Die Option für die Armen beginnt also mit der aufmerksamen Zuwendung, nicht mit abstrakten Programmen. Sie verlangt ein Hinsehen jenseits des Scheins, Gottes Gesicht unter den Schichten der Not zu sehen. Es wird deutlich: in alledem geht es um Haltung, mit der ich dem Armen begegne. Wir sind aufgerufen zu einer Liebe, die hinsieht.
Am Freitag habe ich das Thaddäusheim besucht. Gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses und dem Freundeskreis haben die Bewohner einen Baum aufgestellt und ihn weihnachtlich geschmückt und anschließend auf dem Außengelände mit Kaffee, Punsch, Gulaschsuppe und Kuchen den Start in den Advent gefeiert. Seit der Coronazeit gibt es diese Tradition dort - als wie überall sonst natürlich auch dort Abstand angesagt war. Ich war am Freitag dort eingeladen, weil ich eine andere Einladung ausgeschlagen habe. Denn ursprünglich war ich eingeladen zur Benefizgala für das Thaddäusheim am kommenden Samstag, dem Nikolaustag mit Dreigängemenue, Wein und Livemusik, namhaften Künstlern und Gästen aus der Mainzer Stadtgesellschaft.
Hmm, was tun, war mein erster Gedanke? Das wird bestimmt eine tolle Veranstaltung - einerseits. Und muss ich das nicht auch unterstützen, wenn ich angesprochen bin, weil ich sicher zu denen gehöre, die sich eine Teilnahme an einer solchen Veranstaltung grundsätzlich leisten kann - im Gegensatz zu denen, wegen denen es solche Einrichtungen, wie das Thaddäusheim gibt. Und gerade deswegen fühlt es sich andererseits auch nicht so gut an für mich: Wie kann es sein, dass die einen feiern, während die anderen oft nicht wissen, was sie am nächsten Tag noch zu Essen haben. Ich kann mir die Diskrepanz zwischen der Zielgruppe der Empfänger und den geladenen Gästen nicht viel größer vorstellen. Natürlich ist mir das Prinzip von Fundraising klar und ich bin beeindruckt, wie es gelingt, ideenreich über wirksame Hebel Gelder zu generieren und Menschen anzusprechen und für soziales Engagement zu gewinnen und damit zu etwas mehr sozialer Gerechtigkeit beizutragen. Aber zugegeben, meine Bauchschmerzen haben überwogen und so habe ich für die Benefizgala abgesagt.
Ich bin durchaus auf Verständnis gestoßen bei der Leitung des Hauses und den Vorständen des Caritasverbandes Mainz, aber sie haben dann gleich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und mich für die Aktion am vergangenen Freitag eingeladen: Hier könnte ich mir einen Eindruck machen von der Arbeit des Freundeskreises auch über diese Gala hinaus, ich könnte sehen, dass die Begegnungen zwischen den Engagierten im Freundeskreis und den Bewohnern durchaus auf Augenhöhe stattfinden und ich könnte selbst Bewohnern begegnen.
Und ja, das war eindrucksvoll. Ich habe dort Klaus kennengelernt, Klaus heißt eigentlich anders, aber ich will ihn hier nicht einfach so ungefragt mit seinem wirklichen Namen in meine Predigt einbauen, weil ich vermute, er ist bekannt, weil er schon sehr lange im Thaddäusheim lebt und zu unserem Stadtbild gehört. Er hat mir beim Löffeln der Gulaschsuppe von seinem Leben erzählt und davon, dass das Thaddäusheim für ihn zu einem Zuhause geworden ist. Klaus ist jemand, den man sicher zu den Ärmsten in unserer Gesellschaft zählen kann.
Mich beschäftigt diese Begegnung - genauso wie die Begegnungen Anfang November im Rahmen der Armutswochen der Caritas - ich war im Wormser Nordend zu Besuch und habe die Stadtteilarbeit des Wormser Caritasverbands erleben dürfen, in einem Stadtteil, in dem Armut zum Stadtbild gehört. Da waren ein Arzt und Ärztinnen, die ehrenamtlich Menschen ohne Krankenversicherung behandeln und dabei unterstützen, sie wieder ins System zu bringen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Kindern und Jugendlichen in der Spiel- und Lernstube einen Ort geben, an dem Sie AnsprechpartnerInnen finden, Menschen, die nach ihnen sehen und ihnen ein wenig Struktur und Perspektive geben.
Diese Besuche gehören zu meiner Aufgabe, wenn ich gemeinsam mit Bischof und Generalvikar die strategische Ausrichtung unseres Bistums verantworte, wenn wir gemeinsam mit allen, die in der Mitverantwortung stehen, die Weichen stellen und Schwerpunkte setzen, damit wir unserem Auftrag als Kirche gerecht werden können. Und diese Besuche sind sehr wertvoll für mich, denn ich könnte meine Aufgabe nicht tun, wenn ich die Herausforderungen und die Wirksamkeit unserer Arbeit nicht auch ganz konkret erleben würde.
Diese Begegnungen bei den Besuchen, machen nicht nur meine Arbeit plausibel sondern sie sind unverzichtbar für mich, wenn ich meiner Aufgabe und meinem Auftrag gerecht werden will.
Diese Begegnungen mit den Armen sind unverzichtbar, wenn die Kirche ihrem Auftrag gerecht werden will.
Diese Erkenntnis ist so etwas wie ein roter Faden in Dilexi Te - dem ersten großen päpstlichen Schreiben von Leo IVX., der sich damit bewusst in die Tradition von Papst Franziskus stellt.
Dilexi Te - „Ich habe dir meine Liebe zugewandt“ - der Titel ist angelehnt an ein Zitat aus dem 3. Kapitel der Offenbarung des Johannes. Dort richtet der Herr sein Wort an eine christliche Gemeinde, „die im Gegensatz zu anderen keine Bedeutung oder Ressourcen hatte und Gewalt und Verachtung ausgesetzt war.“ Um diese Armen geht es Gott zuerst, ihnen gilt seine Liebe und hier setzt Papst Leo an. Er setzt die Armen klar in den Fokus der Kirche, indem er sagt: „Und die Kirche, wenn sie Kirche Christi sein will, muss eine Kirche der Seligpreisungen sein, eine Kirche, die den Kleinen Raum schafft,… und die ein Ort ist, an dem die Armen einen privilegierten Platz haben.“ (Dilexi Te 21) Er setzt die Armen in den Fokus, weil Christus selbst sich mit den Geringsten der Gesellschaft identifiziert hat. In den Armen begegnen wir also Christus selbst. Und wer die Armen übersieht, der übersieht Christus. Wer Christus ernst nimmt, nimmt die Armen ernst.
Weitergedacht heißt dies: Die vorrangige Option für die Armen ist also nicht zuerst sozialpolitisch begründet, sondern christologisch, denn sie kommt aus dem Handeln Jesu und sie gehört damit zum Wesen des Evangeliums. Mehr noch, die Armen evangelisieren uns, weil sie uns Gott nahebringen. Papst Leo zitiert wieder seinen Vorgänger, der es in Evangelii Gaudium für notwendig hält, »dass wir alle uns von [den Armen] evangelisieren lassen« und dass wir alle »die geheimnisvolle Weisheit [an]nehmen, die Gott uns durch sie mitteilen will«.
Doch was heißt das, wenn wir die Option für die Armen konkret werden lassen?
Die echte Liebe ist immer kontemplativ, sagt Papst Leo und greift dabei auf einen bemerkenswerten Ausspruch von Papst Franziskus zurück. Die echte Liebe ist also zuerst einmal betrachtend und nicht gleich tätig, sie schaut hin, nimmt wahr. Papst Franziskus sagt - wiederum in Evangelii Gaudium „Die echte Liebe ist immer kontemplativ, sie erlaubt uns, dem anderen nicht aus Not oder aus Eitelkeit zu dienen, sondern weil es schön ist, jenseits des Scheins. […] Nur aus dieser echten und herzlichen Nähe heraus können wir sie auf ihrem Weg zur Befreiung angemessen begleiten.«
Die Option für die Armen beginnt also mit der aufmerksamen Zuwendung, nicht mit abstrakten Programmen. Sie verlangt ein Hinsehen jenseits des Scheins, Gottes Gesicht unter den Schichten der Not zu sehen.
Es wird deutlich: in alledem geht es um Haltung, mit der ich dem Armen begegne. Wir sind aufgerufen zu einer Liebe, die hinsieht.
Dabei ist der Arme nicht Objekt, sondern Subjekt. Die Armen besitzen eine eigene Weisheit, Kultur und geistliche Stärke. Sie evangelisieren uns – sie lehren uns Einfachheit, Vertrauen, Standhalten.
Ich muss an Klaus im Thaddäusheim denken und daran, mit welcher Haltung ich ihm begegnet bin? Habe ich seine Schönheit, seine eigene Weisheit wahrgenommen?
Und ich muss an die Menschen im Freundeskreis des Thaddäusheims denken, an die, die zur Benefizgala gehen und damit auch die Option für die Armen konkret werden lassen, denn die braucht unbedingt auch die Tat. Eine Tat, die aus der Liebe erwächst. Papst Leo traut der Liebe viel zu. Er sagt: „Die Liebe ist eine Kraft, die die Wirklichkeit verändert, eine echte geschichtsverändernde Kraft. Aus dieser Quelle muss sich alles Bemühen, »die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben« [91] und dies unverzüglich anzugehen, speisen.“ Darin hat die politische Arbeit einen Platz aber durchaus auch das Almosengeben.
Almosen und konkrete Taten berühren nicht nur die Herzen der Armen, sondern öffnen auch unser eigenes Herz für Gott. Almosen sind ein „Flügel des Gebets“, schreibt Papst Leo und zitiert damit den heiligen Johannes Chrysostomus: „Die Almosengabe ist ein Flügel des Gebets. Wenn du deinem Gebet keine Flügel verleihst, wird es nicht fliegen.“
Die Texte des ersten Adventssonntags rufen uns zu Wachsamkeit auf. Sie rufen uns auf zu einer Liebe, die hinsieht, im Thaddäusheim, im Stadtbild, an den Orten unseres Tätigseins, in der Familie, in der Gesellschaft.
Im Advent warten wir auf Christus – und wenn er sich in den Kleinen, den Schwachen und Armen zeigt, dann heißt Wachsamkeit: nicht an ihnen vorüberzugehen.
Wenn Christus besonders zu denen kommt, die wenig Kraft haben, dann bedeutet, wer ihnen nahe ist, ist dem kommenden Christus nahe.
Und wenn wir eine adventliche Haltung einnehmen, dann bedeutet dies nicht nur erwartend Ausschau halten, sondern sich verändern zu lassen.
Paulus adressiert eine Menge Regeln an die Gemeinde in Rom - wir haben es eben in der Lesung gehört. Kein maßloses Essen und Trinken, keine Unzucht und Ausschweifung, keinen Streit und Eifersucht. Die wichtigste Regel aber kommt am Ende, wenn es heißt: „Vielmehr zieht den Herrn Jesus Christus an.“ Das ist die Haltung, zu der wir in der Adventszeit aufgerufen sind. Jesus Christus anziehen, das heißt, ihm immer ähnlicher zu werden, ihm in den Armen zu begegnen, denn in den Armen kommt uns Christus nahe. Amen.