Worauf es ankommt

Datum:
So. 14. Aug. 2005
Von:
Karl Kardinal Lehmann

Predigt im Gottesdienst am Sonntag, 14. August 2005 in Nieder-Olm
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
übertragen vom Zweiten Deutschen Fernsehen

Lesungen:
Altes Testament, Buch des Propheten Jesaja: 56. Kapitel, Verse 1 und 6-7 
Neues Testament, Matthäusevangelium: 15. Kapitel, Verse 21-28

Wir haben uns die soeben gehörten Texte aus dem Buch des Propheten Jesaja und dem Matthäus-Evangelium nicht für diesen Gottesdienst speziell ausgesucht. Sie werden heute weltweit verwendet, aber sie passen ausgezeichnet für uns.

In beiden Texten geht es um das, was in unserem Glauben wichtig ist. Worauf kommt es an? Der große Prophet Jesaja gibt eine klare Antwort, ein ganzes Programm: „Wahrt das Recht, und sorgt für Gerechtigkeit!“ (56,1)
Kälte und Gleichgültigkeit unter den Menschen möchte er unbedingt ausschließen. Gottes Treue zu den Menschen ermutigt uns zu einer solchen Offenheit.

Dies gilt für alle Menschen, und gerade auch für die, die uns zunächst fremd vorkommen, und gegenüber denen wir uns eher abgrenzen. Manchmal ist es die Angst vor dem, was man nicht kennt und anders ist. An dieser Stelle setzt in der Lesung und im Evangelium ein neues, mutiges und geradezu revolutionäres Nachdenken ein. Es geht nämlich um ein neues Verhältnis zu anderen, ja besonders auch zu fremden Menschen.

Da gibt es Fremde, die sich – wie der Prophet sagt – dem Herrn angeschlossen haben, auch wenn sie stammesmäßig und staatlich nicht zum Volk Israel gehören. Aber sie sind Gott und seiner Weisung in den Geboten nahe, sie dienen Gott und lieben ihren Nächsten, halten den Sabbat und entweihen ihn nicht, halten am Bund fest. Darauf kommt es an.

Ähnlich ist es mit der kanaanäischen Frau des Evangeliums. Jesus kommt im Norden Israels auf heidnisches Gebiet. Dies ist wahrscheinlich selten geschehen. Tyrus und Sidon sind eigentlich besonders schlimme Städte, die im Alten Testament stehen für Laster und Sünde, und darum auch eng mit dem Gericht des Herrn verbunden sind (vgl. Jes 23,1f.; Jer 25,22; 27,3; 47,7 u.ö.). Eigentlich hat die Frau mit Jesus gar nichts zu tun. Sie ist in vielfachem Sinn von ihm getrennt, vor allem von der Volkszugehörigkeit und der Religion her. Die Jünger möchten sie in ihrer Aufdringlichkeit am liebsten wegschicken. Aber sie lässt sich nicht abschütteln und schreit, dass Jesus ihre kranke Tochter heile.

Man ist erstaunt, dass Jesus schweigt. Dann gibt er auch den Grund dafür an: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ (15,24; vgl. auch Mk 7,24-30, bes. 7,27) Dies mag uns zuerst im Blick auf die große Offenheit und Menschenfreundlichkeit Jesu überraschen und zugleich enttäuschen. Gehören die Heiden nicht in das Heil, das er allen bringen will? Aber Jesus nimmt seine Sendung von Gott her (vgl. auch Mt 10,40 und 21,37) ernst und hält an der Begrenzung seines Auftrags (zu Israel geschickt zu sein) fest. Er überspringt dies nicht.

Aber trotz der Festigkeit dieser Sendung (vgl. auch Mt 10,6) bleibt eine eigentümliche Offenheit. Jesu Wort ist scharf im Blick auf die Frau, und die Juden haben öfter die Heiden (wie wir es gehört haben) als Hunde bezeichnet. (vgl. Mk 7,27; Mt 15,25f.). Die Israeliten haben für Jesus nicht nur zuerst, sondern ausschließlich Anspruch auf Gottes Rettung. Wir täuschen uns manchmal. Er ist nicht einfach ein Allerweltsapostel.

Aber dann geschieht etwas ganz Neues. Die fremde Frau lässt sich trotz allem nicht abschütteln. Sie hat ein unglaubliches Vertrauen in Jesus, dass er nämlich helfen kann. Die Frau ist auch äußerst klug, denn sie entwaffnet mit ihrer Logik sogar das Wort Jesu. Die Frau akzeptiert – man sieht dies gut auch bei Markus –, dass man vor den Hunden die Kinder füttern müsse. Aber sie dreht den Spieß um und erwidert: Es gibt keinen Tisch, unter dem es sich nicht für einen Hund lohnte Platz zu nehmen. Auch wenn die Kinder vor allem das Essen haben sollen, so gibt es doch noch genügend Brosamen, die vom Tisch auf den Boden fallen. Und dies ist in der Tat entwaffnend (vgl. 15,27).

Jesus scheint geradezu geschlagen zu sein. Irgendwie kann man der Frau nur zustimmen. Vor allem aber behält sie ihr grenzenloses Vertrauen, dass Jesus allein ihr helfen kann. Und an dieser Stelle wird ein neues Denken durch Jesus und wohl auch bei ihm erkennbar, das in dem Wort zusammengefasst ist: „Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen.“ (15,28) Darauf kommt es an: Nicht zuerst auf unsere Lehren und Thesen, so wichtig auch eine klare geistige und sprachliche Gestalt unseres Glaubens ist. Aber noch wichtiger sind das unbändige Vertrauen und der unbesiegliche Glaube dieser hartnäckigen Heidenfrau. Der Glaube überwindet Hindernisse und versetzt Berge. Diese Heidin zeigt uns wirklich, worauf es ankommt. Und an dieser Stelle wird wieder der Bogen geschlagen zur Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja, der gerade auch für die Fremden von Gott selbst her eine Chance sieht. Wenn sie so sehr dem Glauben treu sind, dann sollen sie auch den Israeliten gleichgestellt sein.

Obwohl gerade das Matthäus-Evangelium auf diese Sendung Jesu zu seinem eigenen Volk pocht und darin auch einen grundsätzlichen Unterschied zu den Heiden sieht, so sehr öffnet sich dieser Jesus im Evangelium immer wieder über diese Grenzen. Gerade auch für die Heiden, für alle Menschen. Dies fängt schon an bei der Suche der drei Magier und bei der Huldigung vor dem Kind in der Krippe. Es wird besonders offenkundig in der Geschichte von der Kanaanäerin und in der ähnlichen Erzählung von der Heilung des Sohnes des Hauptmanns von Kafarnaum (vgl. Mt 8,5-13).

Ist unser Glaube immer „groß genug“, um durch alle Enttäuschungen, Hindernisse und Ablehnungen hindurch sich nicht einfach mit dem Scheitern abzufinden? Diese Heidenfrau traut Gott mehr zu und zeigt uns, worauf es ankommt. Deswegen wird auch die Tochter dieser Frau sofort geheilt. Der Prophet sieht das überzeugende Leben des Glaubens bei diesen Fremden, die zu wahren Frommen werden, in einer großen Vision, die gerade auch für uns auf dem Weg nach Köln und von Köln wieder nach Hause in die ganze Welt hinaus wichtig ist: Er bringt alle Völker auf den heiligen Berg, wo alle Völker im Gebet, in Frieden und beim Mahl vereinigt sind (56,7) mit der ganzen Tradition der Wallfahrt der Völker nach Jerusalem, wo der Friede wohnt (Jes 2,2-5; 60; Ps 48).

Ist dies nicht eine wunderbare Vorbereitung auf dem Weg zum Weltjugendtag nach Köln? Jetzt wissen wir wenigstens wieder, worauf es ankommt. Amen.

Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz