Die langen Schatten von Tschernobyl: Zum 30. Jahrestag der Katastrophe

Gastkolumne von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung

Mainz, 26. September 2015: Kardinal Karl Lehmann blätterte bei der Diözesanversammlung in der Enzyklika
Datum:
Mi. 27. Apr. 2016
Von:
Bischof Karl Kardinal Lehmann
Vor 30 Jahren – am 26. April 1986 – geschah die bisher schlimmste Nuklearkatastrophe der Menschheitsgeschichte in Tschernobyl (Ukraine). Sie wurde auf einer siebenstufigen Bewertungsskala erstmals als „katastrophaler Unfall“ eingeordnet.

Über die Langzeitfolgen gibt es seit Jahren Kontroversen. Dies gilt nicht zuletzt für die Zahl der Todesopfer. 4000 gelten als gesichert in direkter Zuordnung zur Katastrophe, weitere 4000 sind nachfolgende Opfer. Im Atomkraftwerk, besonders dem Reaktor 4, sollen noch enorme Mengen radioaktiven Materials liegen. Täglich kommen etwa 3000 Arbeiter auf das Gelände. Die Überbleibsel stellen eine riesige Herausforderung dar. Fachleute machen darauf aufmerksam, dass nach dem Unglück eine Zeit lang andere Reaktorblöcke immer wieder angefahren worden sind zur Stromerzeugung. Fässer und Tanks mit undefinierbarem Material, manches auch radioaktiv, wurden in der Nähe des Unglücksortes in Gruben gefüllt und einfach zugeschüttet. Von den alten Brennstäben sollen viele in einem Nasslager vor sich hin rosten.

Man könnte im Blick auf die Reste des Unglücks und die vielen Sanierungsversuche noch vieles schreiben. Zur Zeit versucht man, ein 110 Meter hohes Spezialdach über die Unglücksstelle und das Atomkraftwerk zu schieben. 100 Jahre soll es halten.

Dies alles spaltet die Meinungen der Menschen, deswegen gibt es auch so viele widersprüchliche Daten und Angaben. Die Arbeiten werden noch viel Geld kosten. Viele Länder beteiligen sich. An die 50 Nationen helfen mit.

Aber auch anderswo geht die Diskussion weiter. Es gibt keine Ruhe. In Fukushima – es sind gerade fünf Jahre her – hat man noch mit schweren Gefährdungen zu tun. In Europa beklagt man sich besonders wegen der störanfälligen Anlagen in Belgien, ein Werk dicht an der Grenze zu Deutschland, und in Fessenheim (Elsass), wo das Werk direkt am Rhein an der deutsch-französischen Grenze liegt. Aber auch bei uns in Deutschland gibt es von Zeit zu Zeit – bisher Gott sei Dank – kleinere Störfälle.

Aber ganz ungelöst ist in hohem Maß die Frage der Lagerung und Sicherung der Atomabfälle. Die Bundesländer streiten sich schon seit Jahrzehnten über mögliche Orte. Manche Behälter rosten allmählich durch. Die gefährlichen Reste werden mit der Bahn oder mit Schiffen zur Entsorgung hin- und hergefahren. Die folgenden Generationen werden noch lange geängstigt sein von den nicht gebannten Gefahren. Noch leiden viele Menschen, die sich entweder mit der Beseitigung nuklearer Abfälle beschäftigen und bei noch so großen Sicherungen hoch gefährdet bleiben, oder eben auch psychologisch durch viele Ängste.

Von Anfang an hat dieser Fortschritt die Menschen polarisiert. Auch heute noch bauen viele Nationen neue Atomkraftwerke. Andere versuchen ohne diese Quelle die Energieversorgung zu bewältigen, streiten sich aber auch über Schäden durch die „neuen Energien“. Zur Besänftigung werden gerade in diesen Tagen viele Bilder aus der gemäßigt verstrahlten Umgebung von Tschernobyl gezeigt, wie viele wilde Tiere in großer Zahl in die Unglücksgegend zurückgekehrt sind. Ist es mehr als ein Märchen? Schwache Bestrahlungen sollen angeblich für die Gesundheit viel positiver wirken.

Bei diesem höchsten technischen Fortschritt, wenn er ein solcher ist, kommt die Zwiespältigkeit dieser Errungenschaften am stärksten, aber auch – wenn etwas geschieht – am verheerendsten zur Wirkung. Hier zeigt sich die Ambivalenz unserer modernen Welt besonders nachhaltig. Auch die christliche Ethik tut sich schwer in einer grundsätzlichen Einschätzung der Kernkraft und ihrer Anwendung. Dabei geht es nicht nur um die Anwendung von Atombomben, die nicht zur Debatte steht, auch nicht nur um die furchtbaren Schäden bei Unfällen am Menschen und allen Kreaturen, vielmehr setzt uns das jahrhundertelange Erbe der nuklearen Abfälle zu, die wir immer noch strahlend den künftigen Generationen hinterlassen. Dies scheint mir eigentlich das schwierigste, aber auch schon längste Übel in der Anwendung der Nuklearkräfte zu sein.

Wir müssen allen kurzsichtigen Nationalismus in der Anwendung der Kernenergie vermeiden. Ich habe ein unvergängliches Erlebnis bei einem Besuch im Fessenheimer Atomkraftwerk in Erinnerung: Als wir von der Theologischen Fakultät in Freiburg aus dort einen Besuch machten, hörten wir, wie in der Nachbarschaft französische Fachleute ihren Landsleuten beruhigend erklärten: Und wenn etwas passiert, gibt es hier ja fast immer Westwind. Sie haben nicht damit gerechnet, dass wir verstehen. Ich drehte mich um und sagte: Merci, nous avons compris. Danke, wir haben verstanden. Nur solidarisch kommen wir weiter.