„... damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Jes 61,2a) Das Ja Gotts zur Welt in Jesus Christus

Adventspredigten 2008

Datum:
Sonntag, 30. November 2008

Adventspredigten 2008

Adventspredigt im Mainzer Dom zum Thema „Gnade Gottes in Jesus Christus“ (1 Kor 1,3-9) am 30. November (1. Adventssonntag) 2008 im Hohen Dom zu Mainz

Die Adventspredigten im Dom stehen in diesem Jahr unter der Gesamtüberschrift „... damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe" (Jes 61,2 a). Dies ist die Verkündigung eines Propheten, der sich unmittelbar von Gott gesandt weiß, die Heilsbotschaft zu verkünden. Die Verse in diesem Zusammenhang erinnern an die großen Gottesknechtslieder beim Propheten Jesaja (vgl. 42,1-4 und 49,1-6). Diesem unbekannten Propheten wird im Jesaia-Buch (besonders den Kapiteln 56-66) eine immer größere Bedeutung zuerkannt. Diese wird schließlich mit folgenden Worten zur Sprache gebracht: „Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe, einen Tag der Vergeltung unseres Gottes, damit ich alle Trauernden tröste, die Trauernden Zions erfreue, ihnen Schmuck bringe anstelle von Schmutz, Freudenöl statt Trauergewand, Jubel statt der Verzweiflung." (61,1 ff.) Jesus wird bei seinem ersten Auftritt im Tempel diesen Abschnitt der Bibel auswählen (vgl. Lk 4,18). Hier kommt er seinem eigenen Evangelium am nächsten. Hier findet Jesus einen Propheten, der in großer Freiheit die Gewissheit ausspricht, dass Gott ihn mit einer Botschaft zu seinem Volk geschickt hat.

 

Die Frohe Botschaft ist nicht allein Wort, sondern Tat (vgl. Jes. 52,7 ff.; 58,6). Wenn in 61,2 vom „Gnadenjahr" die Rede ist, wird auf eine festliche Tradition Israels, nämlich auf die Ausrufung des großen Erlassjahres bzw. Jubeljahr angespielt (vgl. Lev 25,10.13; Dtn 15,1). Ein solches Erlassjahr wurde auch später immer wieder erwartet (vgl. Jer 34,8 ff.; Neh 5,10 f.). Es war einen generelle Lastenbefreiung und eine Wiederherstellung der Persönlichkeitsrechte (z.B. im Blick auf Sklaven) und des Grundbesitzes, nicht zuletzt des Erlasses von Schulden. Das Erlassjahr hat als verschiedene Bedeutungen (Befreiung der Sklaven, völlige Ruhe für das Ackerland alle sieben Jahre, Wiederherstellung gerechter Eigentumsverhältnisse usw.). Das Erlassjahr wird so zum Inbegriff des Heils und zum Symbol der anbrechenden und vom Geistgesalbten heraufgeführten Ära der Befreiung. Sie erfolgt im Blick auf jede Art von Gebundensein und Freiheitsentzug. Alle feindlichen Gewalten werden überwunden, aber auch Verarmung - Versklavung - Vertreibung und der Überfremdung Einheimischer. Es geht um die Reform wahrer Solidarität. Lobgesang tritt nun an die Stelle der Klage. In der Tat kann man über das Ganze schreiben: „Den Armen wird das Evangelium verkündigt." (vgl. Mt 11,5; Jes 35,4) Dadurch wollte man in die Ordnung der Wirtschaft eingreifen und diese vom Glauben her korrigieren.

 

Um dies voll zu verstehen, brauchen wir noch eine weitere Hinführung. Der Advent lässt uns gerade auch in der Dunkelheit dieser Jahreszeit die einzelnen Menschen und ganze Völker vor unseren Augen erstehen, die auf den Straßen der Geschichte unterwegs sind und dem Ziel entgegengehen. Dieses Ziel hat immer etwas mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden zu tun - gegen alle Ungerechtigkeit, Trostlosigkeit und Willkürherrschaft. Die Sehnsucht der Menschen wird immer größer. Viele Zeugnisse der Religion sind dafür Ausdruck, Bitte und Klage, Gott möge mit seinem Kommen nicht zögern. In unseren Adventsliedern spüren wir noch diesen Hilfeschrei: „Tauet Himmel den Gerechten."

 

Es ist nun eine Besonderheit gerade der biblischen Heilsgeschichte, dass Gott den Menschen nicht allein lässt. Er zieht sich nicht zurück in seine eigene Seligkeit und thront nicht in sich selbst und für sich selbst. Es ist ein Gott, der sensibel ist für das Schicksal des Menschen. Es ist gerade sein Name, dass er der Gott mit uns ist, Immanuel. In dieser Geschichte wendet sich Gott immer mehr den Menschen und unserer Welt zu: Er erschafft die Welt; er gibt dem Menschen Freiheit; er gibt ihm sein Wort; er schenkt ihm Weisungen für sein Wohlergehen, wenn er sie befolgt; er kommt dem Menschen nahe durch die Anwesenheit seines Wortes, seine Gegenwart im Tempel als dem Haus Gottes und in der Bundeslade, ursprünglich wohl ein Wanderheiligtum, vor allem der Nomaden, das die Gegenwart Gottes auch unterwegs und in allen Gefahren verbürgt, schließlich ist sie ein Ort, wo die Zehn Gebote und das Bundesbuch für das Volk verwahrt werden. Aber auch die Menschen, die in Gottes Auftrag lenken und führen, wie Mose, die Richter und die Könige und ganz besonders die von Gott berufenen Propheten in ihren ganz unterschiedlichen Gestalten bringen uns Gott auf vielfache Weise immer näher: durch ihr Wort, durch ihre Gesten und Gebärden, durch ihr ganzes Leben. So vermählt sich z.B. der Prophet Hosea mit einer Hure, um an seinem eigenen Leben drastisch den Abfall des Volkes Israel von Gott darzustellen (vgl. Hos 1,2; Ez 16,23). Dies ist der Herabstieg Gottes.

 

In diesem Kontext steht das Wort des unbekannten Propheten im schon zitierten 61. Kapitel bei Jesaja. Ja in seinem Wort, in der die „Frohbotschaft" ganz besonders dicht wird, kommt diese Sehnsucht in ganz dichter Weise zur Darstellung. Wir spüren den Hunger des gequälten Volkes nach Befreiung und Erlösung: „Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem Herrn gefällt? Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach ... Wenn du der Unterdrückung bei dir ein Ende machst, auf keinen mit dem Finger zeigst und niemand verleumdest, dem Hungrigen dein Brot reichst und den Darbenden satt machst, dann geht im Dunkel dein Licht auf und deine Finsternis wird hell wie der Mittag." (Jes 58,5-10)

 

Danach rufen im Grunde des Herzens auch die Menschen heute und suchen Freiheit von allen Zwängen, Aufrichtigkeit und Wahrheit statt Heuchelei, Zusammenhalt der Menschen und Einstehen füreinander statt Egoismus und Gier.

 

Dies steckt alles hinter dem Wort von der Ausrufung eines Jahres der Gnade, der Huld und des Wohlgefallens, wie wir auch übersetzen können. Nach dem Glauben der Christen wird sich diese Sehnsucht der Menschen erst bei der Vollendung der Welt und der Geschichte ganz erfüllen. Aber die neue Zeit hat bereits angefangen mit dem Kommen Jesu Christi. Wir müssen nicht mehr im Wartezimmer der Geschichte sitzen und, noch weit entfernt, von der Erfüllung träumen, wie eine vage Hoffnung oder eine Utopie.

 

Nur so lässt sich der Anfang des Briefes des Apostels Paulus an die Korinther verstehen, der zweiten Lesung des ersten Adventssonntags. Jetzt erst vor diesem Hintergrund jahrhundertelangen Wartens, Harrens und Seufzens wird der Text aufschlussreich und hoffnungsfroh: „Ich danke Gott jederzeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch in Christus Jesus geschenkt wurde, dass ihr an allem reich geworden seid in ihm, an aller Rede und aller Erkenntnis. Denn das Zeugnis über Christus wurde über euch gefestigt, sodass euch keine Gnadengabe fehlt, während ihr auf die Offenbarung Jesu Christi, unseres Herrn, wartet. Er wird euch auch festigen bis ans Ende, sodass ihr schuldlos dasteht am Tag Jesu, unseres Herrn. Treu ist Gott, durch den ihr berufen worden seid, zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn." (1 Kor 1,4-9)

 

In der Tat ist dies die letzte und äußerste Stufe in der Herablassung Gottes zu uns Menschen, dass er nun zu allerletzt, gleichsam am Ende seiner Möglichkeiten, seinen Sohn zu uns schickt. Auch Gott hat nichts Kostbareres und Lieberes als seinen Sohn, der ihm am nächsten ist. Damit neigt sich Gott selbst in seinem Sohn ganz herab in die Menschenwelt und wird in einem unvorstellbaren Maß einer von uns, aber damit eben auch zutiefst verletzlich. Damit dreht sich die Angel im Gottesverständnis. Es ist geradezu eine Revolution: Gottes Macht zeigt sich nicht in der Ferne zu uns Menschen, im Überwältigen des von ihm Geschaffenen oder gar in der willkürlichen Herrschaft, sondern sie zeigt sich im Herabsteigen, in der Nähe zu uns, ja in der Karriere „nach unten", wenn wir hinter der Geburt im Stalle auch das Kreuz aufleuchten sehen.

 

Dies meint der hl. Paulus, wenn er davon spricht, dass die Gnade Gottes uns in Christus Jesus geschenkt worden ist. Dies ist damit aber nicht nur ein Ereignis in Gott selbst und allgemein für die Welt, sondern für uns, und zwar ganz buchstäblich. Wir sind „an allem reich geworden in ihm". Es fehlt uns „keine Gnadengabe". Der Vater schenkt uns schließlich seine Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus.

 

Auf anderer Weise unterstreicht Paulus das, was hier geschieht. Hier wird nämlich das Ja Gottes zur Welt offenbar. „Denn Gottes Sohn Jesus Christus, der euch durch uns verkündigt wurde ..., ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht. Er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat. Darum rufen wir durch ihn zu Gottes Lobpreis auch das Amen." (2 Kor 1,19 ff.) Dieses Ja Gottes zu uns und zu den Menschen ist gewissermaßen das Ende der Wege Gottes. Es ist das Ja der Liebe, die auch den Verzicht und das Kreuz kennt, nicht aufgibt und gerade so siegt. Dieses Ja Gottes soll auch unser Leben prägen. Das „Amen", zu dem wir so gelangen, hat - schon vom hebräischen Wort her - mit Festigkeit, Gewissheit, Bejahung und Treue zu tun.

 

Darum führen das Leitwort dieser Adventspredigten „...damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe" und der Lesungstext aus dem ersten Korintherbrief des hl. Paulus für diesen Sonntag (1 Kor 1,3-8) am besten auf diesem Weg hin zu Weihnachten. Es ist gut, dass wir auf diesem Weg Zeit haben. Wir sollen in dieses Geheimnis Gottes neu hineinfinden. Wir werden nicht auf die Folter ewigen Wartens gespannt wie die Völker, die vor Jesus Christus suchten und harrten. Gott ist gnädig mit uns. Er schenkt uns eine echte Zeit der Erneuerung. Er gibt uns wunderbare Gestalten für dieses Suchen und Finden an die Hand: die Propheten, die mit der Kunst des richtigen Wartens besonders vertraut sind; Johannes der Täufer, der auf dem Zenit zwischen dem Alten und dem Neuen Bund steht und der uns besonders glauben und hoffen lehrt, schließlich Maria die Mutter des Herrn, die ihn in unsere Welt trägt, die vorbildlichen Hirten auf dem Feld, die besser verstehen als die Gelehrten ihrer und unserer Tage, was da geschieht, und der Gesang der Engel mit der Verheißung des Friedens für alle Menschen guten Willens.

 

Wenn wir uns auf diese Weise an die Hand nehmen und Weihnachten entgegenführen lassen, dann erfahren wir am Fest der Geburt des Herrn wahre Freude und echten Frieden. Daran kann uns auch der vorweihnachtliche Rummel nicht ganz stören. Dafür ist es auch auf dem Weg nach Weihnachten nie zu spät. Aber wir sollten auch nicht die Chance verpassen, uns bald für diesen Weg des Glaubens zu öffnen.

 

Dafür wird uns das Kirchenjahr geschenkt. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Gott ist zu einer bestimmten Zeit Mensch geworden, wie die Einteilung unserer Zeitrechnung zeigt und in Erinnerung ruft, ein für allemal. Aber wir haben von Jahr zu Jahr die Chance, nochmals von neuem beginnen zu können. Es wird uns verziehen, dass wir dieses Fest so oft gedankenlos begangen haben. Aber wir kommen nicht zu spät. Gott ist gnädig mit uns. Wenn unser Leben auch an Jahren zunimmt und die Möglichkeiten eines Neuanfangs sich zugleich verringern, so schenkt uns Gott durch den immer erneuerten Kreis des Kirchenjahres jeweils eine echte Möglichkeit, durch den Glauben - auch im Lauf der Lebensalter - die Botschaft Gottes neu zu entdecken.

 

In diesem und im nächsten Jahr haben wir dazu zusätzlich zwei Chancen, die uns wirklich über Weihnachten hinaus ein „Gnadenjahr" schenken können: das Paulusjahr, wozu uns die ganze Kirche von Juni 2008 bis Juni 2009 einlädt, und das 1000-jährige Jubiläum dieses Domes, das wir vom 1. Februar bis zum Ende des Jahres 2009 begehen können. Soll niemand sagen, er habe nicht eine wunderbare Gelegenheit, in einem vielfachen Sinn wirklich ein „Gnadenjahr" des Herrn mitzufeiern, das in besonderer Weise heute an diesem ersten Adventssonntag beginnt. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

 

 

 


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