100 Jahre Sozialdienst katholischer Frauen

Datum:
Samstag, 8. Mai 1999

Grußwort von Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenzbeim Festakt am 8. Mai 1999 in Dortmund

Ein wahrer Anfang hat es in sich. Er ist nicht nur Beginn, ab dem die Jahre zählen, sondern er hat eine gründende und stiftende Macht, die über die Stunde Null weit hinausführt und auch der Gegenwart noch lebendige Bedeutung verleiht. So ist es gewiß mit der Gründung des Sozialdienstes katholischer Frauen vor 100 Jahren.

 

Ich will es ganz konkret an einer wichtigen Berufungserfahrung von Agnes Neuhaus aufzeigen, der Frau, der wir zuerst die Gründung des "Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder" verdanken. Der damalige Stadtrat für Armenverwaltung und Gemeindewaisen in Dortmund, Dr. Henrici, wollte Frauen an der öffentlichen Armenpflege beteiligen. Nur zögernd ließ sich Agnes Neuhaus (1854-1944) auf dieses gänzlich neue Vorhaben ein. Die Frauen sollten sich um jene Fälle annehmen, die der Hilfe einer Frau besonders bedürfen. Ihr erster Fall führte sie gleich auf die Geschlechtskrankenstation des Städtischen Hospitals. Eine bestimmte Frau wurde ihr zugewiesen. "Ich suchte und fand sie dort auf der Geschlechtskrankenstation, von deren Existenz ich bis dahin keine Ahnung hatte. Ich fand dort aber nicht nur diese Frau, sondern junge Mädchen von 17, 18 Jahren, welche durch ihr unsittliches Leben krank geworden und von der Polizei dort eingeliefert waren. Was Sittenpolizei und Reglementierung bedeuteten, wußte ich nicht. Ich hatte von diesen traurigen Dingen nie gehört, aber das fühlte ich tief, daß Frauenhilfe hier dringend nötig war." (A. Neuhaus, Aus der Geschichte des Vereins, in: Jubiläumstagung, 1926, S. 11 - 27, Zitat S. 12)

 

Rasch gründete sie den "Verein vom Guten Hirten", weil am Anfang die Haupttätigkeit darin bestand, die zumeist minderjährigen, gefährdeten Mädchen den Klöstern vom Guten Hirten für die Fürsorge anzuvertrauen. Bald jedoch ging man von der rettenden zur vorbeugenden Fürsorge über und entschied sich für die offene Gefährdetenfürsorge. Agnes Neuhaus erkannte bald, daß neben ehrenamtlicher Arbeit, die auch Schulung verlangte, fachliche Hilfe für die komplizierten Nöte erforderlich war. In unermüdlicher Arbeit hat sie viele Ortsverbände gegründet - bis 1919 112 -, die von ehrenamtlichen Vorständen verantwortet und mit beruflichen Fachkräften ausgestattet wurden. Bereits 1903 gründete Agnes Neuhaus den "Zentralverband der katholischen Fürsorgevereine".

 

Schließlich war sie von 1920 bis 1930 Mitglied des Reichstags und hat großen Einfluß genommen auf das Reichsjugendwohlfahrtgesetz (1924) und eine neue Konzeption zur Bekämpfung der Geschlechtkrankheiten (1927). Die Errichtung der Jugendämter führte zu einer starken Expansion des Vereins. Für manches hatte diese große Frau zu ihrer Zeit umsonst gekämpft, aber ihre Reformvorschläge wurden später z.B. im Nichtehelichenrecht (1969) und im Bewahrungsgesetz (1961) realisiert. So waren ihre intensiven Bemühungen von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart richtungsweisend. Viele Errungenschaften in der Wohlfahrtspflege, z.B. die organisierte Einzelvormundschaft, gehen auf ihre unnachgiebigen Bemühungen zurück. Sie hatte zu oft erfahren, daß die Vormünder versagten. "Die Gesetze und Gesetzentwürfe jener Jahre haben nach dem Krieg als Ausgangspunkte für den Wiederaufbau gedient. Ohne die von Agnes Neuhaus erkämpfte reichsgesetzliche Anerkennung der freien Wohlfahrtsverbände in drei wichtigen Gesetzen stände es heute um die Freiheit zu helfen wohl schlechter."(M. Pankoke-Schenk, Agnes Neuhaus, in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Band IV, Mainz 1980, 133 - 142, Zitat S. 140) Ein halbes Jahrhundert hatte diese Frau die gesamte Entwicklung der deutschen Wohlfahrtspflege entscheidend beeinflußt und bis 1944 begleitet. (Vgl. A. Wollasch, Der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (1899-1945), Freiburg, 1991.)

 

Mit Recht feiern wir also einen solchen fruchtbaren und segensreichen Anfang. Das Leitwort dieses Jubiläums "Im Anfang war die Tat" trifft gut die Sache. Aber hinter dieser ungewöhnlichen Energie steht auch eine große Überzeugung über die Stellung der Frau und ihre eigene, besondere Verantwortung. Im übrigen erschien Armut damals weitgehend als persönliches Schicksal einzelner Menschen. Wohltätigkeit war mehr als eine privilegierte gesellschaftliche Angelegenheit gehobener Kreise. Frauen wie Agnes Neuhaus kannten eigentlich keine sozialen Randexistenzen aus der Nähe. Ihr Berufungserlebnis auf der Dortmunder Geschlechtskrankenstation hat angesichts vieler Tabus geradezu Mauern durchbrochen.

 

Umso erstaunlicher ist es, daß Agnes Neuhaus mit ihren ersten Mitarbeiterinnen sehr rasch den Typus der sozial und caritativ tätigen Frau schaffen konnte. Dieses neue soziale Engagement durch die Frauen in der Öffentlichkeit und die Einrichtung entsprechender Institutionen ist ein sehr wichtiges Kapitel in der katholischen Frauenbewegung. Diese Pionierarbeit ist bis heute ein viel zu wenig gewürdigtes Lehrstück einer christlich verstandenen Emanzipation der Frauen. Dabei muß in diesem Zusammenhang auch auf andere, zahlreiche Zweige der katholischen Frauenbewegung aufmerksam gemacht werden, wie den Katholischen Frauenbund (1903), die Müttervereine, Elisabethvereine, Vereine für Dienstmädchen und Arbeiterinnen, Mädchenschutzvereine aber auch z.B. das Frauenmissionswerk, das an Hilfen zur Befreiung der Frau in den Missionsländern arbeitete und heute noch arbeitet. Im Grunde handelt es sich hier um eine in vielen Teilen noch ungeschriebene Geschichte der katholischen Frauenbewegung.

 

Es ist erstaunlich, wie hellsichtig die Zeugnisse sind. So heißt es beim Gründungesaufruf des Katholischen Frauenbundes: "Es ist an der Zeit, mit der uns vorgeworfenen Rückständigkeit zu brechen und die Stelle in der großen Frauenbewegung einzunehmen, welche der katholischen Frau zukommt." In ähnlichem Sinne konnte Agnes Neuhaus formulieren: "Die moderne Frauenbewegung verlangt für das weibliche Geschlecht mehr Wissen, mehr Verantwortlichkeitsgefühl, mehr Gelegenheit, die Kräfte zu regen, mehr Lebensinhalt. Vielfach wird ihr das streitig gemacht, aber ein Gebiet hat ihr weit die Tore geöffnet - das ist die Caritas, und auf ihrem wunderbaren Boden verwandeln sich alle diese Forderungen in ebensoviele Segensgaben für die Frau selbst und ihre Mitmenschen." (zitiert bei M. Pankoke-Schenk, Agnes Neuhaus, in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Band IV, S. 136) Auch an dieser Stelle möchte ich die Erforschung des Katholizismus und der Frauengeschichte bitten, über die bisherigen, relativ spärlichen Untersuchungen hinaus diese einzigartigen Leistungen der katholischen Frauenbewegung der Vergessenheit zu entreißen. (Vgl. A. Kall, Katholische Frauenbewegung in Deutschland, Paderborn 1983; L. Scherzberg, Die katholische Frauenbewegung im Kaiserreich, in: Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, hrsg. v. W. Loth, Stuttgart 1991, S. 143 - 163; K. Hilpert, Caritas und Sozialethik, Paderborn 1997, S. 101ff, 126ff.)

 

Schon früh werden die Arbeitsgebiete offenkundig: Sorge für nichteheliche Mütter und Kinder, Gefangenenfürsorge, Jugendgerichtshilfe, Zusammenarbeit mit der Polizei in vorbeugender und rettender Hinsicht, Mitarbeit in der staatlichen Fürsorge, freiwillige Übernahme von Vormundschaften, Pflegschaften, Beistandschaften und die Errichtung von Geschäftsstellen, in denen viele, die Hilfe suchten, Rat und Auskunft finden konnten. Hier darf nicht vergessen werden, wie sehr der Verein trotz der Zwangsauflösung in der Zeit des Nationalsozialismus auch weiterhin Hilfesuchenden zur Seite stand und ihren Nonkonformismus bis zu verschiedenen Formen des Widerstandes stärkte. Nur so ist es auch zu erklären, daß der Verband nach dem Kriegsende sich ziemlich rasch reorganisieren konnte. Übrigens erfolgte im Jahr 1968 die endgültige Namensänderung in Sozialdienst katholischer Frauen.

 

Die Gründungsidee von Agnes Neuhaus, daß es Armut- und Notsituationen gibt, von denen Frauen besonders hart betroffen und Frauen besonders zur Hilfe berufen sind, ist mehr denn je aktuell. Zu den schon genannten Aufgaben gehören heute: Beratung und Hilfe im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, Adoptions- und Pflegekinderdienst, Auslands-Adoptionsdienst, Mutter-Kind-Einrichtungen, Arbeit mit Alleinerziehenden, Beratung bei Trennung und Scheidung, Familienberatung, Schuldnerberatung, Wohnungslosenhilfe, Soziale Brennpunkte, Beratung und Hilfe für Behinderte sowie für psychisch Kranke, aber auch für Prostituierte und HIV-infizierte und AIDS-kranke Frauen und Kinder. Ich denke aber auch an die Einrichtung und Leitung der Frauenhäuser. Nicht wegzudenken sind heute die Schwangerschaftsberatung und die Schwangerschaftskonfliktberatung, die in ganz besonderer Weise zeigen, wie früh und intensiv der Sozialdienst katholischer Frauen die Prävention gefördert, Modellprojekte entworfen und die soziale Facharbeit weiterentwickelt hat.

 

Ich brauche gerade diese letztere Aufgabe im Rahmen eines Grußwortes hier nicht weiter zu entfalten. Ich kann an dieser Stelle nur hoffen, daß wir auch in Zukunft diese bewährte Beratungstätigkeit mit allen Kräften fortsetzen können. Der Sozialdienst katholischer Frauen hat in den letzten Jahren auch hier wesentliche Vorschläge zu einer Neukonzeption mitenwickelt und mitgetragen. Es wäre eine besonders kostbare Jubiläumsgabe, wenn wir bald eine positive Antwort aus Rom bekommen könnten.

 

Immer wieder macht der Sozialdienst katholischer Frauen selbst deutlich, daß er seine Kraft aus dem gelebten Glauben schöpft, daß er seine Arbeit mitten in der Kirche versteht und darum sich auch ganz bewußt in das Leben der Pfarrgemeinden hineinstellt. Nur aus diesen Quellen lassen sich die unermüdliche Einsatzbereitschaft und zugleich der nüchterne Sinn der Hilfe verständlich machen.

 

Im Namen der deutschen Bischöfe und besonders auch persönlich darf ich dem Sozialdienst katholischer Frauen von ganzem Herzen für diese hundertjährige Geschichte von Hilfe und Segen in vielfältigen Nöten danken. Der Sozialdienst katholischer Frauen ist - gewiß mit anderen Fachverbänden - eine besonders kostbare Perle im Kranz der vielen katholischen Verbände. Er zeigt gerade heute auf, wie hell das Evangelium in der Dunkelheit vieler Nöte leuchten kann. Ich danke von Herzen den ehrenamtlichen Vorständen, den Mitarbeiterinnen in den Ortsgruppen und in der Zentrale, den Vorsitzenden und den Generalsekretärinnen, nicht zuletzt auch den Geistlichen Beiräten. Sie leben Kirche in einer besonders glaubwürdigen Gestalt. Dafür sage ich Ihnen ein aufrichtiges Vergelt´s Gott und erbitte auch für die Zukunft Gottes reichen Segen.

 

© Bischof Karl Lehmann, Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz