Ich bin gebeten worden, vom Veranstalter und von der Frau Moderatorin zu diesem Thema „Reform der Gesellschaft – Zeit für Veränderungen?“ das Gespräch mit einem Kurzreferat einzuleiten, wie dies auch Prof. Dr. Klaus Töpfer tun wird. Danach erfolgt unser Gespräch.
Ich werde mich auf wenige Stichworte konzentrieren und wirklich bloß eine Gesprächsvorbereitung einleiten, wobei ich die Grundlagen vor allem von Reformen ansprechen möchte, dies aus meiner beruflichen Kompetenz in Philosophie und Theologie und aus meiner Erfahrung in den letzten Jahrzehnten, sowohl an Universitäten als auch in der Kirche, nicht zuletzt auch in ökumenischer Hinsicht.
Das Wort Reform gibt es schon am Anfang der europäischen Kultur. Dafür gibt es freilich auch noch andere Worte, auch in unserer Sprache, wie z.B. Erneuerung, Restauration usw. Jedenfalls bezeichnet Reform die erneuernde Veränderung eines Zustandes, einer Einstellung, von Lebensformen und Institutionen, einfach auch von Ordnungen. Eine solche Reform ist immer dann nötig, wenn wir eine Situation und ihre Gestaltungen verändern wollen und müssen, weil sie mangelhaft sowie fehlerhaft sind und auch hinter anderen realen Gestaltungsmöglichkeiten zurückbleiben. Das Wort bekommt eine noch deutlichere Kontur, wenn wir auf zwei begleitende Worte schauen, die oft in der Nähe sind, nämlich Restauration und Revolution. Im Gegensatz zur Restauration kann Reform zwar durchaus auch Elemente der Wiederherstellung eines früheren Zustands enthalten, aber nicht prinzipiell. Der Begriff „Reform“ verbindet sich nicht zwangsläufig mit einer vorwiegenden Orientierung an vergangenen Denk- und Gestaltungsformen. Dafür wird viel eher der Begriff Restauration benutzt, manchmal auch das Wortfeld „reaktionär“, das freilich weitgehend schon zum Schimpfwort geworden ist. Wenn man Reform mit Revolution in Beziehung setzt, dann bedeutet „Revolution“ viel weniger eine Anknüpfung an etwas Bestehendes, ist nicht auf Kontinuität bedacht und will auch ganz bewusst einen Bruch mit der Tradition und ihren Überlieferungen erreichen. Es ist leicht erkennbar, dass der Begriff Reform gleichsam in der Mitte zwischen Restauration und Revolution steht. Es ist eine Veränderung, die das Bisherige umgestaltet, aber nicht mit Gewalt, sondern eben im Sinne einer solchen Anknüpfung an das Gegebene, aber doch so, dass dies ein schöpferisches Moment der Neuerung bedeutet. Eine solche Reform kann recht verschiedener Weise dem Vermächtnis z.B. von Stiftern und in Gründern, aber auch einem ursprünglichen Ethos einer Bewegung oder Organisation entsprechen. Dennoch darf man den Veränderungswillen in dem Wort Reform nicht geringschätzen.
Dass es überhaupt zwischen Restauration und Revolution so etwas wie Reform gibt, hängt mit unserer menschlichen Natur eng zusammen. Wir sind kein Wesen, das man nur auf das Gegebene, Bestehende und Bisherige verweisen kann. Zum Menschen gehört auch, dass er die Gegebenheiten nicht einfach erhält und verteidigt, sondern dass er sie in Richtung einer positiven Veränderung hin zu einer noch besseren Verwirklichung des Zustandes bzw. des Zieles umgestaltet. Wir sind nicht einfach eingeschlossen und geradezu einzementiert in das, was „unabänderlich“ ist. Zum Menschen gehört eben auch ein gewisser Spielraum von Freiheit in der Gestaltung seiner Um- und Mitwelt. Man hat den Menschen immer in dieser Zwischenwelt zwischen Kontinuität und schöpferischer Veränderung gesehen.
In der Neuzeit hat der Mensch immer mehr seine Fähigkeiten und seine Möglichkeiten der Veränderung entdeckt und auch verwirklicht. Ja, er wurde immer mehr in seinem Können und in seiner „Macht“ der Beherrschung seiner Welt und sogar seiner selbst verstanden. Schon zu Beginn der Neuzeit wurde er geradezu definiert als „Herr und Besitzer der Welt“. Wir kennen diesen ungeheuren Drang nach Veränderung im Sinne der Expansion und eben auch einer Steigerung der Verfügungsmacht.
Freilich musste der Mensch immer wieder erkennen, dass Reformen nicht für die Ewigkeit sind. Auch wenn sie in einer bestimmten Zeit gelingen und sich auch bewähren, so verändern sich wieder die Rahmenbedingungen. Manches, was früher neu und kühn war, veraltet auch rasch und ist im Blick auf die ursprünglichen Ziele nicht mehr geeignet. Man kann dies auch gut daran erkennen, dass man auch erfolgten Reformen gegenüber kritisch wird und sie in Frage stellt. So finden wir bei besonders sensiblen Gruppen und Gemeinschaften, etwa in manchen Ordensgemeinschaften, eine eigene Sensibilität vor, dass es von Zeit zu Zeit auch einer „Reform der Reform“ bedarf, weil neue Rahmenbedingungen gegeben sind. Im politischen Bereich kommt es auch sehr darauf an, ob eine Reform wirklich geeignet ist, um eine Verbesserung vor allem der Zustände zu erreichen, ob eine Reform sich auch in ihrer Zweckbestimmung erschöpft und gleichsam totgelaufen hat. Dann beginnen der Wettbewerb und die Neugestaltung von Reformen, was kaum ohne einen tragfähigen Kompromiss erreicht werden kann. Die permanente Korrektur von Reformen schafft jedoch eigene Probleme.
In diesem Zusammenhang taucht auch das Problem auf, ob es Dinge gibt, die im Blick auf ihre Herkunft und Verbindlichkeit doch nicht verändert werden sollten. Man ist der Meinung, dass gegenwärtige Mängel abgeschafft und verbessert werden können, wenn man auf Traditionen zurückgreift, sie richtig versteht und im Rückgriff auf sie konsequent sowie vor allem gerecht anwendet. Dies hat es in allen Epochen unserer Geschichte gegeben. Aber natürlich steckt dahinter auch eine nicht zu übersehende Gefahr. Es gibt nämlich immer Menschen und Mentalitäten, die bestimmte Situationen, die gewachsen sind und keineswegs ewige Dauer beanspruchen können, verbunden sind mit bestimmten Interessen, die in unserer Welt bei Einzelnen und auch bei Gruppen gegeben sind, um die Vorteile und Nützlichkeiten bestimmter Zustände zu erhalten. Wenn dieses Beharren auf für unveränderlich gehaltene Zuständen unfähig macht zu Veränderungen überhaupt, bezeichnen wir eine solche Verhaltensweise, wie schon angedeutet, als reaktionär. Es versteht sich von selbst, dass beim Vorliegen solcher Mentalitäten eine revolutionäre Sicht geradezu notwendig herausgefordert wird, die eben auf den positiven Nutzen eines Eingriffs beharrt, unter Umständen auch mit Gewalt. Unsere Geschichte und auch unsere Gegenwart sind immer durch das Ringen zwischen diesen beiden Grundrichtungen bestimmt. Sie finden sich auch und gerade in den politischen Parteien und ihren Programmen.
Man kennt diese Auseinandersetzungen unter den Begriffen „progressiv“ und “konservativ“. Die Konservativen wollen das, was sich bewährt hat und nach ihrer Meinung auch künftig bewähren wird, nach Möglichkeit beibehalten. Die Progressiven glauben, dass ihre Ziele, vor allem im Blick auf Gerechtigkeit und Menschenwürde, nur erreicht werden können, wenn sie viele Traditionen stürzen, wenigstens jedoch einschneidend modifizieren, aber in jedem Fall wollen sie darum nach vorne und in eine bessere Zukunft stürmen. .
Deshalb müssen wir uns noch kurz fragen, warum es auch in einer Welt, für die so vieles machbar geworden ist, was früher einfach „Schicksal“ war, dennoch so etwas wie unveräußerliche Traditionen gibt. Diese haben natürlich viele Stufungen, worüber selbstverständlich gestritten wird. Man beruft sich z.B. auf die Würde des Menschen, auf das Naturrecht, auf heilige Überlieferungen, auf ein unaufgebbares Erbe, aber auch auf die Erfahrungen der Menschheit, nicht zuletzt auch auf religiöse Gehalte. Man denke z.B. an die Zehn Gebote der Bibel, aber auch an die Worte Jesu und die verbindlichen Entscheidungen in den Kirchen. Was beim recht verstandenen Begriff des Konservativen aber bedacht werden muss, ist die Erfahrung, dass der Mensch in seiner Geschichte immer wieder auch Entdeckungen macht und Einsichten gewinnt, die nicht nur für den Tag gelten oder für eine begrenzte, kurze Zeit gültig sind. Dies darf man aber nicht damit verwechseln, dass man damit alles, was einmal entstanden ist und was unter den Menschen gilt, für unveränderlich hält. Damit soll auch nicht gerechtfertigt werden, was die Menschen, wie sie oft meinen, „immer so“ gemacht haben und dass man dies darum auch heute und morgen nicht anders machen darf. Man braucht jedoch eine große Klugheit und Weisheit, um zu entscheiden, ob und wo solche Zustände, Entdeckungen und Einsichten vorhanden sind, die man mit guten Gründen nicht mehr aufgibt und sie auch zu den elementaren Normen unseres Zusammenlebens zählt (vgl. z.B. Verfassungen, „Grundwerte“) und wo nicht. Dafür gibt es viele Einsichten, Gedanken, Vereinbarungen und auch Institutionen bis in die Politik hinein, um wirklich das „Unaufgebbare“ zu trennen von dem, was vielleicht nur einen solchen Anschein erzeugt, aber sehr veränderliche Motive und Hintergründe zu ihm gehören.
Ich wollte damit nur eine kleine Einführung in die Grundfragen geben. Freilich muss man alles, was gesagt worden ist, natürlich nochmals vertiefen und erneuern.
Ich will noch ein besonderes Beispiel herausgreifen. Seit Jahrzehnten, denken wir an den Club of Rome, erkennen wir, dass wir mitten in den großen Errungenschaften unseres Lebens an Grenzen stoßen, besonders mit unserer Umgestaltung der Erde. Die Folgen dieser großen Umgestaltungsmöglichkeiten in der ganzen Natur und auch im Blick auf den Menschen zeigen ihre Rückseite. Der „Fortschritt“ kann unsere Lebensbedingungen auch zerstören. Wir sind nachdenklich geworden im Blick auf das, was wir alles können. Die gesamte Ökologische Bewegung, die ja weltweit geworden ist, zeigt uns die Grenzen auf, an die wir gelangt sind. Nicht zufällig streiten wir uns überall zum Beispiel um die Einschätzung des Klimawandels und die Folgen. Die internationalen Abmachungen, die wir seit Jahrzehnten treffen, können uns zeigen, dass es auch eine ganz andere und ganz eigene Reform gibt, indem wir nämlich unseren Rausch ‚“immer weiter, immer höher, immer mehr“ begrenzen. Wir brauchen wieder Worte für ein neues Verhalten, die wir geradezu vergessen haben, wie z.B. Verzicht, Umkehr, Maß, Demut, und zwar zunächst säkular verstanden.
Hier können wir aus früheren Erfahrungen der Menschheit lernen. Es ist ja nicht so, dass wir die Weisheit der Völker und auch der Religionen von früher verachten dürften, weil man sie schon lange kennt und sie in alle ferne Zeit zurückweisen dürfen. Ich möchte dies am Ende an einem kleinen Beispiel aufzeigen. Es steht auf der ersten Seite der Bibel und hat mit unserem Verhalten zu unserer Welt zu tun. Es ist ein sehr alter Text, aber er hat es in sich. Es geht um unser Weltverhältnis. Es wird in der sogenannten Zweiten Schöpfungserzählung (vgl. Gen 2, 15) beschrieben. Es geht darum, wie der Mensch wohnen, sich aufhalten soll in dieser Welt, d.h. wie er sich zu allem, was ist, verhalten soll. Dazu wird gesagt: „Gott, der Herr, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte.“ Dies ist ein außerordentlich weises uns tiefes Wort. Damit wird nämlich zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch dieser doppelt-einen Aufgabe nie entkommt: Er ist ein Wesen, das baut, entwirft, Neues probiert, kühn, wagemutig ist und dabei sicher unsere Welt erweitert und dabei Gutes und Heilsames bewirken kann. Er darf aber nie vergessen, dass er zugleich die andere Aufgabe nicht verachten darf: Er muss den Garten von Eden „hüten“, d.h. bewahren, nicht zu Grunde richten, hegen und pflegen. Beides steht in Spannung. Wir können dieser doppelt-einen Aufgabe nicht entkommen, indem wir uns nur auf eine Seite schlagen. Wir sind nur Menschen, wenn wir das, was wir tun, stets unter diesem Doppelbogen betrachten. Bebauen und entwerfen, hüten und bewahren. Ich brauche hier nicht zu zeigen, dass dahinter nicht nur die Bibel mit ihren Traditionen bis heute steht, sondern dass dies auch eine Einsicht des menschlichen Denkens ist, wohl hervorgerufen durch die Bibel, z.B. auch bei dem Theologen Romano Guardini und bei dem Philosophen Martin Heidegger. Und ich glaube, dass dieses Leitwort vom Bauen und Bewahren eben auch für alle recht verstandenen Reformen gilt, ein Grundwort für ihr richtiges Verständnis.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort