Wörtlich heißt es weiter: „Die Religionen schulden einander und den Menschen gewiss wechselseitiges Verstehen, größtmögliche Verständigung und gemeinsame Verantwortung gegenüber den Bedrohungen unserer Welt, am meisten aber das Zeugnis ihres Glaubens. Dies schließt die Bereitschaft ein, in dem, was mir als das Fremde begegnet, Wahrheit zu suchen, die mich angeht und mich weiterführen kann.“
Da Kardinal Lehmann sich nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt in der vergangenen Woche zu Hause schont, hatte Dr. Barbara Nichtweiß das Manuskript am Donnerstagabend, 18. Mai, im Erbacher Hof in Mainz vorgetragen. Nichtweiß ist Leiterin der Abteilung Publikationen im Bischöflichen Ordinariat Mainz und frühere persönliche Referentin von Kardinal Lehmann. Auf Anraten seiner Ärzte wird Kardinal Lehmann in der nächsten Zeit weniger Termine wahrnehmen. Der Vortrag bildete den Auftakt der dreiteiligen Vortragsreihe „Religionsfreiheit ist Menschenrecht“, die von der Bistumsakademie Erbacher Hof in Zusammenarbeit mit der Missio-Diözesanstelle im Bistum Mainz angeboten wird.
Weiter heißt es in Lehmanns Ausführungen: „Wenn dann auch in der gegenseitigen Brüderlichkeit, in der Offenheit und Ehrlichkeit zueinander, im Respekt voreinander Toleranz gefördert wird, bleibt bei allem wechselseitigen Verstehen, das jedoch ein letztes Geheimnis im Anderen nicht ausschließt, ein bleibendes Getrenntsein, auch wenn dieses sich in einem ernsthaften Dialog vermindert. Darum bleibt auch in jedem echten Gespräch und Disput ein Schmerz. Dies ist der Weg zwischen der falschen Sicherheit des Fundamentalismus und dem unaufhörlichen Zweifel des Relativismus. Beide untergraben das Vertrauen untereinander und fördern Verbohrtheit und Beliebigkeit. Wir wollen aber über dem Zweifel nicht die Gewissheit verlieren und im Verlangen nach Orientierung nicht starrsinnig werden. Darum braucht es im Leben des Geistes immer das Ringen zwischen Wahrheit und Freiheit.“
Das Ringen um Toleranz und Religionsfreiheit gehöre „zu den großen Leidenswegen der europäischen Geschichte“, schreibt Lehmann. „Seit in der Reformationszeit die Kirchenspaltung Wirklichkeit geworden war, haben sich die Christen der verschiedenen Bekenntnisse über Jahrhunderte gegenseitig das Recht auf die freie Ausübung der Religion abgesprochen und versucht, den weltlichen Arm des Staates und die Ordnung des Rechts für sich in Dienst zu nehmen.“ Etwa die „grauenvollen konfessionellen Bürgerkriege“ im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts erinnerten an diesen politischen Kampf um die Wahrheit der Religion.
Kardinal Lehmann verweist darauf, dass die Religionsfreiheit, „nur über den Staat und seine politische Entscheidungsmöglichkeit“ erreicht werden konnte. „Nach einigen Vorstufen ist die Religionsfreiheit schließlich als staatlich gewährleistetes und geschütztes Freiheitsrecht Wirklichkeit geworden.“ Und weiter: „Für den Christen von heute steckt hinter dieser Entwicklung eine bittere und schmerzliche Erkenntnis: Religionsfreiheit, die heute auch den Christen weithin selbstverständlich ist, verdankt sich in ihrer Entstehung nicht den Kirchen und auch nicht der Theologie, sondern dem modernen Staat, den Juristen und dem weltlichen, säkular-rationalen Recht.“
Lehmann bezeichnet dies als „eine tiefe, geradezu tragische Entwicklung, die meines Erachtens in den Kirchen bis heute noch nicht in ihrer gerade in unserem Land zerstörerischen Wirkung wahrgenommen wurde: Wenn die Menschen wieder zu Ruhe, äußerem Frieden, Sicherheit und Ordnung gelangen wollten, war dies nur möglich unter Absehung von der Wahrheit des Glaubens. Die Ausklammerung der Wahrheitsfrage erwies sich dabei als ein Verlust an Orientierung. Sie rückte auch beide großen Konfessionen in gewisser Weise an den Rand der Gesellschaft und beraubte sie der bisherigen Einwirkungsmöglichkeiten.“ In der Kirche sei erst mit der Erklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis Humanae) des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Durchbruch in dieser Frage erreicht worden.
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