Wir funktionieren. Wir performen. Wir spielen mit – im Alltag, im Job, im Glauben. Aber: Wer sind wir wirklich, wenn niemand zuschaut? Zeit, die Maske mal fallen zu lassen. Zeit, ehrlich zu fragen: Bin ich noch ich – oder nur die Rolle, die andere erwarten?
Dialogpredigt im Rahmen des Eröffnungsgottesdienst zum Hessentag am 15.06.2025 zwischen der Bevollmächtigten im Bistum Mainz, OD Stephanie Rieth und Kirchenpräsidentin Prof. Dr. Christiane Tietz.
Stephanie Rieth:
„Alles hat seine Zeit. Alles hat seine Stunde.“
Ein weiser Mann hat diese Sätze geschrieben. Ein kunstvoller, poetischer und philosophischer Text ist das, der uns das Leben zeigt, wie es ist in all seiner Spannung. Der Erzähler Kohelet schaut auf das Leben – und er sieht: Es ist nicht nur hell oder nur dunkel, nicht nur Lachen oder nur Weinen, sondern alles gehört dazu und manchmal passiert alles zugleich.
Und ich denke: Genau so ist das mit der Bühne unseres Lebens. Jede Szene, jede Rolle hat ihre Zeit.
Christiane Tietz:
Ja – manchmal fühlt es sich so an, als wären wir mitten in einem großen Theaterstück.
Aber ich frage mich: Liegt der Sinn meines Lebens darin, nur verschiedene Rollen zu spielen?
Manche Rollen suchen wir uns selbst aus: die Freundin, der Kollege, die Ehrenamtliche, der Vater.
Aber es gibt auch Rollen, die uns von außen zugeschrieben werden: „Die, die immer stark ist“. „Der, der nicht auffallen darf“. „Die, die immer freundlich ist". Ich übernehme diese Rollen ja auch selbst und versuche, sie zu erfüllen. Aber manchmal steht das, was ich nach außen vorgebe, im Widerspruch zu dem, was ich innen fühle. Bin ich in den Rollen wirklich ich selbst?
Stephanie Rieth:
Mich beschäftigt eher der Widerspruch der Rollen, denn nicht jede Rolle passt mir.
Manche engen mich ein, manche überfordern mich.
Manche fülle ich gerne aus – und andere … will ich manchmal einfach nur loswerden, weil ich sie nicht mag, weil sie mir widerstreben.
Wenn ich mal wieder ein schwieriges Gespräch zu führen habe, als Vorgesetzte einem Mitarbeitenden gegenüber. Oder wenn ich die bin, die lieber den Ärger herunterschluckt, als ihn an der richtigen Stelle zu äußern. Manche Rollen habe ich mir antrainiert von Kindheit an, andere musste ich erst mühsam lernen, mir zu eigen machen.
Christiane Tietz:
Ich denke über den Bibelvers nach: „Alles hat seine Zeit. Alles hat seine Stunde.“ Gibt es dann nicht auch eine Zeit, in der ich keine Rolle spielen muss?
Gott kennt alle meine Rollen. Auch die, die ich nur spiele, weil ich muss.
Auch die, bei denen ich mich selbst nicht mehr erkenne, für die ich mich manchmal schäme.
Und Gott sagt: Mir gegenüber musst du keine Rolle spielen. Bei mir darfst du die sein, die du bist. Gott sagt: Zeit mit mir ist die Zeit, in der du keine Rolle spielen muss.
Auch wenn du nach außen stark bist, bei mir darfst du deine Zerbrechlichkeit zeigen. Auch wenn andere erwarten, dass du immer fröhlich und gut drauf bist: bei mir darfst du weinen.
Alles hat seine Zeit. Verschiedene Rollen spielen hat seine Zeit. Aber auch keine Rolle spielen, sondern du selbst sein, hat seine Zeit. Bei Gott ist die Zeit, du selbst zu sein.
Stephanie Rieth:
Einfach mal bewusst keine Rolle spielen, obwohl sie sich mir geradezu aufdrängen? Da muss ich darüber nachdenken. Gibt es mich wirklich so ganz ohne Rolle? Und wie sieht das wohl Gott? Bei mir bleibt das Bild aus diesem Gottesdienst hängen, dass Gott der Regisseur ist. Gott nicht einfach nur ein unbeteiligter Zuschauer, irgendwo weit weg oder ein Kritiker, der nur darauf wartet, dass wir etwas falsch machen, aus der Rolle fallen. Nein, in unserem Bild heute ist Gott ein Regisseur.
Aber nicht der, der uns von oben sagt, was wir spielen sollen, nicht der, der uns auf der Bühne herumschiebt und anweist, so wie es ihm passt.
Sondern einer, der uns begleitet und ermutigt. Einer, der uns kennt – und zum guten Leben befähigt. Und schließlich einer, der Freude daran hat, wenn unser Leben mit all den Rollen, die wir darin ausfüllen müssen, gelingt.
Christiane Tietz:
Mir klingt das zu einfach. Ermutigt Gott uns wirklich für jede Rolle? Gilt das auch dann, wenn Menschen als Tyrannen oder Mörderinnen, als Unterdrückerinnen und Gewalttäter anderen Menschen schaden? Ich hoffe, dass Gott manchen Rollen, die wir haben, deutlich widerspricht. Um in deinem Bild zu bleiben: Ich glaube, dass Gott sagt: ‚Nein, diese Rolle, die von Tyrannen oder Unterdrückerinnen, soll es nicht geben‘.
Stephanie Rieth:
Das find ich jetzt wieder zu negativ. Ich glaube, Gott hat eine ganz wunderbare Idee vom Menschen, von jedem und jeder Einzelnen.
Und er sagt zu uns: Ich sehe dich. Ich traue dir etwas zu. Ich bin an deiner Seite – auch wenn du mal den Text vergisst oder aus der Rolle fällst und auch dann, wenn der Vorhang das letzte Mal fällt.
Christiane Tietz:
Mir macht der Bibeltext klar: Alles hat seine Zeit – und bei Gott ist die Zeit, ich selbst zu sein, unabhängig von meinen Rollen. Deshalb kann ich meine verschiedenen Rollen kritisch hinterfragen. Bei Gott bekomme ich einen neuen Blick auf die Rollen, die ich in meinem Leben spiele.
Ich muss nicht alle Rollen perfekt spielen. Vielleicht gibt es auch eine Rolle, die ich gar nicht mehr spielen will oder muss. Vielleicht gibt es eine Rolle, von der ich nur dachte, dass andere oder auch Gott sie von mir erwarten. Und vielleicht gibt es eine Rolle, zu der Gott auch deutlich „nein“ sagt, weil sie mir oder anderen schadet.
Stephanie Rieth:
Hhm, ja, das stimmt natürlich.
…
Wir haben unseren Gottesdienst doch genannt: „Das ganze Leben – eine Bühne“. Unser Leben findet nicht irgendwo statt.
Heute beginnt der Hessentag. Das erinnert mich daran:
Auch unser Land, unsere Dörfer, Städte und die wunderschöne Natur in Hessen – sie alle sind Orte, an denen Leben geschieht.
An denen Menschen mit ihren Rollen, ihren Geschichten, ihren Fragen sichtbar werden - im Großen wie im Kleinen.
Christiane Tietz:
Vergiss aber nicht: Wir hatten hinter den Namen ein Fragezeichen gesetzt: „Das ganze Leben – eine Bühne?“
Der Hessentag kann ja auch eine Chance sein, dass wir uns ehrlicher als bisher begegnen. Wir sind mutiger als bisher, uns einander so zu zeigen, wie wir sind. Ohne Rollen. Mit allem, was dazugehört.
Stephanie Rieth:
Aber wir werden doch unsere Rollen nicht ganz los. Manchmal improvisieren wir.
Manchmal stolpern wir.
Manchmal glänzen wir.
Dabei sind wir nie allein – das finde ich tröstlich.
Gott bleibt an unserer Seite – liebevoll, weise, geduldig, damit wir ganz bei uns selbst sein können und das tun können, wozu wir berufen sind.
Christiane Tietz:
Ich habe noch eine Frage an dich: Wie verstehst du denn den Schluss des Bibeltextes? „Da habe ich verstanden: Es gibt nichts Besseres, als fröhlich zu sein. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
Stephanie Rieth:
Kohelet ist realistisch. Manches ist mühsam. Manches ist zum Sorgen Machen. Aber jetzt ist Hessentag. Könnte der Schluss nicht auch für uns eine Einladung sein, die Zeit hier auf dem Hessentag zu genießen? Alles hat seine Zeit, heißt doch auch: fröhlich sein, essen und trinken hier auf dem Hessentag hat seine Zeit. Auch das ist eine Gabe Gottes.
Christiane Tietz:
Das gefällt mir gut. Dazu sage ich gern: So sei es. Amen.