Mainz (KNA) Am Freitag wird die Missbrauchsstudie für das Bistum Mainz vorgestellt. Die Diözese hatte damit den Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber beauftragt, der als unabhängiger Ermittler Missbrauchsfälle seit 1945 aufklären sollte. Die Studie trägt den
Titel «Erfahren. Verstehen. Vorsorgen» (EVV). Mit Stephanie Rieth, der Bevollmächtigten des Generalvikars im Bistum Mainz, Udo Markus Bentz, sprach die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) über ihre Erwartungen an die Studie. Die 47-jährige Theologin ist in der
Bistumsleitung für die Missbrauchsthematik zuständig.
KNA: Frau Rieth, wie wird sich die Missbrauchsstudie von den Untersuchungen in anderen Bistümern unterscheiden? Bischof Kohlgraf sagte bereits, die Studie sei «bewusst keine juristische». Schließt das nicht eine harte rechtliche Zurechenbarkeit von Missbrauchstaten
aus?
Rieth: Nein. Die Studie enthält natürlich auch eine juristische Perspektive, aber nicht allein. Schon bei der Auftragsvergabe haben wir uns als Bistum bewusst dafür entschieden, dass wir vor allem Erkenntnisse über die systemischen Zusammenhänge von Missbrauch bekommen wollten, die wirklich dabei helfen zu verhindern, dass das wieder geschieht.
KNA: Gibt es nicht schon Wissen über systemische Ursachen, etwa aus der von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen MHG-Studie von 2018?
Rieth: Wir wollten wissen, wie mit Missbrauch in den unterschiedlichen «Systemen» des Bistums umgegangen wurde - auf der Leitungsebene, aber auch in Pfarreien, Gemeindegruppen, Schulen, Internaten oder auf Freizeiten. Da erhoffe ich mir in der Zusammenschau Erkenntnisse, die wir so bislang noch nicht haben. Der juristische Blick allein schafft das nicht. Es geht etwa um die Frage: Wie wird Missbrauch überhaupt möglich? Wie muss einer, der zum Täter wird, etwa in einer Gemeinde eingebunden sein.
KNA: Und wie muss so jemand eingebunden sein, was denken Sie?
Rieth: Das hat viel mit dem Priesterbild zu tun. Wenn ein Mensch, nur weil er Priester ist, unangreifbar wird, und ein Vorschussvertrauen genießt, einen Bonus, der ihn nicht hinterfragbar macht, dann kann dies missbräuchliches Verhalten befördern. Ich erlebe das immer wieder: Manche in der Pfarrgemeinde wissen vielleicht: Da ist Missbrauch passiert! Andere Gemeindemitglieder sagen aber: Das kann gar nicht sein! So wird die Gemeinde zu einem «irritierten System» mit unterschiedlichen Wahrheiten. Und in der Folge kann eine Gemeinde auch beteiligt sein an missbräuchlichem Verhalten.
KNA: Sie hatten bereits gesagt, gerade die Mainzer Studie könne eine «neue Phase» bei der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchs in Deutschland einleiten. Warum?
Rieth: Die Vorstellung von Missbrauchsstudien in den Bistümern folgt oft dem gleichen Schema: Ob München, Köln, Hildesheim, Essen oder Trier: Nach dem berechtigten öffentlichen Aufschrei über die erschütternden Missbrauchstaten ebbt die Aufmerksamkeit meist zwei Wochen später wieder ab. Das heißt: Wir drehen uns im Kreis. Ich hoffe, dass aus der Mainzer EVV-Studie wirkliche Konsequenzen folgen und die systemischen Ursachen des Missbrauchs angegangen werden. Natürlich zuerst in unserer eigenen Diözese. Aber es braucht dringend eine gemeinsame Auswertung bisheriger Studienergebnisse auf der Ebene aller Diözesen mit entsprechenden Konsequenzen. Und dann können wir uns als Kirche noch viel stärker auch in einen notwendigen gesellschaftlichen Diskurs einbringen.
KNA: Der 2018 verstorbene Kardinal Karl Lehmann war 33 Jahre Bischof von Mainz - von 1983 bis 2016. Als 2002 ein Missbrauchsskandal in der US-Diözese Boston die Welt erschütterte und Lehmann damals vom «Spiegel» gefragt wurde, ob die Situation in Deutschland vergleichbar sei, sagte er: «Wir haben das Problem nicht in diesem Ausmaß». Man dürfe «keine Massenhysterie anzetteln und so tun, als kämen diese Delikte en masse vor». Wusste es Lehmann, der rund 20 Jahre Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war, nicht besser?
Rieth: Ich kenne diese Äußerungen Lehmanns natürlich. Sie lassen mich momentan ratlos und sehr irritiert zurück, weil ich nicht sehe, wie man zu einer solchen Aussage kommen konnte. Genau da wünsche ich mir Ergebnisse aus der Studie. Dennoch kann man damit nicht über das gesamte Lebenswerk von Kardinal Lehmann urteilen.
KNA: Ab dem 13. März - also zehn Tage nach Vorstellung der EVV-Studie - sind fünf Dialogveranstaltungen mit Bischof Kohlgraf und Ihnen geplant - in Offenbach, Mainz, Bürstadt und Gießen sowie einmal digital. Womit rechnen Sie, wenn Sie auf Gemeindemitglieder und Bürger vor Ort treffen?
Rieth: Das wird sicherlich unterschiedlich sein, je nachdem, ob es in der jeweiligen Region viele Missbrauchsfälle gegeben hat. Wir gehen jedenfalls mit einer bestimmten Haltung zu den Leuten, und die lautet: Wir wollen hören, was Euch beschäftigt. Wir kommen, um Euren Frust und Eure Enttäuschung stellvertretend anzuhören. Zugleich wollen wir im Gespräch bleiben, über Fragen zur Vergangenheit aber vor allem auch über gute Perspektiven, die sich aus der Prävention ergeben.