den letzen Jahrzehnten haben manche nach einer Grunddifferenz bzw. nach einem Fundamentaldissens gefragt, die alles gemeinsam Erscheinende durchzieht und gewissermaßen jede Suche nach substantieller Einheit untergraben würde. Manche sehen in der Rechtfertigungsbotschaft, besonders in der kritischen Anwendung auf die Kirche, die Sakramente und die Ämter, eine solche Barriere. Es wäre m.E. eine letzte Verfestigung eines „typisch Evangelischen“ bzw. „typisch Katholischen“, wenn man eine solche letzte Grunddifferenz postuliert. Dies wäre am Ende auch der Tod der Ökumene. Denn es könnte dann nur eine vorbehaltlose Konversion geben, aber keinen im Grunde ernsthaften Dialog. Ohne eine solche Grunddifferenz gibt es eben die Möglichkeit, dass sich gegensätzliche Positionen auf einem gemeinsamen Boden ergänzen und so etwas wie eine „versöhnte Verschiedenheit“ bilden.

Nun gibt es noch einen anderen Versuch, die verbleibenden Differenzen zu verstehen. Um ihnen auf den Grund zu kommen, muss gefragt werden, ob es nicht jenseits einzelner Kontroversprobleme unableitbare und also letzte Prinzipien gibt, die erwiesenermaßen nicht identisch sind mit den bisherigen kontroverstheologischen Einzelfragen. Diese letzten Grundsätze würden die jeweilige konkrete, also bestimmte Gestalt des „Protestantismus“ und/oder des „Katholizismus“ prägen. Sie dürfen dabei nicht nur in ihrem dogmatisch-theoretischen Gehalt verstanden werden, sondern sind auch als Regulative des christlichen Lebenszeugnisses zu begreifen. Es sind jeweils Gestaltungsprinzipien, die formgebend sind für die grundlegende Prägung katholischer bzw. evangelischer Phänomene. So kann man die Idee vertreten finden, der Protestantismus verdanke diese seine grundlegende Prägung dem Prinzip der Freiheit, während der Katholizismus bis in die Heilsvermittlung hinein primär durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bestimmt sei. Solche Ideen finden sich von Hegel bis Tillich, bei Ebeling und Pannenberg in verschiedenen Abwandlungen.

Die Suche nach solchen elementaren Gestaltungsprinzipien des Evangelischen und des Katholischen ist durchaus eine legitime Sache. Sie muss in erster Linie auch gar nicht aus dogmatischem Interesse erfolgen, sondern kann ein phänomenologisches Anliegen vertreten, nämlich die bestimmte Gestalt einer konfessionellen Ausprägung in ihren Ursprüngen und Grundstrukturen zu erfassen. Man sollte nicht ausschließen, dass die Suche nach solchen radikal formgebenden Prinzipien zu weiterführenden Reflexionen inspiriert. Es ist im übrigen nicht zufällig, dass eine solche Suche nach Prinzipien sich stärker im evangelischen Raum findet. Die Denkfiguren des „sola gratia“, „sola scriptura“, und „sola fide“ legen einen radikalen, exklusiven Ansatz nahe, der auch ein gewisses kritisches, kämpferisches Pathos mit sich bringt. Die Ausschließlichkeit wird hier leicht prinzipiell zugespitzt und sieht darum oft ausschließlich Gegensätze, wo sie gar nicht sein müssen. Es gibt in diesem Sinne Denkformen, die uns Katholiken „typisch protestantisch“, nicht „typisch evangelisch“ vorkommen.

Die katholische Kirche vollzieht zweifellos im Blick auf einzelne theologische Aussagen punktuelle Ausgrenzungen. Aber sie haben zumeist - auch untereinander - keinen offenkundigen, zwingenden systematischen Zusammenhang. Insofern liegt dem Katholizismus vom Grundverständnis her weniger an einer ausgrenzenden Exklusivität. Die Aufstellung von Prinzipien des Katholischen darf darum nicht zu einer falschen Systematisierung des Katholischen führen, die einen zwanghaften Charakter haben könnte. Insofern ist es eher die Eigenart eines „häretischen“, das heißt auf Auswahl bedachten Denkens, eine solche erschöpfende Systematisierung durchzuführen. Die Katholizität darf in ihrer offenen Weite nicht bedroht werden, sofern sie sich selbst recht versteht. Auch wenn die Kirche sicher oft dagegen verstoßen hat, so kann dies nicht heißen, dass sie nur der Notar Meinung ist: sie muss bei entsprechenden Herausforderungen Unterscheidung der Geister und faktisch durch Entscheidung der Wahrheit des Evangeliums dienen.

 

V.

Das Postulat, es gäbe „Prinzipien des Katholischen“, ist also, wie aus dem Bisherigen leicht hervorgeht, für das Verständnis der katholischen Kirche selbst nicht ungefährlich. Es kann eigentlich nur darum gehen, die offene Weite und Universalität, die Wahrung der Fülle und die bestimmte Gestalt des Katholischen besser erfassen zu helfen. Unter dieser Voraussetzung möchte ich abschließend folgende „Prinzipien des Katholischen“ formulieren:

1.Die Katholizität der Kirche wurzelt in der Lebensfülle des Dreieinen Gottes, im freigebigen Handeln des Schöpfers mit einem großen Reichtum an Gaben, im universalen Heilswillen Gottes gegenüber allen Menschen, im Eingeben Gottes in die Welt durch die Menschwerdung Jesu Christi, im Evangelium Jesu Christi von der grenzenlosen Liebe Gottes, im Tod Jesu Christi „für alle“ und in der Sendung des Pfingstgeistes, der durch die Fülle der Gaben (Charismen) die Kirche auferbaut.

Dies sind die Fundamente dafür, dass die Kirche in ihrem Wesen katholisch ist. Sie löst dieses Katholische jedoch erst ganz ein, wenn sie, von Einengungen und Spaltungen befreit sowie von aller Sünde erlöst, durch das Gericht Gottes hindurch von allem Makel gereinigt wird.

2.Die Katholizität verhindert, dass die Kirche sich an eine einzelne geschichtliche soziale Form bindet, weil es eine solche Identifizierung nicht geben darf; zugleich bindet die Katholizität die Kirche an jede irdische Gesellschaft, weil die Kirche sich ganz auf die konkrete Situation und die in ihr lebenden Menschen einlassen muss. Dies hängt eng zusammen mit der Beziehung zwischen der Katholizität und der Geschichte: Die Kirche ist in jedem Moment schon durch ihre Sendung an die konkrete Geschichte verwiesen, aber diese ist nie ihre bleibende Heimat. Darum darf die eschatologische Komponente nie fehlen.

3.Katholischer Glaube weiß um die unaufhebbare Spannung zwischen der schöpferischen Treue zum überlieferten Glauben der Kirche, soweit dieser bindend ist, und der notwendigen Verpflichtung zur zeitgerechten Interpretation. Nur so lässt sich geschichtliches Erbe als Wahrheit für eine veränderte Zeit bewahren.

4.Dieses Prinzip des Katholischen vermeidet in gleicher Weise einen ungeschichtlichen Fixismus und einen diskontinuierlichen Progressismus. Festigkeit in den Grundwahrheiten erlaubt und gewährt eine umfassende Geschmeidigkeit und Beweglichkeit in allen übrigen Fragen.

5.Damit hängt die Bewegungsform des Katholizismus - besonders in der Neuzeit - zusammen. Er ändert sich mehr, als man denkt und als er oft selbst im vorhinein wissen kann (man kann es oft erst nachher feststellen!) Der Katholizismus ist in dem Sinne konservativ, dass er geschichtlich Erworbenes und Bewahrenswertes, das sich als solches erweist, zu erhalten und zu integrieren bemüht ist und dass er das Neue langsamer und zögernder, kritischer und skeptischer in sich aufnimmt. Wenn er sich aber Neues aneignet und anverwandelt, dann geschieht dies grundlegender und nachhaltiger. Er hinkt so zwar immer etwas hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen her, verfällt aber insgesamt weniger, vor allem in seiner verbindlichen Gestalt, Modeerscheinungen. Gegen alle Trendmacher besteht eher Skepsis. Dies schließt Pioniere und Vortrupps, Charisma und heilige Reformer nicht aus, sondern ein.

6.Es gehört zum Wesen des Katholischen, dass ihm im Sinne der Bibel nichts wirklich Menschliches fremd bleibt. Seine Integrationskraft ist sehr hoch im Sinne von Phil 4,8: „Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht!“ Darum hat die katholische Kirche von Anfang an auch eine grundlegende Beziehung zur Einheit, zur Vielheit und dem Reichtum der Menschheitsgeschichte, was bis zur Auseinandersetzung mit Mythos und Volksglauben reicht. Dies geschieht immer in einem Prozess der Anknüpfung und des Widerspruchs, ist nie nur bloße Rezeption.

7.Die wahrhafte Katholizität zeigt sich in der Überwindung eines Absolutheitsanspruchs aller partikulären Gruppierungen in der Kirche (Rassen, Sprachen, Kulturen, Klassen, Nationen usw.) und im Wissen um die unbegrenzte Weite des dadurch entstehenden Raumes für die Herrschaft der Liebe Gottes in dieser Zeit.

8.Ein grundlegendes Prinzip des Katholizismus ist die Wahrung geistgewirkter Einheit in der Vielfalt der konkreten Lebensäußerungen und Glaubenszeugnisse in der Gemeinschaft der Kirche. Da diese Einheit nicht von selbst entsteht und das Evangelium nicht unbestimmt, kraftlos und inkonsistent werden darf, bedarf es zur Entfaltung und Erhaltung dieser Einheit auch äußerer Formen, wie zum Beispiel der Ordnung in der Liturgie, und geschichtlicher Repräsentationsweisen, wie es in den Diensten und Ämtern gegeben ist. Auch der Katholizismus weiß um die Initiativkraft und Souveränität des Evangeliums, aber er misstraut der These von der bloßen Selbstdurchsetzungsmacht des Wortes Gottes, sondern betont den Rang des personalen Zeugnisses und der Verantwortung in der Vermittlung des Glaubens. Jedoch kann auch das Wirken des Amtes nicht vom höherrangigen Wehen des Geistes in der Kirche getrennt werden.

9.Ein grundlegendes Prinzip katholischen Denkens sieht die Beziehungen zwischen Gott und Geschöpf, zwischen Natur und Gnade, Geschichte und Heil weder durch Formen und Tendenzen der Gleichheit (die sehr verborgen sein kann!), noch durch solche radikaler Ungleichheit bestimmt. Nur so - im Verneinen eines ausschließlichen Entweder/Oder - gibt es Ähnlichkeit in der je größeren Unähnlichkeit.

In diesem Sinne wahrt die recht verstandene Analogie sowohl die freie Souveränität Gottes als auch die Freiheit des Geschöpfes. Der positive Unterschied gewährt eine echtes Zwischen und ein authentisches „Und“. Nur so können zwanghafte Ableitungen und Monismen vermieden werden.

10.Nirgends wird deutlicher, dass ein Prinzip des Katholischen nicht einengt, sondern gegen alle Partikularismen in die unbegrenzte Weite der ganzen Welt und des unendlichen Gottes entschränkt. Ähnliches gilt für die Verhältnisbestimmung von Innerlichkeit und geschichtlicher Erscheinung, Personalität und Gemeinschaft, Gesetz und Freiheit, Gewissen und Autorität.

11.Wegen dieser differenzierten Dialektik des Lebens verbindet das Katholische in einem hohen Maß die Freiheit des Gewissens und die Verbindlichkeit von Normen und Weisungen, das Allgemeine und das Besondere. Es ist darum freier, als es den meisten von außen erscheint. In diesem Zusammenhang bedarf das Verhältnis von Evangelium und Recht einer völlig neuen Untersuchung. Dabei geht es nicht nur um die Machtfrage und die Ausübung von Autorität, sondern zuvor noch um die Klärung, wieweit rechtliche Kategorien die Seinsweise von Heil umschreiben können: die schon gültige neue Wirklichkeit, die schon angefangen hat, aber noch nicht eingelöst ist und darum auch den Erlösten fundamental beansprucht.

12.Ein Prinzip des Katholischen könnte sich - ich formuliere eine Hypothese - darauf beziehen, wie die Offenbarung Gottes im Raum der Geschichte und der menschlichen Lebenswelt ankommt, d.h. empfangen und angenommen wird: Vom eschatologischen Ernst der gnädigen Zuwendung Gottes zur Welt her - Gott will ernsthaft das Heil der Menschen - versteht die Katholische Kirche die Ankunft Gottes und die Annahme des Glaubens bis in die konkrete, leibhaftige Dimension hinein als „entschiedene Entscheidung“ (H. Schlier) Gottes für die Welt, die freilich vom Menschen auch entsprechend beantwortet werden muss.

Darum erscheint der Katholizismus in seiner eigentümlichen Treue nicht nur zum Geist, sondern auch zum „Buchstaben“ des Evangeliums nicht selten als „naiv“. Dies gilt für den Ernst der Nachfolge-Worte Jesu in ihrer Wörtlichkeit ebenso wie für das Leben der Heiligen, die das Evangelium „sine glossa“ leben. Ein solches Verständnis hat auch Konsequenzen für den Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber, aber auch für Lebensformen wie eine Existenz nach evangelischen Räten, die unwiderrufliche Treue in der Ehe und auch die Ehelosigkeit des Priesters, wenn sie im Zusammenhang mit Armut und Gehorsam verstanden wird.

Die Realisierung dieses Prinzips muss davor bewahrt werden, darin das Missverständnis der Äußerlichkeit, der Ungeistigkeit, der Heuchelei, der „Verdinglichung“ und des Aberglaubens sowie der Buchstabengläubigkeit zu fördern. Darum muss auch immer wieder auf die Verhülltheit, die Gebrochenheit und die Verborgenheit von Heil und Gnade in der Geschichte hingewiesen werden. Auch im Heil ist alles nur auf Hoffnung hin gerettet. Der „eschatologische Vorbehalt“ stellt alles unter eine grundlegende Vorläufigkeit. Wir sind auf dem Weg, aber nicht am Ziel.

Darum gehört zum Katholizismus ein tiefes Wissen um die Sündigkeit des Menschen und die gebotene Umkehr, um die Notwendigkeit ständiger Erneuerung und der Ausdauer in Geduld und Hoffnung. Die große Spiritualität kennt darum auch katholischerseits immer eine tiefe Theologie des Kreuzes.

Dies ist ein erster bescheidener Entwurf im Versuch einer Erfassung von Prinzipien des Katholischen. Die katholische Theologie hat sich bisher zu wenig mit einem solchen Versuch beschäftigt, der schon religionsphänomenologisch wichtig ist. Bei der Fehlanzeige darf es jedoch auf die Dauer nicht bleiben. Ein solches Bemühen dient dem besseren Verständnis untereinander. So darf gleichsam als Zusammenfassung formuliert werden: Je besser ein Prinzip des Katholischen verwirklicht wird, um so mehr wird die wahre Ökumene gefördert. Wenn „katholisch“ keine Konfessionsbezeichnung ist, können auch andere Kirchen als die römisch-katholische Kirche an dieser Katholizität teilhaben - wenn sie wollen. Dann gilt auch umgekehrt: Wo wahre Ökumene gepflegt und gelebt wird, vollzieht sich mehr und mehr eine lebendige Katholizität.

Dies gilt nicht weniger für das Grundwort „Evangelisch“, wie ich mehr im ersten Teil dargelegt habe. Darum müssen beide, ob sie es wollen oder nicht, den Dialog bis in die letzten Tiefen austragen. Dies schließt einen liebenden Streit und auch einen Wettbewerb in der Wahrheit und in der Liebe, aber auch eine immer breitere und tiefere Zusammenarbeit und wachsende kirchliche Einheit ein. Weder „Evangelisch“ noch „Katholisch“ ist jeweils ein bequemes Etikett. Beide zusammen bilden die Mitte einer großen Herausforderung, die die Welt von uns erwartet.

Redemanuskript - es gilt das gesprochene Wort!

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz