Die Anteilnahme in diesen Tagen ist die Resonanz auf das Wirken unseres Kardinals in seinem Leben: Nicht nur Gläubige aus dem Bistum, sondern Menschen verschiedener Konfession, Menschen, die ausdrücklich nicht gläubig sind, Menschen aus dem kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und öffentlichen Leben: Sie alle sind uns in diesen Tagen verbunden. Das freut uns – und es wundert letztlich nicht. So hat Karl Lehmann sich selbst, seine Sendung und seinen bischöflichen Dienst verstanden: das eigene Leben vom Anruf Gottes her begreifen und gestalten und daraus Zeugnis geben in die ganze Breite gesellschaftlicher Öffentlichkeit hinein. Der Glaube war für ihn keine „weltlose Innerlichkeit“1.
Immer wieder hat er wiederholt: „Der Glaube darf sich nicht in die Sakristei flüchten.“ Für Karl Lehmann gab es nichts „Weltliches“, das nicht auch einen inneren Bezug zum Urgrund der Welt, zu Gott hat. Wie oft ist in den zurückliegenden Tagen das Wort vom „Brückenbauer“ gefallen? Ja, das war er tatsächlich – ein Mittler.
Man muss im Eigenen zuhause sein, um vermitteln zu können: so wie er in der Theologie zuhause war, wie kaum ein anderer. Was mich aber an Kardinal Lehmann immer wieder beeindruckte und was zum Mittler dazugehört: eine unstillbare Neugier und ein echtes Interesse am anderen. Er hatte Interesse und Freude am Neuen. Das Neue, das Fremde, das Unbekannte löste bei ihm keine Abwehr aus, sondern weckte Neugier. Dann stellte er Fragen. Er wollte genauer wissen. Er wollte lernen, dazulernen. Geistige und geistliche Sattheit und Selbstzufriedenheit konnte er nicht leiden. Er wollte etwas erfahren und hören, sich dem Neuen stellen und: Er interessierte sich. Vor allem interessierte er sich für sein konkretes Gegenüber: dessen Lebensgeschichte, dessen Lebenssituation, Motive und Beweggründe. Wie oft geriet der eng gesteckte Terminkalender aus den Fugen, kam er zu spät, mussten andere warten, weil es ihm schwer fiel, einen Punkt zu setzen und er sich mit seinem Gesprächspartner in ein sehr persönliches Gespräch begeben hatte. Er kannte Lebensgeschichten, Hintergründe, persönliche Zusammenhänge. Vom Menschen her hat er sich auch in seiner theologischen Reflexion leiten lassen und verknüpft mit einem enorm weit gespannten Horizont enzyklopädischen Wissens.
Was bleibt? Es bleibt zunächst und zuerst die dankbare und liebevolle Erinnerung an den Menschen Karl Lehmann – er fehlt, unterschiedlich nah und vertraut, in unterschiedlicher Weise. Es fehlt der Mensch. Es bleibt ein Lebenswerk. Nicht zuletzt dokumentiert in zahlreichen Büchern, von denen das letzte vielleicht noch lange nicht erschienen ist. Etliche Manuskripte seiner Vorträge sind noch unveröffentlicht; noch mancher Schatz ist darin zu heben. Es bleibt auch auf diese Weise ein Vermächtnis, vielleicht auch für die Politik und für manche Debatte gesellschaftlicher Fragen unserer Tage. Ein Vermächtnis, das sich in seinen Buchtiteln beschreiben lässt – und noch mehr in den Inhalten darin. Buchtiteln wie „Glauben bezeugen – Gesellschaft gestalten“, „Es ist Zeit, an Gott zu denken“, „Mut zum Umdenken“, „Mut zum Dialog“, „Auslotungen“, um nur wenige zu nennen. Ein Buch, das zum 70. Geburtstag von Kardinal Lehmann erschienen ist, trägt den Titel „Wir Nachbarn des Himmels“. Es beschreibt persönliche Erinnerungen und Begegnungen mit ihm: Menschen aus Politik und Gesellschaft erinnern sich. Wir Nachbarn des Himmels: Aus der Zuversicht des Glaubens dürfen wir – bei aller Trauer heute – gewiss sein: Wir haben nicht nur einen Menschen verloren, der uns nah war; wir haben in diesem Glauben einen Nachbarn, einen Fürsprecher und Freund im Himmel gewonnen: gewiss ist er auch in dieser Hinsicht ein Brückenbauer. Das bleibt über diesen Tod hinaus. Auf dem Weg zum Leben.
1 Karl Lehmann: Signale der Zeit – Spuren der Zeit. Freiburg im Breisgau 1983, 5.