Schaut hin – Haltung und Aufgabe im Miteinander der Konfessionen

Predigt zum Ökumenischen Kirchensonntag am 7. Februar 2021, Friedberg

Weihbischof Bentz predigt beim ökumenischen Gottesdienst in Friedberg web (c) media.aufdemkamp.de
Weihbischof Bentz predigt beim ökumenischen Gottesdienst in Friedberg web
Datum:
So. 7. Feb. 2021
Von:
Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz

Schwestern und Brüder,

wahrscheinlich kennen Sie auch so etwas. Ich bin Linkshänder. Da bin ich wie lange mit einem Kollegen zusammen und dann fällt diesem irgendwann auf, dass ich mit links schreibe. „Das ist mir bei Dir ja noch nie aufgefallen!“ – so sagt er dann. Auch mir passiert das immer wieder. Da bin ich alltäglich mit Menschen zusammen, die mir vertraut sind, die ich oft ansehe. Und irgendwann fällt mir etwas am Anderen auf, was ich vorher nie wahrgenommen habe. Oder ein anderes Beispiel: Man geht tagtäglich denselben Weg entlang und eines Tages fällt einem an einer Ecke etwas auf, was man vorher noch nie gesehen, wahrgenommen hat.

Und wenn Vorsicht angesagt ist und oder wichtige Entscheidungen anstehen, dann sagen wir: „Schau lieber zweimal hin!“ Wir meinen: Schau ganz genau hin. Lass dich nicht vom ersten oberflächlichen Eindruck täuschen. Mit unsrer Wahrnehmung ist das so eine Sache: Sie spielt uns anscheinend oft einen Streich. Wir nehmen manchmal etwas wahr, was gar nicht da ist. Und manchmal nehmen wir nicht wirklich wahr, was tatsächlich da ist. „Schau hin!“ Schau wirklich hin! Schau genau hin!

So etwas erlebe ich auch, wenn ich die Bibel zur Hand nehme und bei der Schriftmeditation die vertrauten Texte der Evangelien lese. Eigentlich – so würde ich behaupten – kenne ich sie in- und auswendig. Dann aber passiert es doch, dass ich beim Lesen plötzlich stocke, weil ich über ein Wort oder eine Formulierung stolpere, die mir vorher noch nie so aufgefallen ist. 

Schau hin!

Das sind zwei Worte aus der Erzählung über die Brotvermehrung aus dem Markusevangelium, die mir erst so richtig auffallen, seit ich weiß, dass diese beiden Worte das Leitwort für den 3. Ökumenischen Kirchentag abgeben. Zuvor habe ich diese Worte wahrscheinlich gedankenlos überlesen, jedenfalls bin ich noch nie wirklich an ihnen hängen geblieben. Die Jünger sind ratlos, wie sie die Menschenmenge versorgen können. Wie soll man das bewältigen: So viele Menschen satt machen? Das ist nicht zu bewältigen. Jesus hingegen ist gelassen. Geht! Schaut hin, was es denn überhaupt gibt. Schaut hin, was da ist. Schaut hin, was Sache ist! Dann sehen wir weiter.

Die Jünger schauen hin auf das, was ist: fünf Brote, zwei Fische. Mehr nicht! Und sie sind ratlos. Sie schauen auf das, was ist und sehen den Mangel: zu wenig für zu viele! Das sind auch wir. Wir nehmen den Mangel wahr: das, was nicht ist; das, was noch nicht ist; das, was zu wenig ist – das ist oft auch eine der Sichtweisen auf das Miteinander der Konfessionen: Wir schauen hin und haben sofort ein Urteil: zu wenig an Fortschritt in der Ökumene, zu wenig an Erfolg, zu wenig Interesse in der Breite; zu wenig Verständnis füreinander; zu wenig Übereinstimmung zwischen dem, was schon vor Ort gelebt und dem, was von den Verantwortlichen der Kirchenleitungen möglich gemacht wird. Wir schauen hin und kommen zu dem Urteil: zu wenig. Die Konsequenzen daraus sind unterschiedlich: die einen zucken gleichgültig die Schultern, die anderen resignieren, wieder andere wollen auf Biegen und Brechen nicht akzeptieren, was ist. Wieder andere fühlen sich überfordert. Wir verhalten uns heute nicht viel anders als die Jünger damals.

Und Jesus? Er sieht die vielen Menschen. Er schaut auf sie, auf ihre Bedürfnisse, auf ihre Not, auf ihre Erwartungen und er spürt: ich muss etwas tun. Er resigniert nicht. Er zuckt nicht mit der Schulter. Er wird auch nicht ärgerlich. Was mich immer wieder an Jesus fasziniert ist seine Gelassenheit – auch in den herausfordernden Situationen.

Er sieht die Not der vielen und er sieht das Wenige, das da ist. Und was macht er? Er nimmt das Wenige –jetzt wird es interessant – und schaut. Aber das Wenige, das er in Händen hält, das beklagt er nicht. Das Wenige in der Hand schaut er zum Himmel! Und er dankt! 

Das Wenige in der Hand, schaut er in den Himmel und dankt!

Das ist die „Sehschule“, in die Jesus seine Jünger und mit ihnen auch uns mitnimmt. Schau hin, was ist. Schau zum Himmel und danke!

Ist das die Grundhaltung in unserem ökumenischen Miteinander, das zukunftsfähig ist, das uns in die Zukunft führt und weiterbringt? Ich würde sagen ja! Natürlich! Denn es ist eine Grunddynamik der biblischen Erzählungen und eine immer wiederkehrende Erfahrung mit Gott: Er schaut hin und sieht die Not, das Bedürfnis, die Sehnsucht, die Erwartung, die Hoffnung seines Volkes. Und er antwortet darauf: Aus wenigem wird viel, aus dem Defizit wird Überfluss, aus dem Leblosen wird Lebendiges! Das Manna in der Wüste, das Wasser aus dem Fels, der Mehlkrug der Witwe von Sarepta, der Wein bei der Hochzeit von Kanaa. Der Tod am Kreuz, aus dem österliches Leben wird: die Grunddynamik der biblischen Erzählungen.

Die Menschen sehen und ihr inneres Urteil ist: Das geht nicht! Gott sieht und sein Blick sagt: Alles ist möglich! Darin wurzelt die Gelassenheit Jesu! In seinem Vertrauen und Zutrauen, dass das, was ist, längst nicht das letzte Wort ist!

Schau hin! Wir übersehen schnell die oft so kleinen und unscheinbaren – aber guten – Ansätze. Wir wollen oft gleich aufs Ganze gehen – wir wollen oft gleich das Ergebnis im großen Stil. Wie oft sagen wir wie der Jünger Andreas bei der Brotvermehrung: „Was ist das schon!“ Jesu Weg ist ein anderer: Aus einer Haltung dankbarer Aufmerksamkeit übergeht er nicht die kleinsten und unscheinbarsten Ansätze, sondern er nimmt sie wahr und er dankt dafür… Da beginnt bereits das Wunder! Wie reich könnte unser Leben sein – wenn wir uns in einer solchen Dankbarkeit für das Unscheinbare und Kleine einüben würden. Wir sehnen uns nach dem Großartigen, wir warten auf das Besondere und währenddessen gehen wir achtlos an dem vorüber, was uns tagtäglich geschenkt wird. Das gilt auch für das Miteinander der ökumenischen Beziehungen.

Schau hin! Ich kann es wagen, genau und nüchtern hinzusehen. Ich muss mir nichts vormachen. Dazu fordert Jesus auf: Schauen wir ehrlich hin auf das, was da ist. Nehmen wahr, was zu wenig ist. Nehmen wahr, was die Sehnsucht ist. In unserem ökumenischen Miteinander sollen wir auch dahin schauen, was noch nicht gemeinsam ist. Schauen wir auf das, wo wir nicht mit einer Stimme sprechen. Tun wir nicht so, als gäbe es das nicht. Obwohl es doch so notwendig wäre, als Christen im Diskurs der Meinungsbildung mit einer Stimme auf manche gesellschaftliche Entwicklung zu schauen. Ich will nur zwei Beispiele nennen: Sprechen wir wirklich mit einer Stimme und sind wir wirklich eins im Blick auf die derzeit virulente Frage des assistierten Suizids? Auf die Frage nach dem unbedingten Schutz des Lebens und der Würde gerade des Hilflosen am Beginn und am Ende des Lebens? Schauen wir auch ehrlich hin auf das, was nicht ist. Das gilt auch bei der Frage nach dem gemeinsamen Abendmahl. Sind wir ehrlich mit dem, was unsere Sehnsucht nach dem gemeinsamen Abendmahl ist und dem, was tatsächlich ist? Was eint uns und was unterscheidet uns wirklich, nicht nur in der Lehre, sondern auch in der realen Praxis.

Schärfen wir unseren Blick auf das, was da ist. Schauen wir aber hin in der Haltung Jesu: das Wenige in den Händen – den Blick zum Himmel – in dieser Haltung danken, dann alles, was möglich ist, teilen, und dann sehen, was geschieht – getragen von der gemeinsamen Hoffnung und dem gemeinsamen Vertrauen: Gott hat Möglichkeiten, die unsere Sicht übersteigt. Und das Wunder nimmt seinen Verlauf!

Pfarrein Claudia Ginkel und Dekan Stefan Wanske segnen die Gläubigen zum Abschluss des ökumenischen Gottesdienstes

Pfarrerin Claudia Ginkel und Dekan Stefan Wanske web (c) media.aufdemkamp.de