Zwiespältiger Umgang mit der Wahrheit

„Auf ein Wort": Gastkommentar für die Bistumszeitung "Glaube und Leben", September 2010

Datum:
Montag, 6. September 2010

„Auf ein Wort": Gastkommentar für die Bistumszeitung "Glaube und Leben", September 2010

In der Mainzer Universitätsklinik sind drei Säuglinge gestorben, nachdem sie eine verunreinigte Infusion erhalten hatten. Tagelang ist der Eindruck entstanden und vertreten worden, als wären die Mitarbeiter der Klinikapotheke schuld daran, dass Darmbakterien in die Nährlösungen gelangten. Dazu redeten alle noch, obgleich die Dinge nicht vermischt werden sollten, über Krankenhaus- und Klinikhygiene.

Nun stellte sich heraus, dass die Verkeimung schon viel früher geschah und die Verantwortlichen vor Ort nicht fehlerhaft arbeiteten. Tagelang wurde spekuliert, was evtl. die Ursache gewesen ist: Mitarbeiter hätten sich nach dem Gang zur Toilette nicht die Hände gewaschen; sie hätten keine Handschuhe getragen; im Handschuh wäre ein Loch gewesen. Man könnte dies leicht fortsetzen. Die Klinikleitung hatte sehr besonnen reagiert.

Nun kam alles ganz anders. Zu Beginn dieser Woche beschäftigt sich kaum mehr jemand mit dem ganzen Vorfall. Nur sehr wenige Kommentare kamen nochmals auf die Affäre zurück. Dabei darf es aber nicht einfach bleiben. Durch unbegründete Mutmaßungen über angebliche Schuldige werden Menschen in vieler Hinsicht belastet. Einrichtungen, in denen man sich Tag und Nacht um kranke Menschen kümmert, sind mit einem allgemeinen Verdacht auf grundlegende unhygienische Verhältnisse überzogen worden.

Es besteht kein Zweifel, dass wir eine freie Presse brauchen, die gerade unliebsame Dinge aufdeckt und an den Tag bringt. Dies gehört zu einer Demokratie. Infolge schwieriger Sachverhalte, die noch nicht aufgeklärt sind, durch den Wettbewerb der Me-dien und nicht zuletzt durch die Eile geschehen gewiss verfrühte Urteile und auch Fehler. Es ist wichtig, dass man das alles wieder korrigiert. Dies gehört zum täglichen Geschäft der Medien.

Der Fall mit den drei toten Babys geht aber schon in das Grundsätzliche. Es gibt heute oft eine Hemmungslosigkeit des Verdachtes, der bereits geäußert wird, bevor auch nur Anhaltspunkte dafür vorliegen. Ich weiß, dass die Presse von einem solchen Hinterfragen und diesem Misstrauen lebt, aber die Medien müssen sich dennoch an die Unschuldsvermutung halten, bis ein gediegenes Urteil möglich ist. Es gab viele Vorverurteilungen, die plötzlich alle wie ein Kartenhaus zusammenfielen. Dann kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, d.h. zum nächsten Fall und zur nächsten Sensation. Es bedarf einer grundlegenden kritischen Selbstreflexion, wie man in einer solchen Situation vorgeht. Dies hat fundamental etwas mit der Ethik der Massenkommunikation zu tun.

Man muss diese Vorgänge noch in anderer Hinsicht bedenken. Denn manchmal sind auch staatliche Stellen an einer verfrühten öffentlichen Meinungsbildung beteiligt. Ich meine ausdrücklich nicht die Mainzer Staatsanwaltschaft im Fall der toten Babys. Sie hat sehr überlegt gehandelt. Heute wird in vielen Fällen schon über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens berichtet. Staatsanwälte halten über ihre Ermittlungen Pressekonferenzen, wie es früher nicht üblich war. Es gibt genügend prominente Bei-spiele aus der letzten Zeit, wo dies geschehen ist. Man darf sich freilich nicht wundern, dass dann, wenn die Justiz selbst schon bei einem Anfangsverdacht in die Öffentlichkeit geht, die Medien darüber berichten. Man kann dann nur noch die Fragen stellen: Muss ein so frü-her Gang in die Öffentlichkeit sein? Wie wird berichtet? Wird genau so aufmerksam gemeldet, wenn z.B. ein Ermittlungsverfahren eingestellt wird?

Natürlich gilt dies alles nicht nur für die Ebene der Medien und der Politik. Angestoßen durch das öffentliche Klima gehen auch wir alle leichtfertiger um mit Gerüch-ten und Anschuldigungen, Vermutungen und Spekulationen. Auch da tut uns Zurückhaltung gut, bis wir eine größere Klarheit und Wahrheit finden. Deswegen geht es keineswegs nur um Verir-rungen unserer Zeit oder gar nur der Medien. Schon der nüchterne Jakobusbrief gibt uns hier eine zeitlose Mahnung: „Auch die Zunge ist ein Feuer, eine Welt von Ungerechtigkeit. Die Zunge ist ein Teil, der den ganzen Menschen verdirbt und das Rad des Lebens in Brand setzt; sie selbst aber ist von der Hölle in Brand gesetzt ... Doch die Zunge kann kein Mensch zähmen, dieses ru-helose Übel, voll von tödlichem Gift ... Aus ein und demselben Mund kommen Segen und Fluch. Meine Brüder, so darf es nicht sein." (Jak 3,6-10)

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz