Wir müssen Wege finden in Toleranz, und doch Interesse an anderen Überzeugungen, ohne Beliebigkeit, mit Selbstbewusstsein.

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt an Fronleichnam im Mainzer Dom

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Datum:
Do. 8. Juni 2023
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

„Gebt Ihr ihnen zu essen!“ (Lk 9,13) Dieser Auftrag Jesu gehört zu den schönsten und wichtigsten, die Jesus seinen Jüngern sagt. Es ist die Szene der Brotvermehrung, in der diese Aufforderung ergeht (Lk 9,12-17). Im Hinblick auf das Fronleichnamsfest musste ich an diese Szene denken. Menschen, die auf Jesus hören, sind in der Wüste, haben nicht ausreichend Nahrung und die Jünger sollen das Brot und den Fisch weitergeben, welche sie von ihm empfangen. Die Jünger sind etwas ratlos, denn sie haben den Eindruck, selbst nur wenig anbieten zu können. Tatsächlich ist das so. Die Kraft der Brotvermehrung kommt nicht von den Jüngern Jesu. Bis heute ermutigt uns Jesus dazu, darauf zu vertrauen, dass wir als seine Jüngerinnen und Jünger anderen Menschen etwas zu geben haben, und zwar nicht irgendetwas, sondern Lebensnotwendiges. Jesus traut uns dies zu. Es ist ein Auftrag gegen jede Verzagtheit und jede Resignation. Er vermag mehr, als wir uns vorstellen können. 

Auf einem mittelalterlichen Bild ist diese Szene aus dem Evangelium dargestellt. Man sieht, wie Jesus in beiden Händen Brot hält, und es nach beiden Seiten an die Jünger gibt, deren Aufgabe darin besteht, es weiterzugeben. 

Woher nimmt Jesus das Brot? Vor ihm stehen keine Körbe. Der Maler stellt dar, wie Jesus sich selbst gibt. Er gibt sich durch die Hände seiner Jüngerinnen und Jünger weiter. Dem Evangelisten geht es um mehr als um ein staunenswertes Wunder. Er beschreibt die Erfahrung, dass Jesus sich selbst als das Brot für die Welt hingibt. In unserer westlichen Zivilisation haben wir den Wert des Brotes zu schätzen verlernt. In manchen semitischen Sprachen dagegen hat man als Bezeichnung für Brot einen Begriff, der soviel wie „Leben“, das „Lebensnotwendige“ bezeichnet. Jesus teilt sich aus als den einen Lebensnotwendigen. Er weiß eben darum, dass die Not der Menschen in der Regel keine rein materielle Not ist, sondern vielfache Gesichter hat. Wir haben einen großartigen Glauben. Wir müssen uns nicht den Sinn des Lebens suchen, wir müssen uns nicht selbst Nahrung geben, die mehr ist als das irdische Brot. Wir bekommen geschenkt, was uns Menschen wirklich groß macht. Jesus sieht auf die viele geistige Not und Armut der Menschen und bietet sich als Brot an. Andersherum heißt dies aber auch: Wer glaubt, an Jesus vorbei leben zu können, verpasst das Wichtigste. Wenn wir von unserem Glauben sprechen, müssten Menschen spüren, dass wir jemanden kennen, der wirklich Brot für uns ist – lebensnotwendig. 

Dann zeigt das Bild: Die Aufgabe der Jünger besteht nur im Weitergeben, nicht im Festhalten und Selbstbesitzen. Das klingt so banal, ist aber theologischer Zündstoff. Was würde es für eine Gemeinde bedeuten, wenn sie sich vielleicht zum ersten Mal wirklich versteht als Gemeinschaft, die sich nicht damit begnügt, ihren Glauben hinter verschlossenen Türen zu feiern (was schon viel ist)? Die sich nicht sagt: Wir glauben, aber die anderen sollen doch ihren eigenen Überzeugungen folgen, sondern die sich wirklich als Gruppe versteht, die nur dazu da ist, nach außen weiterzugeben, was sie im Inneren empfangen hat? Wir müssen Wege finden in Toleranz, und doch Interesse an anderen Überzeugungen, ohne Beliebigkeit, mit Selbstbewusstsein. Nicht umsonst gehen wir heute auf die Straßen. Über diesen Tag hinaus gehören Menschen in der Nachfolge Christi auf die Straße. Und das wirklich in vielerlei Hinsicht: im Lebenszeugnis jedes einzelnen, im caritativen Einsatz, den jeder und jede als die eigene persönliche Aufgabe sieht, im Widerstehen gegen das Menschen- und Lebensfeindliche in unserer Gesellschaft auf so vielen Ebenen, im Denken, Sprechen und Tun. 

Eine kleine Gruppe kann viel geben, wenn sie offen ist für Christus und offen bleibt für die Menschen. Wir brauchen als Kirche keine Angst davor zu haben, eine kleinere Gruppe zu werden. Vor zwei anderen Möglichkeiten sollten wir wirklich Angst haben: dass wir vor lauter Angst um uns selbst Christus vergessen. Die Gefahr ist nicht klein. Auch als Kirche können wir viel von Christus reden, ohne ihm wirklich nahe zu sein. Jeder müsste von Zeit zu Zeit ernsthaft prüfen, inwieweit er wirklich sagen könnte: ich kann ohne ihn nicht leben. 

Und Angst davor, dass wir vor lauter Angst um uns selbst keine Kraft oder auch kein Interesse mehr haben, nach außen zu wirken, wenn uns die Menschen und die Welt gleichgültig werden oder wir sie nur noch als Gegenwelt erleben. 

„Gebt ihr ihnen zu essen“, sagt Jesus seinen Jüngern. Heute wollen wir feierlich und einladend zeigen, dass wir da sind, vor allem aber, dass wir etwas weitergeben, was uns selbst geschenkt ist. Wir geben das Lebensangebot Jesu weiter, seine Gegenwart, er will Brot des Lebens sein. Tragen wir ihn an diesem Tag, aber an allen Tagen auf die Straßen, in unsere Städte und Dörfer, selbstbewusst und bescheiden gleichermaßen. Wir bieten nicht uns selbst an. Umso wichtiger ist es, dass wir aus seiner Freundschaft und Gegenwart leben.