Der christliche Glaube und die Zukunft Europas

Miloslav Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag und Vorsitzender des Rates der europäischen Bischofskonferenzen

Datum:
So. 4. März 2001
Von:
Bistum Mainz

Rede zur Feier der Kardinalserhebung von Bischof Karl Lehmann beim Festakt in der Rheingoldhalle

Vor genau fünf Wochen haben wir ein erstes Mal den neuen Kardinal gefeiert. Das war in Porto, bei einer ökumenischen Tagung auf europäischer Ebene. Uns erreichte am Mittag die Meldung, der Heilige Vater habe Karl Lehmann zum Kardinal ernannt. Glauben Sie mir: alle Teilnehmer haben diese Nachricht mit lang anhaltendem Beifall aufgenommen und ich selbst war sehr, sehr glücklich. Denn Du, lieber Karl, und ich sind seit langem als Freunde und als Weggefährten eng verbunden. Ich habe oft aus nächster Nähe erlebt, wie Du Dich um die Lebendigkeit und Einheit der Kirche gesorgt hast, wie Du mit Dir selbst und anderen um die Bedeutung unseres Glaubens in einer sich wandelnden Gesellschaft gerungen hast. Papst Johannes Paul II. hat diesen großen Einsatz gewürdigt, indem er Dich ins Kollegium seiner engsten Mitarbeiter aufnahm.

Heute sind wir in einem viel größeren Rahmen zusammen als vor fünf Wochen. Die Freude aber ist dieselbe wie damals, auch bei mir. Dass die Gastgeber zu dieser kleinen Rede mich eingeladen haben, empfinde ich als Ehre. Karl Lehmann ist Bischof von Mainz und er ist Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Beides mag sich ergänzen oder - was ja bisweilen auch vorkommen soll - in Spannung miteinander stehen. Auf jeden Fall haben beide Ämter die Aufgabe gemeinsam, Glaube in unserer Zeit und in Europa zu leben und an die Menschen weiterzugeben. Europa als Ort der Bewährung der Kirche: das ist in der Tat eine Perspektive, der sich Karl Lehmann seit langem verschrieben hat. Uns beide verbindet sie vor allem im Rat der Europäischen Bischofskonferenzen, in dessen Präsidium Karl Lehmann und ich auf engste zusammenarbeiten.

1. Als unser Papst vor fünf Jahren Deutschland besuchte, hat er sich an einem Ort verabschiedet, der wie kein anderer für die Teilung und Zerrissenheit nicht nur Ihres Landes, sondern der ganzen Welt stand: am Brandenburger Tor. Er hat dabei den Blick auf das "neue Haus Europa" gerichtet, auf das der Prozess der europäischen Einigung, "Europäisierung Europas" – wie dies der Papst nennt – zuläuft. Der Papst hat nicht nur den Deutschen, sondern allen Europäern zugerufen: Das neue Haus Europa "braucht vor allem die Luft zum Atmen, geöffnete Fenster, durch die der Geist des Friedens und der Freiheit eindringen kann. Europa braucht nicht zuletzt deshalb überzeugte Türöffner, also Menschen, die die Freiheit schützen durch Solidarität und Verantwortung. Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa braucht dazu den unentbehrlichen Beitrag der Christen." Dieses Wort des Papstes nimmt uns in die Pflicht.

Liebe Freunde, als ein katholischer Priester, der seinen Beruf zeitweise nicht ausüben durfte und im Untergrund wirken musste, weiß ich, wovon ich rede, wenn ich sage: Es war eine große Glücksstunde der europäischen Geschichte, die wir zum Ende des letzten Jahrhunderts erlebten. Die Staaten Mittel- und Osteuropas befreiten sich in einer "samtenen Revolution", wie man bei uns in Tschechien sagt, von der Diktatur der kommunistischen Parteien. Die Mauer in Berlin wurde niedergerissen. Der Eiserne Vorhang verschwand. Die Spaltung Europas und damit auch Deutschlands wurde überwunden. Die Christen konnten aus vollem Herzen den Psalm 126 singen, der von den Tränen und vom Jubel der Gefangenen zeugt: "Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende. Da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel." Auch die Politik verstand es, das Glücksgefühl jener Wende in Worte zu fassen. In ihrer "Charta für ein neues Europa" erklärten die Staats- und Regierungschefs der meisten Länder Europas im November 1990: "Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit."

Aber ganz so einfach ist alles nicht verlaufen. Es blieb zunächst eine Art Eiserner Vorhang in den Herzen und Köpfen. Es blieben geschichtlich verstehbare Barrieren zwischen den Völkern, z.B. zwischen Polen und Deutschland, zwischen Tschechien und Deutschland. Hier war Kardinal Lehmann ein wirklicher "Türöffner". Schon 1990 ist zwischen der Deutschen und der Tschechischen Bischofskonferenz eine lebhafte Korrespondenz entstanden, die entscheidend von meinem Vorgänger Kardinal Tomášek initiiert wurde. Beide Seiten baten einander um Verzeihung, gewährten aber auch gegenseitig Verzeihung. So konnten wir im Jahre 1995 eine gemeinsame Erklärung zum 50. Jahrestag des Endes des II. Weltkrieges schreiben. Es waren Schritte, um zwei durch den Kommunismus getrennte Welten in Europa – Ost und West – anzunähern und zu verbinden.

Allerdings, in mancher Hinsicht verflog die Hochstimmung dieser Jahre schnell. Wir haben das auch in der Kirche erlebt, die ja vielerorts erst jetzt beginnen konnte, die Früchte des Zweiten Vatikanischen Konzils für das eigene Land zu ernten. Nicht mehr der Psalm 126, sondern das Buch Exodus mit der Wüstenwanderung der Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten spiegelte diese Stimmung. Die Fleischtöpfe in der Gefangenschaft schienen aus der Ferne attraktiver als die Freiheit und das Manna in der kargen Wüste.

2. Heute kann man sagen: Die europäische Wende ist gewiss unumkehrbar. Der Ruf des Papstes in Berlin bleibt aktuell. Heute muss dieser Ruf lauten: Werden Sie nicht müde, das neue Haus Europa zu bauen. Als Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen füge ich freilich ausdrücklich hinzu, was uns alle - darunter Kardinal Lehmann - zutiefst bewegt: auch für das neue Haus Europa gilt das Wort des Psalmisten "Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst, der daran baut" (Ps 127, 1). Dieses Wort ist in erster Linie eine Zusage, eine Ermutigung, und erst in zweiter Linie eine Ermahnung. Es bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass jemand da ist, der an unserer Seite ist, so dass wir nicht umsonst bauen. Das Wort entlässt uns nicht aus der Pflicht, Europa ein neues Gesicht zu geben. Aber es macht deutlich, dass wir nicht alleine stehen. Der Psalm fährt fort: "Wenn nicht der Herr die Stadt bewacht, wacht der Wächter umsonst." Der Herr ist wirklich an unserer Seite!

Was könnte das heißen, dass der Herr das Haus Europa mitbaut, oder dass wir das Haus mit dem Herrn bauen? Ich will dies anhand dreier Worte Jesu zu erforschen versuchen.

"Tut dies zu meinem Gedächtnis" (Lk 22,19)

Dieses Wort Jesu führt uns in den Raum des letzten Mahles mit seinen Jüngern. Jesus deutet dieses Mahl als besonderes Zeichen der Verbindung zwischen Gott und den Menschen, als Vergegenwärtigung seines heilbringenden Leidens und Sterbens und seiner Auferstehung. Er übergibt es den Jüngern und damit auch uns. "Tut dies zu meinem Gedächtnis" bezieht sich auf die Eucharistie, aber auch auf den Auftrag der Kirche insgesamt. Die Kirche erinnert an die Geschichte Gottes mit den Menschen. Sie versteht die Geschichte als Geschichte Gottes mit den Menschen, als Weg Gottes zu den Menschen und als Weg der Welt zu Gott.

Dass der Herr selbst das Haus baut, bedeutet von hier aus ein Doppeltes für Europa: Erstens kann und braucht Europa nicht pragmatisch und kurzatmig gestaltet zu werden. Es kann und muss mit geschichtlichem Bewusstsein gebaut werden. Die Fragmentierung unseres Lebens droht ja, zu einem kurzen Gedächtnis zu führen. Eine Welt aber, die sich ihrer Geschichte, ihrer Herkunft und Zukunft nicht bewusst ist, lebt nur noch im Präsenz und verliert im tiefsten ihre Zukunft und ihre Visionen. Auch das politische Gestalten braucht die spirituellen Wurzeln, die eine Gesellschaftsordnung tragen. Hier kann und will das christliche Verständnis der Geschichte einen Beitrag für Europa leisten. An ein schönes Bild des Alten Testament ist an dieser Stelle zu erinnern: Jakobs Traum von geöffneten Himmel, von der Verbindung mit dem Himmel: "Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht" (Gen 28, 16). In einem kirchlichen Dokument des Jahres 1999 heißt es prägnant: "Jesus Christus, der in der Kirche lebt, ist die Hoffnung für Europa". Das ist die Richtung.

Zum zweiten bewahrt der Glaube vor dem Irrtum, durch eigene Kraft eine Art weltimmanentes Heil herbeiführen zu wollen. Das macht ein engagiertes Ringen für ein friedliches Europa ganz und gar nicht überflüssig, aber es verhindert eine Verabsolutierung unserer geschichtlichen Erfolge. Das europäische Einigungswerk ist gewiss ein wichtiges Instrument zum Wohle der Menschen, aber es ist niemals der "Himmel auf Erden" - eine Erkenntnis, die Enttäuschungen relativiert und verhindert, dass diese sich zerstörerisch gegen Europa selbst richten.

2.2. "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst" (Mk 12,31)

Auf die Frage der Pharisäer nach dem wichtigsten Gebot antwortet Jesus mit der Forderung nach Gottes- und Nächstenliebe. Sie gründet in der Überzeugung, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist und dass ihm als solchem eine unaufgebbare Würde zukommt. Diese christliche Wertschätzung des Menschen gehört zweifellos zum Urbestand europäischer Identität. Der Mensch ist Person. Er hat eine unantastbare, unveräußerliche Würde, die schon dem ungeborenen Menschen zukommt. Als Person ist der Mensch ein "Jemand", ein einmaliges Subjekt mit Plänen, Anlagen und Initiativen. Weil der Mensch immer schon Person ist, wird eine Unterscheidung zwischen "Person" und "Mensch" widersinnig. Ich sage dies sehr dezidiert mit Blick auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Sie ist sicher ein wichtiges Dokument, das den Menschen ins Zentrum europäischer Politik rückt. Aber die sprachliche Unterscheidung zwischen Mensch und Person in der Charta darf nicht zu der irrigen Annahme verleiten, dass zwischen Mensch und Person ein Unterschied besteht und einigen Menschen etwa bestimmte Rechte nicht zukommen.

Europas Haus wird so gesehen gut und vom Herrn selbst mitgebaut, wenn es die Würde der Person zur Geltung bringt. Diese Auffassung hat zu Recht Niederschlag gefunden in den Menschenrechten, die durch die neue Charta der Grundrechte erneut eine besondere Beachtung für das europäische Handeln erhalten haben.

2.3. "Geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern" (Mt 28, 19)

Dieser Missionsauftrag Jesu ist das dritte Jesuswort, an dem die Zusage Gottes, dass er unser Haus mitbaut, verdeutlicht werden kann. Ein Auftrag zur Mission mag unzeitgemäß klingen. Die Mission ist aber existenziell mit der Identität jedes Christen verbunden. Sie ist kein "Befehl", sondern eine innere Notwendigkeit. Wenn ich einen Schatz bekommen habe, mich zutiefst geliebt weiß, drängt es mich in meinem Innern. Es ist für mich eine innere Lebensnotwendigkeit das, was ich bekommen habe, weiterzugeben. Es "muss raus".

Einerseits ist die missionarische Sendung für uns Christen wichtig: Wir kommen nicht umhin, immer neu die Hoffnung zu verkünden, die uns treibt. Wir wollen zeigen, welch großes Potential menschlicher Entfaltung der Glaube in sich birgt. Dabei ist die enge Verbundenheit der Christen von hoher Bedeutung. Wir können hier auf eine lange Geschichte zurückblicken, die etwa die beiden Bistümer Mainz und Prag miteinander verbindet, wurde doch der heilige Adalbert von Prag, dessen 60. Nachfolger auf dem Bischofsstuhl ich bin, vor über 1000 Jahren vom damaligen Mainzer Erzbischof Willigis, dem Vorgänger von Kardinal Lehmann, zum zweiten Bischof von Prag geweiht. Bis zum Jahre 1344 – dem Gründungsjahr des Prager Erzbistums - war Mainz für das Prager Bistum seine Metropolie.

Darüber hinaus macht der Missionsauftrag Jesu auch etwas für die europäische Politik deutlich: Das Wort Jesu hat die Jünger weit über sich und ihre eigene Welt hinausgewiesen. Europa ist Teil eines größeren Ganzen und steht in der Pflicht, sich dem gegenüber nicht abzuschließen.

Wie weit konkret die europäischen Organisationen reichen können und wie viele Mitglieder sie aufnehmen können, ist eine politische Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Doch finde ich es ermutigend, dass die Europäische Union intensive Beitrittsverhandlungen führt, und ich hoffe sehr, dass diese bald zu einem guten Ende kommen. Und auch das noch: Es wäre eine große Ungerechtigkeit, wenn sich dieser Kontinent gegenüber anderen, insbesondere den ärmeren Teilen dieser Welt, abschließen würde; dies gilt vor allem für die Handels– und Entwicklungspolitik.

3. "Tut dies zu meinem Gedächtnis", "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst" und "Geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern" sind drei Worte Jesu, die für die Zukunft Europas prägend sein werden. Sie weisen der Kirche den Weg durch diese Zeit.

Verehrte, liebe Anwesende, lassen Sie sich gerade heute ergreifen von der Weite und dem Gewicht dieser Perspektive, die sowohl dem Bistum Mainz als auch der Bischofskonferenz dieses Landes gesteckt ist: den Glauben in und für Europa zu bewahren und zu bewähren. Das neue Haus Europa hat einen starken Baumeister. Europa wird vom Herrn begleitet und gestärkt. Dich, lieber Karl, weiß ich als zuverlässigen Gefährten auf diesem Weg. Ich freue mich auf das weitere Zusammensein im gemeinsamen Dienst – mit einer neuen Würde, die Dir verliehen wurde.