Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811–1877)

1849–1850 Fürstbischöflicher Delegat in Berlin (Diözese Breslau)

1850–1877 99. Bischof von Mainz

 

Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler wurde am 25.12.1811 als viertes von neun Kindern des ehemaligen Landrates Maximilian Freiherr von Ketteler-Harkotten und seiner Ehefrau Klementine Freiin von und zu Wenge-Beck in Münster geboren. Durch beide Elternteile der westfälischen Adelsgesellschaft verbunden, hat Ketteler die Kontakte zu seiner weitverzweigten Verwandtschaft zeit seines Lebens intensiv gepflegt. Nach dem ersten häuslichen Unterricht und dem Besuch einer Lateinschule vertrauten die Eltern den nicht leicht zu erziehenden Ketteler 1824–28 dem von vielen westfälischen Adelsfamilien beschickten Internat der Jesuiten in Brig (Wallis) an. Nach der Rückkehr in die Heimat und dem Abiturientenexamen studierte Ketteler seit 1829 in Göttingen, dann in Berlin, Heidelberg und München Rechts- und Staatswissenschaften, um nach dem juristischen Staatsexamen zunächst 1834–35 in Münster seinen Militärdienst abzuleisten. 1835 wurde er Referendar am Land- und Stadtgericht zu Münster.

Durch die als absolutistischer Eingriff des Staates in die kirchlichen Belange empfundene Verhaftung des Kölner Erzbischofs Klemens August Droste zu Vischering veranlaßt, verließ Ketteler 1838 wie sein Freund Melchers den ungeliebten Staatsdienst, entschied sich aber erst nach längerem Ringen und einem Münchener Aufenthalt, der ihm Zugang zu dem Kreis um Joseph von Görres verschaffte, sowie nach der Konsultation von Bischof Reisach 1841 für den geistlichen Stand. Da der erhoffte Eintritt in das Collegium Germanicum nicht möglich war, studierte er seit 1841 nach einem Zwischenaufenthalt in Eichstätt und nach Exerzitien bei den Innsbrucker Jesuiten unter der Leitung Windischmanns zusammen mit seinem Bruder Richard in München. Johann Adam Möhlers Symbolik hatte er bereits 1834 gelesen und sich deren organisches Kirchenbild zu eigen gemacht. Damit verband er nun durch das Studium der scholastischen Theologie den Sinn für klare Normen. 1843 wechselte Ketteler in das Münsteraner Priesterseminar über, und am 1.6.1844 wurde er zum Priester geweiht.

Ketteler wurde bereits auf seiner ersten Stelle als Kaplan in dem münsterländischen Bekkum mit den sozialen Nöten konfrontiert und zu praktischer Sozialarbeit herausgefordert. Er hat insbesondere die Gründung eines katholischen Hospitals betrieben. Mit seinem Mitkaplan Brinkmann lebte er in Vita communis. Bereits 1846 wurde Ketteler Pfarrer in Hopsten (2000 Katholiken) und wiederum mit schweren sozialen Problemen befaßt. Im Frühjahr 1848 zog dann der für den Gedanken der Selbstverwaltung begeisterte und streng antiabsolutistische Ketteler als Abgeordneter der Kreise Tecklenburg, Warendorf und Rheine in die Frankfurter Nationalversammlung ein, wo er, von der Lebenskraft einer von äußeren Fesseln befreiten Kirche überzeugt, vor allem für die konstitutionelle Verankerung der Kirchenfreiheit eintrat. Ketteler hat nach dem Abschluß der entsprechenden Debatte, als Preußen bereits eine oktroyierte Verfassung und damit die Kirchenfreiheit erhalten hatte, Frankfurt verlassen und im Januar 1849 sein Mandat niedergelegt.

Ketteler war als Abgeordneter für die Anliegen der liberalen Bewegung offen und hat seinen Platz zunächst auf dem linken Flügel der Versammlung gesucht, ehe er sich dem von Fürstbischof Diepenbrock gegründeten Katholischen Klub anschloß. Daher hat er auch für die Abschaffung des Adels und für die Anerkennung der Volkssouveränität plädiert, die ihm freilich an vorgegebene Rechte gebunden blieb. Während Ketteler sich später vom Liberalismus weit entfernt hat, hat er an den 1848 formulierten Grundrechten stets festgehalten und bereits damals wie später im Kulturkampf einer evtl. Trennung von Kirche und Staat den Vorzug vor der staatlichen Einwirkung in die kirchlichen Interna gegeben.

Ketteler wurde von Frankfurt aus erstmals einer weiteren Öffentlichkeit bekannt, der er seine zentralen Ideen wort- und schriftmächtig vortrug. In der Nationalversammlung selbst hat er nur einmal und zwar über das Recht der Eltern und der Kirche auf die Schule gesprochen. Dazu erhielt er den ehrenvollen Auftrag, den beim Aufstand ermordeten Abgeordneten die Leichenrede zu halten. Im benachbarten Mainz hat er wenig später auf dem ersten deutschen Katholikentag und dann wieder in sechs Adventspredigten die Soziale Frage in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt. In seiner ganz auf das Praktische gerichteten Art hat er sie damals zwar noch nicht als Begleiterscheinung der Industrialisierung begriffen, sie andererseits aber doch in Beziehung zu den politischen Verhältnissen gesetzt.

Dem Kontakt zu dem Berliner Geheimen Oberregierungsrat Matthias Aulike und zu Diepenbrock, denen er im Katholischen Klub begegnet war, verdankte Ketteler im Frühjahr 1849 seine Berufung als Propst und Fürstbischöflicher Delegat für Brandenburg und Pommern nach Berlin/St. Hedwig, die er nur zögernd annahm. Obwohl der Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt, in der Ketteler nun auch mit den Problemen der norddeutschen Diaspora bekannt wurde, eine Episode blieb, hat er doch insofern große Bedeutung gehabt, als er Ketteler den Weg nach Mainz ebnete. Ketteler hat auch in Berlin die katholischen Anstalten tatkräftig unterstützt und 1850 in der preußischen Hauptstadt erstmals wieder eine öffentliche Fronleichnamsprozession gehalten.

In Mainz hatte die ultramontane Gruppe um Domkapitular Lennig 1849 die päpstliche Bestätigung des rechtens zum Bischof gewählten Gießener Theologieprofessors Leopold Schmid verhindert, da sie nach dem Episkopat von Bischof Kaiser eine kirchenpolitische Neuorientierung wünschte, die ihr der als gouvernemental geltende Schmid nicht garantierte. Durch Reisach beraten, wählte die Kurie dann aus der ihr vom Kapitel präsentierten Terna Ketteler. Dessen Bestätigung erfolgte am 15.3.1850. Der Berliner Propst hat sich zwar anfänglich unter Hinweis auf seine nur kursorische theologische Bildung ernstlich gegen diese Berufung gesträubt, sie dann aber schließlich angenommen und seitdem das kirchliche Mainz für die Zeit seines langen Episkopates in den Mittelpunkt des katholischen Deutschland gerückt. Am 25.7.1850 ließ er sich in Mainz durch Erzbischof Vicari konsekrieren.

Kettelers Erhebung auf den Mainzer Bischofsstuhl war auch ein Ergebnis der kirchlichen Freiheitsbewegung des Jahres 1848, die freilich im Großherzogtum Hessen-Darmstadt im Gegensatz zu Preußen ebensowenig wie in den anderen Staaten der Oberrheinischen Kirchenprovinz zum Ende der staatlichen Kirchenhoheit geführt hatte. Ketteler hat zwar an den Beratungen und Denkschriften der Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz seit 1851 maßgeblichen Anteil gehabt und 1854 im badischen Kirchenstreit vergeblich zu vermitteln gesucht; in seinem eigenen Sprengel hat er jedoch in vertraulicher Zusammenarbeit mit dem konservativen Ministerpräsidenten Reinhard Freiherrn von Dalwigk den Weg des praktischen Kompromisses beschritten.

Den spektakulären Auftakt seines auf die Kirchenfreiheit bedachten Kurses bildete die 1851 von Ketteler ohne Verständigung mit der Regierung vorgenommene Wiedererrichtung der theologischen Lehranstalt im Mainzer Priesterseminar. In Anknüpfung an das einst von Bischof Colmar gegründete Seminar reklamierte er damit die Priesterausbildung als ausschließlich bischöfliche Angelegenheit. Damit hat er faktisch das Ende der 1830 an der hessischen Landesuniversität in Gießen gegründeten Theologischen Fakultät ausgelöst und die Heranbildung eines streng kirchlichen Klerus ermöglicht. Die Regierung hat diese Entscheidung hingenommen und sich 1854 mit Ketteler vertraulich auf eine „Vorläufige Übereinkunft“, also einen Modus vivendi, geeinigt, der die staatliche Kirchenhoheit in vielen Punkten weiter zurücknahm, die Billigung der auf ein Konkordat drängenden Kurie aber ebensowenig erhielt wie eine im gleichen Jahr von Bischof Lipp mit der württembergischen Regierung abgeschlossene „Übereinkunft“. Ketteler hat die römische Verwerfung, die dann freilich in eine Duldung umgewandelt wurde, als bitter empfunden, da er die „Übereinkunft“ als optimal ansah. Sie ist formell bis 1866, faktisch aber bis 1875 in Geltung geblieben.

Ketteler hat im Rahmen des ihm gegebenen Spielraumes eine beachtliche Aktivität entwickelt. 1851 gründete er die Diözesankongregation der Schwestern von der göttlichen Vorsehung für Schule und Krankenpflege. 1854 veranlaßte er die Gründung eines Kapuzinerklosters, 1859 die einer Jesuitenniederlassung in Mainz. Auf institutionellem Gebiet gelang es ihm, gegen liberalen Widerspruch, in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Darmstädter Regierung, das katholische Schulwesen erheblich auszubauen. Kettelers Interesse galt ferner der Förderung der Volksmissionen, während er selbst auf zahlreichen Firmungsreisen, u.a. auch in Baden für den greisen Vicari, mit dem Kirchenvolk bekannt wurde.

Ketteler hat wie kein deutscher Bischof seines Jahrhunderts in die Diskussion wichtiger Zeitfragen eingegriffen und ist dadurch weit über sein relativ kleines Bistum (ca. 220.000 Katholiken) hinaus bekanntgeworden. Seine Kandidaturen als Koadjutor für Freiburg (1851), als Fürstbischof von Breslau (1853) und Erzbischof von Köln (1864) scheiterten am Widerspruch der betreffenden Regierungen, die den kämpferischen Bischof fernzuhalten suchten.

Ketteler hatte sich 1848 aus seiner antiabsolutistischen Grundhaltung heraus auf die Seite der liberalen Bewegung gestellt, für die Freiheit der Person, der Korporationen und damit zugleich für die Kirchenfreiheit gefochten. Als der Liberalismus sich dann jedoch seit dem Ende der 1850er Jahre neu formierte, sich für die Lösung der deutschen Frage unter der Führung Preußens entschied und die kirchlichen Freiheitsrechte zu beschneiden suchte, bezog Ketteler Front dagegen. Aus seiner Sicht war der Liberalismus, insofern er der Kirche im Widerspruch zu seinen eigenen Freiheitspostulaten die Freiheit verweigerte, sich selbst untreu geworden. Ketteler hat sich selbst nach wie vor als „wahren“, an vorstaatliche Rechte und insbesondere an die Offenbarung gebundenen Liberalen verstanden. Aus dieser Grundhaltung hat er sich auch für einen freiheitlichen Katholizismus eingesetzt und sich gegen innerkirchlichen Widerspruch vor und nach dem Syllabus (1864) für die Religions- und Gewissensfreiheit ausgesprochen. Sein primäres Anliegen galt freilich der Kirchenfreiheit, die er in der preußischen Verfassung optimal verankert sah. Daher hat er sich für ihre Übernahme sowohl in die Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867) wie als Reichstagsabgeordneter (1871–72) in die Reichsverfassung ausgesprochen, ohne mit seinem Anliegen durchzudringen. Die im Verlauf des Kulturkampfes 1873 vorgenommene Streichung der Kirchenartikel der preußischen Verfassung hat er als besonders gravierend empfunden.

Mehr als durch seine Liberalismuskritik ist Ketteler durch seine Stellungnahme zur Sozialen Frage bekannt geworden, die ihm den Titel eines „Arbeiterbischofs“ eintrug. Ketteler hat sich als Pfarrer und Bischof zunächst aus seelsorgerischen und caritativen Gründen mit der sozialen Problematik seiner Zeit beschäftigt, wobei zu bedenken ist, daß es im Bistum Mainz damals noch keine großen Industriezentren gab. Entsprechend seinem organologischen Gesellschaftsverständnis sah er für die im Kontext der liberalen Wirtschaftsordnung entstandenen sozialen Probleme eine Lösungsmöglichkeit in der Gründung von Produktiv-Assoziationen, die er auch selbst zu unterstützen suchte. Diesen Gedanken hat er seit dem Frankfurter Katholikentag von 1863 entwickelt und 1864 in seiner Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ einem weiteren Kreise vorgetragen. Ketteler entwarf dort zwar kein selbständiges sozialpolitisches Konzept, sondern griff Anregungen Ferdinand Lassalles auf, wirkte aber kraft seines bischöflichen Ansehens für ein gesteigertes Interesse an der Problematik. Da er mit Lassalle die Ursache für die Situation der Arbeiterschaft in den volkswirtschaftlichen Grundsätzen des Liberalismus suchte, übte er an deren Arbeiterpolitik vernichtende Kritik. Der Staat war nach seiner Auffassung an der Situation insofern mitschuldig, als er die liberale Wirtschaftsordnung zugelassen hatte. Dennoch forderte Ketteler 1864 noch keine staatliche Sozialpolitik, sondern lediglich Freiheit für die Selbsthilfe der Arbeiter und für das caritative Wirken der Kirche.

Während der folgenden Jahre hatte er sich dann allmählich mit dem Gedanken eines staatlichen Arbeiterschutzes vertraut gemacht und 1869 in einer Predigt auf der Liebfrauenheide bei Offenbach sowie in einem Referat vor der Fuldaer Bischofskonferenz für den gewerkschaftlichen Zusammenschluß der Arbeiter und eine staatliche Sozialgesetzgebung plädiert, da die traditionellen Maßnahmen auch bei größter Anstrengung der Notlage nicht mehr abhelfen konnten. Kettelers Anstrengungen sind zwar wegen der in den Vordergrund tretenden Fragen um das Erste Vatikanische Konzil und den Kulturkampf nicht unmittelbar zur Auswirkung gekommen, doch steht es außer Zweifel, daß er „dem Zentrum wie dem sozialen Katholizismus Deutschlands überhaupt den Weg von der allgemeinen Sozialreform zur partiellen staatlichen Sozialpolitik gewiesen hat“ (Iserloh).

Der dezidierte Großdeutsche Ketteler des Jahres 1848 hat sich 1866 nach langem Ringen realpolitisch für eine kleindeutsche Lösung und den Anschluß der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund ausgesprochen und damit in dieser für den deutschen Katholizismus wichtigen Frage eine unpopuläre, aber unerläßliche Stellungnahme nicht gescheut, dabei freilich auch Kritik an einem übertriebenen Preußentum geübt.

Ketteler hat sich vor und während des Ersten Vatikanischen Konzils zur Überraschung der römischen Kurie wie die Mehrzahl der deutschen Bischöfe gegen die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit ausgesprochen und für diese Überzeugung ohne Rücksicht auf seinen damit bei der Kurie verbundenen Prestigeverlust offen und engagiert gestritten. Dabei hat er, der als Exponent der katholischen Bewegung sonst eine durchaus romorientierte Politik betrieb, sich von der Sorge leiten lassen, die Überbetonung der von der bischöflichen Mitwirkung unabhängigen päpstlichen Lehrfunktion gehe zu Lasten des Episkopates. Auch in diesem Fall argumentierte er von seinem organischen Kirchenverständnis her. Aus diesem Grund hatte Ketteler bereits am Zustandekommen des Immakulatadogmas von 1854 Kritik geübt, und als seit 1867 die mögliche Definition der päpstlichen Infallibilität auf dem künftigen Konzil zur Sprache kam, hat er die Vorrangigkeit innerkirchlicher Reformen vor dogmatischen Entscheidungen betont. Diesen Standpunkt hat Ketteler, auf Gutachten des Würzburger Privatdozenten Franz Brentano und seines Domdekans Heinrich gestützt, auch auf der Fuldaer Bischofskonferenz von 1869 vertreten, dabei jedoch die Definition unter genau umrissenen Voraussetzungen nicht ausgeschlossen.

Der frostige Empfang, den man dem Vorkämpfer der Kirchenfreiheit daraufhin in Rom bereitete, hat diesen in seiner Überzeugung nicht irregemacht, sondern angesichts der Manipulationen der Definitionsbefürworter in seiner Gegnerschaft noch bestärkt. Ketteler hat sich zunächst gegen die vorgezogene Behandlung der Thematik an sich, als diese aber unausweichlich war, für eine Definitionsformel ausgesprochen, die, durch Schrift und Tradition gedeckt, den Papst in seiner Entscheidung nicht von der Kirche löste. Ketteler hat die Konzilsväter durch seine wiederholten Interventionen und darüber hinaus die Öffentlichkeit durch seine Veröffentlichungen tief beeindruckt. Dabei mußte er sich gleichzeitig gegen die Beeinflussung der öffentlichen Stimmung durch Ignaz von Döllinger wenden. Da Ketteler sich mit seinem Anliegen nicht durchsetzen konnte, stimmte er am 13.7.1870 mit placet iuxta modum für die umstrittenen Kapitel der Kirchenkonstitution und reiste zusammen mit 55 anderen Definitionsgegnern vor der entscheidenden Abschlußsitzung von Rom ab. Dennoch beugte er sich dem Votum der Mehrheit, publizierte relativ bald am 20.8. die Konzilsdekrete und nahm an der Bischofskonferenz vom September 1870, die die Beschlüsse des Konzils anerkannte und in einem Hirtenschreiben das Dogma aus der kirchlichen Tradition erklärte, tätigen Anteil.

Ketteler hat sich rückhaltlos in die Abwehrfront der deutschen Bischöfe gegen die aufkommende altkatholische Bewegung eingereiht, obwohl er mit dieser in seinem Bistum nicht unmittelbar konfrontiert war, andererseits aber im Frühjahr 1871 in einer Veröffentlichung zum Infallibilitätsverständnis die Anliegen der Konzilsminorität erneut betont und mit den Konzilsdekreten zu harmonisieren versucht, wobei er sich gleichzeitig scharf gegen die extensive Interpretation des Dogmas wandte. Seine Stellungnahme zur Infallibilität vor, während und nach dem Konzil läßt sich allerdings nicht vollständig vermitteln (Rivinius).

Ketteler hat als Realpolitiker sowohl nach dem deutschen Krieg von 1866 als auch nach der Reichsgründung von 1871 für die aktive Beteiligung der deutschen Katholiken am Aufbau des Reiches und seiner Institutionen plädiert und sich selbst als Abgeordneter des badischen Wahlkreises Tauberbischofsheim in den Reichstag wählen lassen. Dort hat er an der Entstehung der Zentrumsfraktion Anteil genommen und in der Grundrechtsdebatte für die Übernahme der Kirchenartikel der preußischen Verfassung in die Reichsverfassung gekämpft, ohne freilich damit durchzudringen. An dem seit 1871 zunächst in Preußen aufbrechenden kirchenpolitischen Konflikt hat er zunächst keinen Anteil genommen und, da zu seinem Bistum nur drei preußische Pfarreien gehörten, an den Fuldaer Bischofskonferenzen von 1871 und vom Frühjahr 1872 wegen ihrer spezifisch preußischen Thematik nicht teilgenommen. Als jedoch im Sommer 1872 der Konflikt mit dem Jesuitengesetz auf die Reichsebene übergriff, hat er sich nicht nur wie schon 1864 wiederum in Wort und Schrift für die proskribierten Ordensleute eingesetzt, sondern sich auch angesichts der kirchenpolitischen Gesamtlage für ein gemeinsames Vorgehen des deutschen Episkopates ausgesprochen. Seine Zurückhaltung gegenüber dem ihn ja nur am Rande betreffenden preußischen Kulturkampf gab Ketteler im Frühjahr 1873 auf, als die späteren Maigesetze zur Debatte standen.

Ketteler hat nicht nur wie kein anderer Bischof die öffentliche Meinung für die katholischen Anliegen zu interessieren gewußt, er ist auch aufgrund seines persönlichen Ansehens, seiner Freundschaft zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz Melchers und seiner kirchenpolitischen Erfahrung zum Spiritus rector des bischöflichen Widerstandes im Kulturkampf geworden. In Mainz sind daher auch, zum Teil von Kettelers Mitarbeitern (Heinrich, Moufang), die maßgebenden Vorschläge für das Verhalten im Kulturkampf entworfen worden. Das gilt für die im Frühjahr 1873 beschlossene Ablehnung der Maigesetze, die Reaktion mit passivem Widerstand und vor allem für den unbedingten bischöflichen Zusammenhalt. Da Ketteler jedoch außerhalb Preußens amtierte und somit kein preußischer Oberhirt war, hat er sich neben dem schwächeren Melchers mit der Rolle des Ratgebers begnügt und selbst 1874, als der Konferenzvorsitzende inhaftiert war, die interimistische Leitung der Bischofskonferenz abgelehnt. Mit grundsätzlicher Festigkeit verband Ketteler freilich ein hohes Maß an taktischer Beweglichkeit. Das zeigte sich schon 1874, als er die staatliche Mitwirkung bei der Besetzung geistlicher Stellen („Anzeige“) für die Zukunft nicht prinzipiell ausschloß.

Nach dem Ende der Ära Dalwigk wurde Ketteler seit 1874 auch in seinem eigenen Bistum mit einem Kulturkampf konfrontiert, doch erreichte der Konflikt in Hessen nicht jene Schärfe wie in Preußen. 1874 wurden die staatliche Schulhoheit gesetzlich verankert und die Simultanisierung der Volksschule begünstigt, während die Kirchengesetze von 1874 den preußischen Gesetzen zwar weithin angelehnt waren, in einer Reihe von Punkten der Kirche aber mehr Spielraum ließen. Ketteler hat auch in diesem Fall scharf protestiert, sich in der nachfolgenden Praxis aber streng passiv verhalten und Konflikte ebenso wie die Regierung zu meiden gesucht. Während die Mehrzahl seiner preußischen Kollegen strafrechtlich verfolgt wurde, konnte er unbehindert amtieren. Noch im Mai 1877 hat er in Rom anläßlich der Feier des 50jährigen Bischofsjubiläums Pius’ IX. den von ihm mitgetragenen kirchenpolitischen Kurs der Fuldaer Bischofskonferenz bekräftigt. Auf der Rückreise ist er dann am 13.7.1877 im Kapuzinerkloster Burghausen (Oberbayern) nach mehrwöchiger Krankheit einer Lungenentzündung erlegen. Sein Grab befindet sich im Dom zu Mainz.

Erwin Gatz

Text aus: Gatz, Erwin (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder. Ein biographisches Lexikon. Teil: 1785/1803 bis 1945, Berlin: Duncker und Humblot 1983, S. 376–380. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.