Mit welchem Bild würden andere Menschen mein Leben beschreiben?

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf in der Feier vom Leiden und Sterben Christi („Karfreitagsliturgie“) Dom zu Mainz, Karfreitag, 07. April 2023, 15.00 Uhr

Weizenbauer (c) Bits and Splits | stock.adobe.com
Datum:
Fr. 7. Apr. 2023
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Was sind die Früchte meines Lebens? Jesus ist überzeugt, dass sein Leben und Sterben für andere fruchtbar geworden ist. Und tatsächlich ist uns in ihm ja etwas Unvorstellbares geschenkt. Wir formulieren, dass er uns mitnimmt in die Herrlichkeit des Vaters, dass wir hineingenommen sind in seinen Tod und in seine Auferstehung. Auch auf uns bezogen möchten wir für unser Leben, dass es irgendwie für andere fruchtbar wird. Das erreichen nach dem Wort Jesu nur die Menschen, die sich wegschenken können. 

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,24).

So deutet in den Reden des Johannesevangeliums Jesus selbst seinen bald kommenden gewaltsamen Tod. Leben gewinnt er für sich und für die vielen Menschen, indem er sein Leben hingibt. In den neutestamentlichen Schriften spürt man noch die Erschütterung der frühchristlichen Gemeinden. Wie kann es sein, dass der Messias leiden und sterben muss, und dann diesen schrecklichen Tod am Kreuz, an dem sich Sterben und Folter auf brutale Weise verbinden? Man spürt die Erschütterung, wenn der Evangelist Matthäus von Finsternis und Erdbeben zur Todesstunde Jesu erzählt, davon, dass der Vorhang im Tempel entzweireißt und die Toten aus den Gräbern kommen (Mt 27,45-56). Johannes wählt leisere Töne. Das Sterben und das Wachsen des Weizenkorns ist ein unauffälliges Bild, um den Kreuzestod Jesu deuten zu können und ihm einen tiefen Sinn für Menschen zu geben, die versuchen, in seiner Nachfolge zu leben. Ein wenig scheint die starke Erschütterung im Johannesevangelium zur Ruhe gekommen zu sein. Menschliche Erfahrungen helfen, das Schreckliche fruchtbar für den Glauben und das eigene Leben machen zu können.

Als ich vor beinahe sechs Jahren zum Bischof gewählt wurde, musste ich mein Bischofswappen gestalten. Es sollte etwas von meinem Glauben und meiner Lebenseinstellung wiedergeben. Vor diesem Hintergrund konnte ich mich mit dieser Herausforderung anfreunden. Sollte sich Jesus überhaupt auf die Gestaltung eines Wappens eingelassen haben (was wohl eher unwahrscheinlich ist), hätte er sich vielleicht tatsächlich für das Bild des Weizenkorns entschieden, das, indem es in die Erde fällt und stirbt, letztlich Frucht bringt.

Er hätte damit vielleicht seinem drohenden Tod eine Deutung gegeben, so wie wir es im Johannesevangelium lesen. Wir sehen so in dem Bild des sterbenden Weizenkorns ein Bild des Todes Jesu. Jesus sieht einen Sinn in seinem Sterben, auch wenn er angstvoll und nach Gott rufend in den Tod geht. Wir sehen ihn aber auch, wie er mit dem Gebet des Psalms sein Leben am Kreuz Gott anvertraut. Die biblischen Autoren beschreiben beide Seiten: den Schrei nach Gott und die Ergebenheit in seinen Willen, der auch im Sterben des Sohnes der liebende Vater an seiner Seite bleibt. Und das ist schon enorm viel, seinen Tod nicht als blindes, vernichtendes Schicksal zu sehen. Nicht umsonst nehmen viele Menschen diesen Text auch für Begräbnismessen. Der Mensch ist sterblich, aber viele Bilder der Natur verweisen darauf, dass die Vergänglichkeit ein notwendiger Schritt ist, um neues Leben finden zu können. Dem Weizenkorn sieht man in seiner Kleinheit und Erbärmlichkeit die Wachstumskraft nicht an, man zertritt es, man übersieht es. So wie Jesus darf ich auch mein Leben und meine Vergänglichkeit gläubig deuten. Gott hat in mich ein Potential hineingelegt, das mir sagt: Ich werde über den Tod hinaus leben, aber verwandelt.  Jedes Mal, wenn wir einen Menschen in die Erde senken, tun wir es als Christen in der Hoffnung, dass unser Leben neu wird, dass ungeahntes und wunderbares daraus entstehen kann. Paulus greift das Bild im 1. Korintherbrief auch auf: „Was gesät wird, ist verweslich, was auferweckt wird, unverweslich. Was gesät wird, ist armselig, was auferweckt wird, herrlich. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Kor 15,42f.55). Jesus deutet seinen Tod als einen notwendigen Schritt, um neues Leben zu finden. Und dennoch bleibt die Erfahrung, dass der Tod einen radikalen Bruch und Einschnitt bedeutet.  Wir schauen auf eine Welt, die von Gewalt und Tod geprägt ist, wo wir eher den Schrei Jesu nach dem Vater für angemessen halten als vertrauensvolle Hingabe. Es ist gut, dass die Texte des Neuen Testaments nicht nur die leisen Töne des Johannes kennen. Aber auch in den vielen so sinnlosen Toden dieser Welt ist das Hoffnungsbild des Weizenkorns wertvoll. Ich will es nicht missen.

Denn es geht nicht nur um Jesu Sterben. Eigentlich ist das ganze Leben Jesu bereits diese Bewegung, sich wegzuschenken. Das Bild des kleinen Korns steht für die Hingabe, die Jesus gelebt hat, und zu der er uns ruft. In Jesus offenbart sich Gott selbst, und er tut es nicht in Glanz und Macht, sondern in Armut und Schwäche. Der Tod Jesu am Kreuz ist nichts anderes als die Konsequenz seines Lebens. Er konzentriert sich nicht auf die Suche nach sich selbst, indem er sich nur um seine eigene menschliche Existenz dreht, sondern er verwirklicht sich selbst, indem er keine Angst davor hat, sich hinzuschenken. Wenn wir in der Nachfolge Jesu stehen, müssen wir fragen: Worin suchen wir unsere Selbstverwirklichung? Wenn wir das Bild des Weizenkorns auch nicht nur auf unsere Auferstehungshoffnung beziehen, sondern auf unsere gesamte Lebenshaltung, dann müsste sie etwas von dieser Sorglosigkeit widerspiegeln, die keine Angst davor hat, sich zu verlieren, wenn sie schenkt. Johannes, der Evangelist, betrachtet nicht nur den Tod, er bietet eine Lebenshaltung an, die gerade in der Welt, die so sehr geprägt ist von Tod und Gewalt, eine lebensnotwendige Alternative ist.

Was sind die Früchte meines Lebens? Jesus ist überzeugt, dass sein Leben und Sterben für andere fruchtbar geworden ist. Und tatsächlich ist uns in ihm ja etwas Unvorstellbares geschenkt. Wir formulieren, dass er uns mitnimmt in die Herrlichkeit des Vaters, dass wir hineingenommen sind in seinen Tod und in seine Auferstehung. Auch auf uns bezogen möchten wir für unser Leben, dass es irgendwie für andere fruchtbar wird. Das erreichen nach dem Wort Jesu nur die Menschen, die sich wegschenken können. Der Narzisst hinterlässt keine Frucht für andere.

Jesus sieht in dem Bild des Weizenkorns ein Symbol, in dem seine ganze Person wiedergegeben ist. Eigentlich sollten wir auch uns selbst in diesem Bild wiederfinden. Mit welchem Bild würden andere Menschen mein Leben beschreiben? Das Weizenkorn wäre ein unauffälliges, aber wunderschönes Lob. Wenn ich so leben und sterben könnte, wäre das eine gute Summe meines Lebens.