Umkehr heißt: zurück und nach vorne schauen…

Predigt zum Aschermittwoch, 22.02.2023, 8.15 Uhr Mainzer Dom

Nach vorne und zurück schauen (c) Mohammed | stock.adobe.com
Nach vorne und zurück schauen
Datum:
Mi. 22. Feb. 2023
Von:
Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz, Generalvikar

„Schmutzige Wäsche muss man nicht zeigen, man muss sie waschen…“ - das war eine der Devisen, die auf der Kontinentalsynode in Prag vor gut einer Woche von einer der Delegationen aus Osteuropa ausgegeben wurde - wenn man den Zeitungen glauben kann. „Muss das Thema so in der Öffentlichkeit immer und immer wieder in den Mittelpunkt gerückt werden?“ Das dürfte die skeptische Grundhaltung dahinter sein. Ende nächster Woche wird Rechtsanwalt Weber mit der Studie EVV zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Bistum Mainz an die Öffentlichkeit gehen. Viele von uns haben ein mulmiges Gefühl - die Anspannung ist bei vielen von uns groß: Was kommt auf uns zu? In welchen Abgrund werden wir blicken müssen? Eine neue Studie in der Öffentlichkeit - wieder eine schwierige Presse. Muss das so und in dieser Öffentlichkeit geschehen? Das fragen sich manche auch bei uns. Fast im Monatsrhythmus werden die Aufarbeitungsstudien der einzelnen Bistümer der Öffentlichkeit vorgestellt - vor zwei Wochen Essen, nächste Woche wir, vier Wochen später Freiburg. Damit wird das Thema in der medialen Öffentlichkeit nahezu ständig perpetuiert. Stimmt es vielleicht doch: „Schmutzige Wäsche muss man nicht zeigen, man muss sie waschen…“? Und zeigt das Evangelium vom Aschermittwoch nicht in die gleiche Richtung, wenn Jesus eindringlich davon spricht, dass Umkehr im Verborgenen zu geschehen hat und nicht vor sich her getragen werden kann?

Ich bin dezidiert anderer Auffassung. Zu viel Leid ist im Verborgenen geschehen. Zu viel hat man versucht verborgen zu halten. So wurde Leid nicht wahrgenommen, sondern perpetuiert und verharmlost. Es gibt nämlich auch das andere Wort Jesu, wenn er uns einschärft: „Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht bekannt wird und an den Tag kommt.“ (Lk 8,17) Und an anderer Stelle: „Deshalb wird man alles, was ihr im Dunkeln redet, am hellen Tag hören, und was ihr einander hinter verschlossenen Türen ins Ohr flüstert, das wird man auf den Dächern verkünden.“ (Lk 12,3)

Ja, wahrscheinlich wird es eine Zumutung sein, was wir von Rechtsanwalt Weber hören werden und in der Studie lesen können - für alle Beteiligten in unterschiedlicher Weise. Wir versuchen uns - so gut es geht - darauf vorzubereiten und darauf einzustellen, ohne dass wir schon wissen, was die konkreten Inhalte der Studie sind. Wir müssen im Blick behalten, dass jede dieser Studien vor allem auch für die von sexualisierter Gewalt Betroffenen eine neue Zumutung, eine neue Konfrontation mit ihrem Leid - eine neue Verwundung sein kann. Ja, es wird auch andere treffen, weil sie schmerzhaft ihren eigenen Anteil an diesem Leid durch ihr Handeln, durch Wegsehen, durch falsche Solidarisierung oder anderes Verhalten erkennen müssen. Die Studie wird wahrscheinlich nicht nur Einzelne in den Blick nehmen. Das Anliegen ist, die systemischen Zusammenhänge, Rollen und Selbstverständnis von Verantwortlichen aber auch die Dynamiken im Umfeld, in den Pfarreien, unter den Hauptamtlichen und in den Gemeinschaften in den Blick zu nehmen. Nicht nur Einzelne stehen dabei im Fokus. Es wird auch deutlich werden, wie das Umfeld reagiert hat. Die Studie wird damit uns allen (!) einen Spiegel vorhalten. Die Studie wird für uns im Bistum nicht einfach eine „Befreiung“ sein nach dem Wort: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ - das in gewisser Weise bestimmt auch. Sie wird vor allem aber und zuerst ein Anspruch und eine Herausforderung an unsere gemeinsame Bereitschaft zur Umkehr sein - mitten in der österlichen Bußzeit, die mit dem heutigen Aschermittwoch beginnt und weit über die österliche Bußzeit hinaus.

Und Umkehr hat zur Bedingung und setzt voraus, dass wir anerkennen, was war; dass wir wahrnehmen und aushalten, was nicht gut sondern falsch war; was vielleicht gute Absicht und dennoch Versagen mit verheerenden Folgen war. In welchen Ambivalenzen menschliches Handeln steckt. Das aber setzt voraus, dass wir uns eingestehen, wo wir selbst blinde Flecken hatten und vielleicht bis heute haben, wie der Beter im Psalmwort inständig ruft: „Sprich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist.“ (Ps 19, 13) Nur, wenn wir bereit sind, der ganzen Wahrheit ins Gesicht zu schauen, sie an uns heran zu lassen, uns sagen zu lassen, was wir so noch nicht wissen - nur dann kann in uns eine Bereitschaft und eine Kraft wachsen, die notwendigen Schritte der Umkehr und der Veränderung zu gehen. Es geht also gerade nicht darum, detailliert aufzulisten und „aufrechnen“ - und damit auch abzurechnen.

Nur wer ehrlich bereit ist, sich der Vergangenheit zu stellen, kann auch aufrichtig in die Zukunft gehen! Mit der Vorstellung der EVV-Studie gehen wir diesen Schritt. Und dann liegt es an uns, wie Umkehr aussieht. Es wird nicht darum gehen können, Beteuerungen auszusprechen. Umkehr besteht auch nicht in der Formulierung von Absichtserklärungen. Ein medienwirksames „Asche auf unser Haupt“ - das genügt nicht. Das nimmt man uns auch nicht ab. Das ist schon zur Genüge geschehen. Und selbst an diesem Punkt lauert die Versuchung sich zu profilieren. Selbst an diesem Punkt müssen wir selbstkritisch sein gegenüber unsrer eigenen möglichen Eitelkeit. Das weiß Jesus genau. Er kennt den Menschen, wie er wirklich ist. Auch wenn von außen Umkehr initiiert wird. Der echte Wendepunkt der Umkehr liegt immer in dir selbst! Und genau hier hat das Wort Jesu seinen Platz: „Dein Vater, der auch das Verborgene sieht …“ -

Wer wirklich aufbricht zur Umkehr - der ist bereit, in den Abgrund zu schauen und sich die Augen öffnen zu lassen. Aber wer umkehrt, macht die Dinge nicht mit sich selbst aus. Sondern: Wer umkehrt, erkennt an einem bestimmten Punkt: „Im Innersten meines Gewissens steh‘ ich - stehen wir - ungeschminkt vor Gott. Herr, sieh mich an! Herr, sieh uns an!“ Und der Christ weiß, dass dieser Blick Gottes auf uns auch in dieser Situation ein liebender Blick ist. Aber - und da gibt es oft eine Schieflage in unsrer Verkündigung - dieser liebende Blick Gottes auf uns ist keine billige Barmherzigkeit - dieser liebende Blick Gottes auf den, der umkehrt, fordert und ermutigt. Er deckt nicht zu, sondern auf. Er erspart es uns nicht, dass wir die Mühen der Veränderung auf uns nehmen. Aber er gibt die Kraft dazu, es tatsächlich anders zu machen als bisher. Umkehr ist also weit mehr als ein innerer Gesinnungswandel. Ob wir wirklich umkehren, wird man daran messen, was sich tatsächlich ändert. Deswegen schauen wir nicht nur zurück. Entscheidend ist, wie wir nach vorne schauen und weitergehen! Was wir hier im Blick auf die EVV-Studie betrachten, das ist die geistliche Dynamik einer jeden Umkehr, ob persönlich oder gemeinsam als Institution. Die Vorstellung der EVV-Studie wird uns auf einen solchen Weg der Umkehr schicken. Die „Hausaufgaben“, die sich aus dem Blick in den Abgrund ergeben und die innere Haltungsänderung wird uns die Studie nicht abnehmen. Das wird unser Weg sein - weit über die österliche Bußzeit hinaus.