Schmuckband Kreuzgang

Wort zur Woche

St. Martin

Wort zur Woche (c) D. Thiel
Wort zur Woche
Datum:
Mo. 17. Nov. 2025
Von:
Dietmar Thiel

In jeder StadtPost Neu-Isenburg gibt es ein „Wort der Woche". Pfarrerinnen, Pfarrer und Vertreter der Kirchengemeinden aus Neu-Isenburg teilen ihre Gedanken zur Jahreszeit, zu Entwicklungen in unserer Gesellschaft oder zu Dingen, die sie aus christlicher Sicht bewerten, mit.  

In der Ausgabe: Jahrgang 41, Ausgabe Nr. 46, Samstag, 15. November 2025, veröffentlichte die StadtPost folgenden Artikel:

St. Martin

Wenn im November, wie in den vergangenen Tagen die Laternen leuchten, Kinder mit Liedern durch die Straßen ziehen, dann ist sie wieder da: die Szene von Amiens, die in das kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt ist. St. Martin teilt seinen Mantel. St. Martin teilt. Er hält etwas zurück, aber er hält auch etwas hin. Er bewahrt, aber er verschenkt. Zwischen beidem liegt eine kleine Ewigkeit der Entscheidung. Ein Moment, in dem sich Menschlichkeit entzündet. Es ist leicht, den Heiligen zu romantisieren – den milden Bischof mit der Gans an der Seite, den Patron der Armen und Soldaten. Doch die Szene von Amiens erzählt etwas anderes: einen kurzen, fast unbeholfenen Augenblick, in dem ein Mensch sich stören lässt. Denn er hätte ja weiterreiten können. Wie viele reiten vorbei – damals wie heute? Man hat Gründe, Termine, Zuständigkeiten. Und doch: Irgendetwas in Martin lässt ihn halten, lässt ihn hinsehen. Vielleicht war es gar nicht die große Überlegung, sondern ein Reflex des Herzens. Ein Zögern, ein Impuls, eine spontane Wärme. Und dieses Zögern verändert alles. Die Welt ändert sich selten durch große Strategien. Aber sie wandelt sich in den kleinen Unterbrechungen, in den Momenten, in denen einer innehält und sagt: Ich sehe dich. Der Mantel, den Martin teilt, war kein privater Besitz. Zur Hälfte gehörte er dem römischen Staat. Er schenkt also nicht nur etwas Eigenes her, sondern auch etwas, das ihm gar nicht ganz gehört. Und darin steckt eine subtile Pointe: Teilen ist nie nur Privatsache. Es hat immer eine gesellschaftliche Dimension. In einer Zeit, in der sich Wohlstand, Sicherheit und Ressourcen ungleich verteilen, klingt das fast provokant. Teilen bedeutet nicht nur Mildtätigkeit, sondern auch Verantwortung. Vielleicht war Martins Geste unbewusst politisch – eine kleine subversive Tat gegen eine Weltordnung, die auf Macht und Besitz gründet. Teilen heißt: Ich lasse mich stören von der Not des anderen. Ich durchbreche das System, das mich schützt, und öffne eine Naht. Der Mantel bekommt einen Riss, und genau durch diesen Riss fällt Licht.

Martin Berker, Pfarrer in Neu-Isenburg