Eminenzen, Exzellenzen,
verehrte Präsidentinnen und Präsidenten,
meine Damen und Herren,
vor allem aber – ich rede Sie an, wie ich es die letzten Jahre immer getan habe – lieber Herr Kardinal,
1936 schrieb der bedeutendste und bekannteste evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, einen kurzen Brief an Erik Peterson, einen der wichtigsten, aber am meisten verkannten katholischen Theologen seiner Zeit (Ausgewählte Schriften 9/2, 356). Spannungen standen im Raum, die nie ganz gelöst worden sind. Erstens ging es um Theologie: Erik Peterson schätzte zwar Barths Plädoyer für das lebendige Wort Gottes, kritisierte aber, dass er zu wenig auf die Kirche halte, ohne deren Resonanz es verhallen würde. Zweitens ging es um Ökumene: Erik Peterson war frisch zur katholischen Kirche konvertiert, was Barth zwar respektierte, aber nicht akzeptierte. Drittens ging es um Politik: Peterson war nach Rom emigriert, weil er in Nazi-Deutschland um die christliche Erziehung seiner Kinder fürchtete, sah aber beim „Schweizer Demokraten“ sein „Recht auf Auswanderung um des Glaubens willen“ (ebd. 353) nicht gewürdigt – wohl zu Unrecht.
Lieber Herr Kardinal,
das Gespräch, zu dem dieser Brief aus Ihrem Geburtsjahr gehört, wäre womöglich untergegangen, wenn es nicht durch die Peterson-Werkausgabe, hinter der Sie zusammen mit Ihrer Schülerin und Mitarbeiterin Barbara Nichtweiß stehen, neu zugänglich gemacht worden wäre. Es gibt einige Theologen, die Sie stärker geprägt haben als Erik Peterson, vor allem Karl Rahner, für den Sie als Assistent in München und Münster viel gearbeitet (und geschrieben) haben. Aber es ist typisch, dass Sie sich auch für diesen Außenseiter einsetzen. Sie nutzen Ihre bischöfliche Autorität nicht, um die Theologie in die Schranken zu weisen, sondern um ihr ein Forum zu geben. Erst lernen, dann lehren – das ist Ihre Devise: mit einem großen Herzen und einem klaren Kopf.
Mit einem großen Herzen: Sie interessieren sich nicht nur für Programme, sondern auch für Personen, für die Menschen hinter, vor und in den Büchern. Namen und Familiengeschichten sind Ihnen vertraut; Grüße vergessen Sie nie. Wenn Sie von Problemen hören, sind Sie zur Stelle. Wenn es etwas zu feiern gibt, stehen Sie allerdings auch nicht gerne abseits - mit einer erstaunlichen Kondition, frei nach dem Motto: Die Ersten werden die Letzten sein, auch spät in der Nacht, und die Letzten werden die Ersten sein, wenn es sein muss, schon am frühen Morgen.
Das große Herz braucht einen klaren Kopf: Ihr Wissensdurst ist immens. Ihre Bibliothek ist sagenhaft. „Selig, wer liest“, heißt es in der Johannesoffenbarung (Offb 1,3) – ein Wort, wie gemalt für Sie.
Das große Herz und der klare Kopf – es ist ein Glücksfall, wenn beides zusammenkommt. Der systematische Theologe, der hier in Mainz und später in Freiburg doziert hat, bevor er Bischof von Mainz geworden ist, 21 Jahre Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und schließlich doch auch Kardinal – in der Zeitgeschichte (sie bleibt ja nüchtern) wird vielleicht nicht von einem Glücksfall für die Bonner und die Berliner Republik gesprochen werden, aber von einem Charakteristikum gewiss. Es spiegelt die große Bedeutung der Theologie in der Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Es gibt der Ökumene starken Auftrieb. Es schadet der politischen Kultur in Deutschland nicht, zu sehen, dass auch Katholiken denken können und dass sie bis zu ihren höchsten Repräsentanten auf eine ethisch sensible und spirituell aufgeschlossene Rationalität setzen, die sich in einer pluralistischen Demokratie verständlich machen kann.
Theologische Expertise, ökumenische Initiative und politische Analyse – diese drei Merkmale Ihres Wirkens, lieber Herr Kardinal, will ich kurz beleuchten.
Zuerst die Theologie, die Sie in Freiburg und Rom gelernt haben, aber in den hitzigen Debatten über die Auslegung und Anwendung des Zweiten Vatikanischen Konzils neu erfinden mussten. Karl Barth ist in seinen Büchern aufgegangen. Erik Peterson hat die katholische Liturgie, das Bischofsamt und die Tradition geschätzt, aber eher bewundert als von innen heraus gekannt. Sie hingegen sind Priester und Professor. Sie haben als einer der führenden Theologen den akademischen gegen den episkopalen Katheder getauscht – nicht aus Frust, sondern mit Lust. Sie sind der akademischen Profession nach Philosoph und Dogmatiker, verstehen aber die pastorale Praxis nicht nur als Bewährungsfeld, sondern auch als Entdeckungsort der Theologie. Ihr außerordentliches Engagement in der Würzburger Synode (1971-1975) ist ein Paradebeispiel.
Liebe Mainzerinnen und Mainzer, wissen Sie eigentlich, wie oft – aber immer diskret – Ihr Bischof bei Konferenzen und Kongressen von all den Gesprächen erzählt, die er mit Ihnen führt? Sein theologisches Denken ist von den Realitäten des Lebens geprägt. Was bei anderen Anekdote bliebe, wird bei Ihrem Bischof zum Argument, weil er ein theologisches Koordinatensystem ausgebildet hat, das es ihm erlaubt, menschliche Erfahrungen mit der Suche nach Gott zu verbinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen wir eigentlich, was es heißt, nicht nur Probleme zu entdecken, sondern eine Frohe Botschaft zu verkünden, die scharfer Religionskritik standhält und süßen Seelentrost spendet? Für Karl Lehmann ist die Fähigkeit, Menschen anzusprechen, ein theologisches Kriterium erster Güte.
Lieber Herr Kardinal, schon Ihre theologische Dissertation 1968 war ein Brückenschlag. „Auferweckt am dritten Tage nach der Schrift“, lautet der Titel, entnommen dem vielleicht ältesten Glaubensbekenntnis der Christenheit (1 Kor 15,4). Sie zielen mit Ihrer Arbeit auf die heutigen Probleme und Chancen der Auferstehungsverkündigung. Sie plädieren für die Demut der Theologie, die unterwegs ist auf der Suche nach Gott. Zum Schluss des Buches schreiben Sie von dieser Suche (ich zitiere): „Sie lebt insgeheim von der Unerschöpflichkeit des Einfachen, das aller Gewöhnlichkeit und Vernutzung zum Trotz unverbraucht leuchten kann wie am ersten Tag“ (S. 350).
Nicht dass ich Sie auf Ihren theologischen Erstling festlegen wollte; Ihre Bibliographie umfasst weit über tausend Titel. Aber eine österliche Theologie, die nicht auftrumpft, sondern aufbricht, um zu sehen, wo die Liebe stärker ist als der Tod – das könnte ein Weg der ganzen Theologie sein, überzeugt von der „Unerschöpflichkeit des Einfachen“.
Zweitens die Ökumene. Erik Peterson und Karl Barth wollten, je auf ihre Weise, die konfessionellen Gegensätze zuspitzen, um sich zu vergewissern, warum sie sich für eine Seite – oder einen Seitenwechsel – entschieden haben. Sie hingegen, lieber Herr Kardinal, sehen das ökumenische Gespräch als Jungbrunnen der Theologie. Keine Rede davon, die Wahrheitsfrage auszuklammern. Das Interesse für die Position der anderen zielt gerade darauf, Wahrheit und Gewohnheit zu unterscheiden Im „Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen“, vor allem mit Wolfhart Pannenberg, haben Sie gezeigt, was es heißt, nach der Wahrheit zu suchen, wie die anderen sie verstehen, und die eigenen Einsichten nicht nur zu behaupten, sondern verständlich zu machen und dabei auf den Prüfstand zu stellen – und vielleicht sogar zu verändern. Den alten Wein darf man ja schätzen, hat Jesus gesagt, aber auch: „Neuer Wein in neue Schläuche“ (Lk 5,37-39) – wer sollte das mehr beherzigen als der Bischof von Mainz?
So ist die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ entstanden, am Reformationstag 1999 in Augsburg unterzeichnet. Das Wichtigste, was sie gebracht hat, ist der Nachweis eines neuen Denkens: Es wird weiter evangelische und katholische Charakteristika geben; aber sie brauchen die Kirchen nicht zu trennen, sondern können sie verbinden. Am empfindlichsten Punkt des konfessionellen Streits, der in früheren Zeiten Deutschland zerrissen hat, wird klar, wie Vielfalt und Einheit zusammenpassen können. Wir werden gespannt sein, ob der „Gemeinsamen Erklärung“ auch am Reformationstag 2017 gedacht werden wird. Und hoffen, dass in der Ethik, die gegenwärtig die Probleme zuspitzt, ein analoges Denken weiterhilft, „aller Gewöhnlichkeit und Vernutzung zum Trotz“.
Drittens die Politik: Wenige Menschen sind in Mainz und Bonn und Berlin, in Rom und Brüssel und weltweit so gut vernetzt wie Sie, lieber Herr Kardinal. Das neue Interviewbuch mit Markus Schächter (Mit langem Atem, Herder 2016) spiegelt, wie herausfordernd und bereichernd für Sie die Begegnungen in der Welt der Politik sind. Karl Barth und Erik Peterson mussten mit dem Evangelium gegen totalitäres Denken auftreten. Sie brauchen solche Kämpfe um die Vereinbarkeit von Christentum und Demokratie nicht mehr zu führen – aber genau das wissen Sie, so genau wie nur wenige. Damit stehen Sie für eine aufgeklärte Theologie, die der Politik hilft, sich auf das zu konzentrieren, was sie kann und soll, weil sie davon entlastet wird, sich selbst legitimieren zu müssen.
Sie begnügen sich aber nicht mit den Prinzipienfragen. Sie nehmen das Alltagsgeschäft der Politik ernst, die Mühen der Konsensbildung und der Mehrheitsbeschaffung. Sie haben sich durch bittere Niederlagen, die Sie beim Streit um den § 218 und die Beteiligung der katholischen Kirche an der Schwangerenkonfliktberatung erlitten haben, nicht verbittern lassen, sondern Ihren Kurs der politischen Kooperation fortgesetzt, in den ebenso komplizierten wie kreativen kirchlich-politischen Beziehungen unseres Landes. Wer als Bischof mit der Bundesärztekammer und dem Bundesverfassungsgericht ins Gespräch kommen, wer Parlamente und Regierungen als Partner gewinnen, wer gescheite Interviews in den Medien zu heißen Eisen geben will, muss sich zuerst einmal schlau machen. Ihre stupende Belesenheit, Ihr enzyklopädisches Wissen und Ihre kritische Urteilskraft kommen Ihnen zugute – und damit auch denen, die Ihren Rat zu schätzen wissen: jene Haltung empathischer Intellektualität, erfüllt vom Osterevangelium, „das leuchten kann wie am ersten Tag“.
Lieber Herr Kardinal, hoch geehrte Festversammlung,
der Apostel Paulus schreibt den Korinthern: „In der Kirche will ich lieber fünf Worte mit Verstand sagen als zehntausend Worte in Zungengestammel“ (1 Kor 14,19). „Zehntausend Worte“ zu twittern – das ist keine Kunst. Aber „fünf Worte mit Verstand“ zu sagen – das ist offenbar nicht selbstverständlich, in der Gesellschaft nicht und in der Kirche auch nicht. Ich bin allerdings sicher, lieber Herr Kardinal: An ihnen hat der Apostel seine Freude – und wird mit dem Zählen ja auch heute nicht aufhören müssen.
Sie haben Ihrerseits Ihre Freude an Paulus zum Ausdruck gebracht, als Sie Ihr bischöfliches Leitwort gewählt haben, das im selben Brief ein paar Seiten später steht. Ich zitiere den gesamten Vers: „Seid wachsam, steht fest im Glauben, seid mutig und stark“ (1 Kor 16,17). Das wünsche ich, das wünschen wir Ihnen, lieber Herr Kardinal, von Herzen, für heute und für alle Tage Ihres Lebens: Bleiben Sie wachsam, bleiben Sie fest im Glauben, bleiben Sie mutig und stark – und Gott möge unsere Bitten so erfüllen, wie es seinem Willen entspricht.
Ja, jetzt könnten Sie alle sagen: Amen, denn das heißt: So sei es.
Und ich sage: Vielen Dank.