Wir sind eingebunden in ein Netz aller Menschen und Geschöpfe

Predigt im Pontifikalamt am Aschermittwoch im Hohen Dom zu Mainz, 14. Februar 2024

Eine Mülltonne in einer Straße voller Lebensmittelabfälle (c) AIExplosion KI generiert| stock.adobe.com
Datum:
Mi. 14. Feb. 2024
Von:
Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz

„Der Mensch und sein Müll“ – so lautet das Thema des diesjährigen Impulses zum Aschermittwoch, der Gottesdienst findet dazu seine Fortsetzung in einer Veranstaltung im Erbacher Hof. Über 600kg Abfall produziert jeder Mensch in Deutschland pro Jahr, damit sind wir in einer Spitzenposition weltweit. In den Privathaushalten ist das planlose Einkaufsverhalten einer der Hauptgründe. Lebensmittel werden weggeworfen, obwohl sie noch verwertbar wären. Die Weltmeere sind voll mit Plastikmüll, jährlich steigen die Müllmengen. Nicht nur die Industrie, jeder und jede einzelne trägt durch das Konsumverhalten zu dieser Entwicklung bei.

Dieses Thema gehört an den Anfang der Österlichen Bußzeit, der Fastenzeit, weil es auch um die Reflexion des eigenen Verhaltens geht. Es geht um das Nachdenken über Konsum und das eigene Verhältnis zu den Gaben der Schöpfung und zur Schöpfung insgesamt. Darüber hat sich Papst Franziskus in der Enzyklika „Laudato sí“ Gedanken gemacht, und dieses Thema als ein Anliegen der Kirche und der Weltverantwortung benannt. „Wir müssen auch die Verschmutzung in Betracht ziehen, die durch Müll verursacht wird, einschließlich der gefährlichen Abfälle, die in verschiedenen Gegenden vorhanden sind. Pro Jahr werden hunderte Millionen Tonnen Müll produziert, von denen viele nicht biologisch abbaubar sind: Hausmüll und Gewerbeabfälle, Abbruchabfälle, klinische Abfälle, Elektronikschrott und Industrieabfälle, hochgradig toxische Abfälle und Atommüll. Die Erde, unser Haus, scheint sich immer mehr in eine unermessliche Mülldeponie zu verwandeln. An vielen Orten des Planeten trauern die alten Menschen den Landschaften anderer Zeiten nach, die jetzt von Abfällen überschwemmt werden.“ (LS 21). Dabei ist niemand aus der Verantwortung genommen: „Diese Probleme sind eng mit der Wegwerfkultur verbunden, die sowohl die ausgeschlossenen Menschen betrifft als auch die Dinge, die sich rasch in Abfall verwandeln. Machen wir uns zum Beispiel bewusst, dass der größte Teil des Papiers, das produziert wird, verschwendet und nicht wiederverwertet wird. (…) Die Auseinandersetzung mit dieser Frage wäre ein Weg, der Wegwerfkultur entgegenzuwirken, die schließlich dem gesamten Planeten schadet. Wir stellen jedoch fest, dass die Fortschritte in diesem Sinn noch sehr gering sind.“ (LS 22) 

Die Fastenzeit könnte demnach eine Zeit sein, sich über das eigene Konsumverhalten und den eigenen Beitrag zur Wegwerfkultur Rechenschaft zu geben. Das Buch Genesis formuliert den Auftrag an den Menschen, im Dienst Gottes über die Erde zu herrschen. Heute wird uns klar, dass es nicht um Ausbeutung gehen kann, sondern um das Mittragen der Verantwortung für den Erhalt der Schöpfung. Mit dem heiligen Franz von Assisi sind wir eingeladen, alle Elemente der Schöpfung als unsere Schwestern und Brüder zu betrachten. Sonne und Mond sowie die Sterne werden in seinem Sonnengesang als unsere Geschwister gepriesen. Unsere Geschwister sind Wind, Luft, Wolken, das Wetter. Und das von uns oft verunreinigte Wasser, das so nützlich und lebensnotwendig ist, lobt er als unsere „Schwester Wasser“. 

Wenn wir heute ein derartiges Gebet mitsprechen, wird uns bewusst, dass es um mehr als um Naturromantik geht. Wir werden von der Heiligen Schrift und den Quellen der langen christlichen Tradition zur Verantwortung gerufen. Wir sind nicht heute mehr im Bewusstsein unterwegs, Teil der einen Schöpfung zu sein, als ihre Herren und Beherrscher. Die Schöpfung ist ein Ort der Gegenwart Gottes, der von Aufmerksamkeit und Respekt geprägt sein muss. Wir sind mit allen Geschöpfen verbunden in einem großen Netzwerk.

In der 2020 veröffentlichten Enzyklika „Fratelli Tutti“ über die „Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“ führt der Papst den Gedanken dramatisch weiter, denn auch Menschen werden manchmal wie Abfall behandelt: „Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen. Im Grunde werden die Menschen „nicht mehr als ein vorrangiger, zu respektierender und zu schützender Wert empfunden, besonders, wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben, wenn sie – wie die Ungeborenen – ‚noch nicht nützlich sind‘ oder – wie die Alten – ‚nicht mehr nützlich sind‘. Wir sind unsensibel geworden gegenüber jeder Form von Verschwendung, angefangen bei jener der Nahrungsmittel, die zu den verwerflichsten gehört“ (FT 18). (…) „So werden heute nicht nur Nahrung und überflüssige Güter zu Abfall, sondern oft werden sogar die Menschen ‚weggeworfen‘“. (FT 19). Menschenrechte werden dann nicht mehr für alle anerkannt, sondern für die Menschen, die nützen. 

Derzeit demonstrieren viele Menschen gegen rechtsradikale Menschenverachtung, und unsere kirchliche Kernbotschaft muss sein: Menschenrechte gelten für alle, und es gibt keinen Menschen, der ausgesondert und auf die Müllhalde der Geschichte gehört. Das spricht nicht gegen rechtstaatliche Regelungen in allen Bereichen, aber ein Rechtsstaat wird die Menschenwürde eines jeden einzelnen Menschen beachten. Als Kirche haben wir in der gesamten Diskussion über Migration die Menschen im Blick, die oft als unnütz gelten: die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die kranken und verletzten Menschen auf der Flucht, die Opfer von Menschenhandel und Sklaverei. In den öffentlichen Debatten kommen sie kaum vor. Menschen als Abfall – dieser Gedanke ist kaum auszusprechen. Der Papst erinnert an viele Formen der Ausbeutung und Sklaverei weltweit, von der wir teilweise profitieren, auch durch billige Produktion von Verbrauchsgütern für uns. Menschen werden wie Gegenstände behandelt, die man gebrauchen und bei Abnutzung wegwerfen kann. 

In vielen Fragen können Christinnen und Christen unterschiedlicher Meinung sein, nicht aber in der bedingungslosen Anerkennung jedes einzelnen Menschen als Ebenbild Gottes mit Würde. Zu dieser Würde gehört auch, dass jeder Mensch seinerseits in die Verantwortung genommen werden muss für die Gestaltung des Miteinanders und der Gemeinschaft. Menschen vor der Geburt und Menschen in Alter und Krankheit haben diese unverbrüchliche Würde ebenso. Als Christinnen und Christen müssen wir an einer Welt arbeiten, die diese Würde aller anerkennt und in allen Lebensphasen für die Würde des menschlichen Lebens eintritt. Niemand ist Abfall. Ich schaue auf die Kriegsschauplätze, die uns seit Monaten beschäftigen. Wie viele zehntausende Menschen sind gestorben für einen kriegerischen Irrsinn? Auf allen Seiten. Sie scheinen nichts wert zu sein. Menschen als Abfall – einen schlimmeren Gedanken kann es nicht geben.  

„Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst“ – so lautet der Text bei der Spendung des Aschenkreuzes. Ist der Mensch am Ende nicht doch Abfall? Ich lese Berichte über die veränderten Formen der Bestattung in Deutschland. Am Ende werden wir alle zur Erde zurückkehren, von der wir genommen sind. Aber auch der Verstorbene ist kein Abfall. Der Leib ist sozusagen Sakrament, Zeichen der Nähe Gottes, und auch unsere Abschieds- und Beerdigungsformen müssen die Würde des Menschen wahren. Für mich ist es wichtig, dass alle Namen in Gottes Hand geschrieben sind, bei ihm ist niemand vergessen. Unsere Gedenkkultur sollte dies wachhalten. Ich werde Staub, nicht um anonym in einen Kreislauf zurückzukehren, sondern um in einer neuen Form des Lebens in Gott zu sein, ihn zu sehen, „wie er ist“ (1 Joh 3,2). 

Wir treten ein in die 40 Tage der Österlichen Bußzeit, die uns einlädt zu einer neuen Hinwendung zu Gott und den Menschen. Wir sind eingebunden in ein Netz aller Menschen und Geschöpfe. Wir können im Kleinen beginnen, etwas zu verändern, im Denken, Sprechen und Handeln, und schließlich in der Art und Weise, wie wir unser Verbundensein mit der Schöpfung als Ganzer gestalten. 

Mit dem Gebet für unsere Erde von Papst Franziskus schließe ich: 

„Allmächtiger Gott,
der du in der Weite des Alls gegenwärtig bist
und im kleinsten deiner Geschöpfe,
der du alles, was existiert,
mit deiner Zärtlichkeit umschließt,
gieße uns die Kraft deiner Liebe ein,
damit wir das Leben und die Schönheit hüten.
Überflute uns mit Frieden,
damit wir als Brüder und Schwestern leben
und niemandem schaden.
Gott der Armen,
hilf uns,
die Verlassenen und Vergessenen dieser Erde,
die so wertvoll sind in deinen Augen,
zu retten.
Heile unser Leben,
damit wir Beschützer der Welt sind
und nicht Räuber,
damit wir Schönheit säen
und nicht Verseuchung und Zerstörung.
(…)Lehre uns,
den Wert von allen Dingen zu entdecken
und voll Bewunderung zu betrachten;
zu erkennen, dass wir zutiefst verbunden sind
mit allen Geschöpfen
auf unserem Weg zu deinem unendlichen Licht.
Danke, dass du alle Tage bei uns bist.