im Mainzer Stadion am Bruchweg zum Ende der „Tage der Begegnung“ zur Vorbereitung des XX. Weltjugendtages Köln 2005
Das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, seit langem „Mariä Himmelfahrt“ genannt, das wir heute feiern, hat eine vielfältige Geschichte. Man findet es in der Ostkirche, bald nachdem das Konzil von Ephesus (431) feierlich erklärt hat, dass man Maria mit Recht „Gottesgebärerin“ nennen darf. Im späten fünften Jahrhundert galt der 15. August auch als ein staatlicher Feiertag. Der Westen hat sich bald dieses Fest auch zu Eigen gemacht. Die Frömmigkeit und die Kunst haben in Ost und West das Fest Mariä Himmelfahrt immer wieder mit den höchsten Worten und den schönsten Farben gefeiert. Aber die Theologie tat sich schwer und kam, mindestens wenn man auf eine einheitliche Urteilsbildung schaut, ziemlich spät hinterher. Manchmal ist der Verstand allein langsam. Die Meditation der Liebe ist schneller. So hat erst Papst Pius XII. das, was die Kirche schon lange zu ihrem Glaubensschatz zählte, am 1. November 1950 feierlich als ein von Gott geoffenbartes Dogma verkündet, „dass (näm-lich) die unbefleckte, allzeit jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Ablauf ihres irdischen Lebens mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenom-men wurde.“ Aber was heißt dies alles in unserem Glaubensverständnis und für unser heutiges Leben? Unsere evangelischen Schwestern und Brüder tun sich mit dieser Wahrheit unseres Glaubens besonders schwer. Ihnen, aber auch uns müssen wir versuchen, es immer besser zu deuten.
Alle Aussagen über Maria gründen grundsätzlich darin, dass sie „die Mutter des Herrn“ ist, wie das Lukas-Evangelium schon ganz früh Elisabeth sagen lässt, bevor Maria das Magnifikat singt (vgl. Lk 1,43). Von allen Menschen steht sie Jesus Christus, ihrem Sohn, am nächsten. Um Jesus als dem Sohn Gottes eine würdige Wohnstatt zu bereiten, hat der Vater sie vor aller Sünde bewahrt und sie dadurch besonders ausgezeichnet: „Selig ist die, die geglaubt hat“ (Lk 1,42. 45).
Jesus Christus hat durch seinen Tod, d.h. die Hingabe seines Lebens bis zum Äußersten, für alle Menschen den Weg zum Himmel wieder eröffnet. Wir spüren auch heute noch, wie wahr es ist, wenn die Bibel des Alten und des Neuen Testaments in denkwürdiger Übereinstimmung mit modernen Denkern sagt: „Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod.“ (l Kor 15,26; vgl. Offb 20,14; 21,4). Der Mensch ist durch die Erlösung und Befreiung Jesu nicht im ewigen Tod verloren. Damit ist nicht nur an den gewiss schlimmen physisch-leiblichen Tod gedacht, sondern mit dem Tod meint besonders das Neue Testament immer auch Hass, Feindschaft, Verderbnis und Sünde, denen der Mensch unausweichlich ausgeliefert war.
Jesus Christus ist darum auferweckt worden vom Vater und hat den Menschen neues Leben gebracht. Dies gilt nicht nur für Jesus selbst, denn er wollte immer auch alle retten, die ihm anvertraut sind, und die seine Einladung zum Glauben annehmen. „Es gibt aber (in der Auferweckung) eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus, dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören“ (1 Kor 15,23). In dieser Reihe (wörtlich auch „Ordnung“) steht Maria als Mutter des Herrn ihm, Jesus Christus, zweifellos am nächsten. Darum hat Gott sie im Augenblick ihres Todes mit Leib und Seele zur Herrlichkeit des Himmels erhoben. Maria ist diese Gnade deshalb schon vor dem Allgemeinen Gericht mit Vorzug allen anderen Menschen gegenüber zuteil geworden, weil sie als Mutter des Herrn von aller Sünde bewahrt blieb. An ihr hat sich bei der Vollendung ihres Lebens im Tod schon das vollzogen, was allen Menschen durch die Auferstehung Jesu Christi von Gott am Ende verheißen ist.
Maria ist darum von dieser Erfüllung ihres Lebens her in unserer oft so verzweifelten und tödlichen Welt ein untrügliches „Zeichen der Hoffnung und des Trostes“ (Tagesgebet): Jesus Christus hat nämlich den Tod und mit ihm den Hass und die Sünde überwunden. Der Glaube führt wirklich zu einem erreichbaren Ziel. Auch wir können, wenn wir auf dem Weg des Glaubens bleiben, zur Vollendung gelangen. Das Leben Mariens zeigt uns, dass wir dabei auf unserem Weg zwar nicht vor Schmerz und Leid verschont bleiben – schließlich ist sie trotz ihrer Heiligkeit die Mutter der Sieben Schmerzen -, aber dass wir dieses Leid am Ende besiegen können. Dies ist auch für unsere heutige christliche Existenz wichtig. Das wunderbare Lied Mariens, das Magnifikat, sammelt ganz dicht die wichtigsten Glaubenseinsichten des Alten Bundes und macht uns frischen Mut zu einem neuen Leben. In den letzen Jahren haben wir die Größe dieses Lobgesangs neu entdeckt. Es ist das Lied der Armen, denen Gott trotz aller Bitternis ihres Lebens eine unverlierbare Hoffnung schenkt. Die Geschichte wird im Lichte dieser Hoffnung anders aussehen als in unseren Geschichtsbüchern, in denen fast immer die Mächtigen die Sieger sind. Hier aber heißt es: „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1, 51ff). Ist das nicht eine unglaubliche „Umwertung der Werte“, von der immer wieder alle träumen?
Die Aufnahme Mariens mit Leib und Seele zeigt uns ganz konkret, dass Gott den ganzen Menschen liebt und am Ende rettet. Die irdische Wirklichkeit, unser Leib, bleibt zwar nicht so, wie er jetzt beschaffen ist, denn unser irdischer Leib zerfällt (vgl. 1 und 2 Kor). „Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch.“ (1 Kor 3,15). Die Bibel sagt, dass unser Leib verwandelt wird (vgl. 1 Kor 15,51 f; Phil 3,21). Vor Gott sind die irdischen Dinge, dabei gerade der Leib des Menschen, nicht nur verglühte Asche, sondern das Irdische wird im innersten Kern durch die Auferstehung des Fleisches gerettet. Also will Gott auch die irdische Wirklichkeit retten. Man braucht sie deswegen auch in dieser Zeit nicht absolut zu setzen und zu vergötzen. In ihrer irdischen Gestalt werden diese Dinge vergehen, ohne deshalb absolut nichtig zu werden. Darum kann man sie in ihrer Vorläufigkeit tiefer lieben, wenn man sie nicht vergötzt. Darum hat auch der Christ am Ende ein tieferes Verhältnis zur Materie als aller Materialismus. Dies gilt auch für unsere Arbeit und unseren Einsatz zu Gunsten einer gerechten Ordnung in unserer Welt. Darum hat dieses zuerst so weit von uns entfernt scheinende Fest eine unglaubliche Bedeutung für das rechte Weltverhältnis des Christen heute.
Die Volksfrömmigkeit hat dies auf ihre Weise, geradezu instinktiv, immer schon gespürt und geahnt. Seit über tausend Jahren werden heute Heilkräuter zum Gottesdienst gebracht. Die Heilkraft der Schöpfung soll durch die Fürbitte der Kirche dem ganzen Menschen zum Heil dienen. Dieses Heil ist in Maria besonders deutlich geworden. Die Menschen bringen Palmen, Rosen, Zimt, Myrrhe, Weihrauch, Wein und wohlriechende Kräuter (vgl. Sir 24) herbei. Mit den Blumen bringen wir die Schönheit der Schöpfung in den Gottesdienst, der so zu einem Fest der Freude wird. Dabei geht es nicht nur um den Menschen, der sich gerne zum Mittelpunkt der Welt erklärt, alles auf sich bezieht und verbraucht. Es geht auch um die nichtmenschliche Schöpfung. Dieses neue Verhältnis führt uns auch zu einer vertieften Beziehung zu den irdischen Dingen, die allen Menschen gehören. Dann sollten wir mit ihnen auch anders umgehen: schonend und sparend, auch im Blick auf künftige Generationen. Wir sind ganz dicht bei einer tiefen Sensibilität für die ökologischen Aufgaben heute.
Wir sind auf dem Weg nach Köln. Dort geht es immer wieder um die „Heiligen Drei Könige“, die wir auch Magier oder Weise nennen. So seltsam es sich vielleicht anhört: die Drei Könige und Maria gehören eng zusammen. Die Könige suchen aufrichtig nach einem letzten Sinn und tragenden Halt des menschlichen Lebens in allen Situationen. Gott lässt sie nicht in die Irre gehen, obgleich es Heiden sind. Im Zeichen eines Sterns, dem sie unbeirrt folgen, führt er sie, ähnlich wie er Maria durch die Botschaft an sie geführt hat, ohne dass sie immer wusste, wohin der Weg geht. Aber sie blieben unterwegs und mit Leidenschaft ihrer Suche nach Wahrheit treu. Nur so konnten sie die Wahrheit auch finden. Vor Maria und mit ihr finden sie in dem Kind mitten in der Armut des Stalls den Herrn der Welt. Danach “zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.“ (Mt 2,12) Diese Hoffnung, die so neu bestärkt worden ist durch die Kraft des Glaubens und die Anbetung des einzigen Herrn der Welt, soll uns heute und darüber hinaus auf dem gemeinsamen Weg nach Köln begleiten und führen. Amen.
Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz
Zur theologischen Begründung vgl. nun zusammenfassend K. Rahner, Sämtliche Werke. Band 9: Maria, Mutter des Herrn. Mariologische Studien, bearbeitet von R. P. Meyer, Freiburg i.Br. 2004 (darin die große Assumptio-Arbeit von 1951 mit den späteren Ergänzungen und den zusätzlichen Studien).