Es ist gut, dass das Bistum Limburg das 175. Jubiläum seiner Gründung während der Kreuzwoche hält. So gehören wie in unserem Leben die Regelmäßigkeit der jährlichen Feste mit einmaligen Ereignissen eng miteinander zusammen. Kontinuität und Singularität machen die Geschichte aus. Wir spüren bei solchen Festen, wie wahr es ist, von der Kirche als dem pilgernden Gottesvolk zu sprechen. Die Situation des kirchlichen Leben wandelt sich ständig im Wechsel der Zeiten. Allem Anschein zum Trotz gibt es nie einen Stillstand, sondern einen oft leisen, aber tief wirksamen Wandel, wie ruhig dahinfließendes Wasser.
Freilich, das Tempo der Veränderungen ist verschieden. Es gibt Zeiten, die ruhiger dahingleiten, und es gibt Zeiten voller Stürme, Erschütterungen und Ausbrüche. Gerade in diesem Wandel aber spüren wir, dass der Glaube uns Halt und Geborgenheit schenkt, dass das überlieferte Glaubensbekenntnis dasselbe bleibt und immer wieder Zuversicht und Trost schenkt, wenn wir mit dem Hebräerbrief (13,8) sagen dürfen: "Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit"
Die Kreuzwoche und das Kreuzfest im besonderen machen uns auf ein wichtiges Element im Verstehen unserer Geschichte aufmerksam. Wir lesen die Weltgeschichte ja oft von den großen Siegen her, die allein Geschichte zu machen scheinen. Manchmal ist das auch so in der Kirchengeschichte, wo manches, was klein und unscheinbar ist, untergeht. Die Großen und Mächtigen bleiben. Darum ist es aber gut, wenn wir in allen Regionen und Landstrichen, Landschaften und Städten die Geschichte unseres Glaubens betrachten. Oft sind es auch künstliche Gebilde, geschaffen durch Fürstenmacht von Napoleons Gnaden, der es gelungen ist, die verschiedenen Gebietsfetzen durch Raub an den alten geistlichen Kurfürstentümern abzurunden, wie es in Limburg im Blick vor allem auch Mainz und Trier der Fall war. Dies geschah wie öfter in jener Zeit im Verbund mit der freien Reichstadt Frankfurt, die ihre katholischen Bürger religiös versorgt wissen wollte.
Diese Mischung höchst unterschiedlicher Traditionen, was heute noch im Bistum spürbar ist, ist zwar schwierig, gestaltete sich aber auch als recht fruchtbar. Das Zusammenleben mit Kirchentümern verschiedener Herkunft zwang zu Offenheit und wechselseitiger Rücksichtnahme. Das Rhein-Main-Gebiet hat ohnehin im Lauf der Geschichte viele Eroberer und wechselnde Herren kennen gelernt. Dies führte die Menschen zu einer gewissen Anpassungsfähigkeit und auch zu einer Liberalität. Dies war aber am Ende eine gute Mitgift, um die städtischen Kulturen im Südteil und die bäuerlich-ländlichen Gebirgsgegenden im Nordteil des Bistums zusammenwachsen zu lassen und immer wieder, auch in finanzieller und personeller Hinsicht, zu einem Ausgleich zu bringen. Dies war auch eine gute Schule für das Zusammenleben mit den anderen Christen in diesem Bereich. Man lernt sich selbst besser kennen und gewinnt an Selbstvertrauen, wird aber auch offen zum anderen, beweglich und selbstkritisch.
Wir sind heute dankbar, dass dieses Experiment im Lauf dieser 175 Jahre erstaunlich gut gelungen ist. In einer solchen Situation gibt es ja von Hause aus Spannungen und polare Entwicklungen. Es ist nicht leicht, mitten in aller Gegensätzlichkeit die Einheit zu wahren. Die Kräfte streben auseinander und sind oft kaum noch zusammenzubringen. Man kann auch nicht, was man oft gerne tun würde, wie mit einem Schwertstreich den gordischen Knoten durchhauen, sondern muss vieles in Geduld, ächzend und stöhnend, aber manchmal auch voll Erwartung ertragen und wachsen lassen. So hat sich vieles in diesen 150 Jahren miteinander verbinden lassen: Mainzer und Trierer Traditionen, katholisches Traditionsland und Diaspora, der Felsendom hier in Limburg an der Lahn und der Kaiser- und Bürgerdom in der Frankfurter Metropole am Rhein.
Dies ist manchmal auch ein brodelnder Hexenkessel, weil sich - ähnlich auch wie im Bistums Mainz - im Rhein-Main-Gebiet frühzeitig in unserer Gesellschaft Entwicklungen anbahnen, die anderswo erst später an den Tag kommen. Oft kann man diese geistigen und gesellschaftlichen Bewegungen noch gar nicht recht wahrnehmen und erst recht nicht zuverlässig bewerten. Es ist schwer, zu einer ausgewogenen Beurteilung zu kommen. Man kann auch nicht ausschließen, dass man da oder dort Entscheidungen trifft, die man später anders sieht. Aber Starrheit und Unbeweglichkeit wären inmitten eines gärenden Klimas viel schlimmer.
Diese Situation braucht eine starke Leitung, die diese reiche Vielfalt zu einer lebensfähigen Einheit zusammenführt. Das Bistum Limburg hat das Glück und die Gnade gehabt, dass es in dieser 175jährigen Geschichte immer wieder Bischöfe und leitende Mitarbeiter, heute auch Mitarbeiterinnen, erhalten hat, die kraft des Gottesgeistes die Anstrengung des erwähnten ständigen Ausgleiches auf sich genommen und durchgetragen haben. Wir anderen Bistümer in der Umgebung und in Deutschland haben davon oft großen Nutzen gehabt. Manches was am Anfang als Alleingang und gelegentlich als unverständlich erschien, ist zum Samen geworden, der - gewiss in anderer Form - auch anderswo aufgegangen ist.
Dies hat etwas mit dem Kreuz zu tun. Das Kreuz weist uns ja zunächst darauf hin, dass wir vor der Wirklichkeit und der Geschichte nicht einfach flüchten dürfen. Es gehört gerade zum Realismus des christlichen Glaubens, dass er weiß und nicht leugnet, dass wir an das Kreuz der Wirklichkeit angenagelt sind und dass wir manche Situationen im persönlichen und ge-meinschaftlichen Leben nur bestehen können, wenn wir sie aushalten, Widerstand leisten und nicht selten auch ausleiden. Wir überfliegen die Welt nicht, wir sind auch keine Hinterwäldler, so sehr wir wissen, dass nur Gott selbst uns einen letzten Halt gibt, der uns nicht in das Bodenlose fallen lässt. Die Geschichte des Bistums Limburg ist gewiss bis heute auch voll von solchen Erfahrungen: die kleinen und dürftigen Anfänge, regelrechte Armut, Kriege, Auseinandersetzungen mit dem Staat, die Vertreibung von Ordensgemeinschaften, die Schließung kirchlicher Häuser, die Vertreibung des Bischofs Blum ins Exil nach Böhmen, Verbote und Verhaftungen in der Zeit des Nationalsozialismus, Konflikte in der Kirche und mit Rom. Wir haben vielen zu danken, die täglich für das Wohl der Diözese und das Heil der Menschen ihr Kreuz auf sich genommen und getragen haben.
Aus der Annahme solcher Schwäche folgen aber nicht nur Scheitern und Untergang. Dies gibt es auch. Wer aber sich solchen manchmal hoffnungslosen Herausforderungen stellt, wird - oft überraschenderweise - auch stark. Man wird vor allem auch stark, um andere und anderes mittragen zu können. Man wird sensibel für das Unscheinbare und Schwache, die Armen und die Bedrängten. Wer sich Jesus auf dem Weg des Kreuzes und bis in die letzen Abgründe der Passion, des Sterbens und des Abstiegs in die äußerste Verlorenheit der Hölle anschließt, der kann eben auch viele retten, wenn er wie Jesus nicht im Tod bleibt, sondern Hoffnung und Zuversicht die Oberhand behalten. Wir haben dann keinen Anlass zu irgendeiner Form von Triumphalismus, denn auch dann tragen wir die Wundmale an uns und am Leib der Kirche. Aber in der Schwachheit wird die zunächst verborgene Größe des Gottes erkennbar, von dem wir vorher aus dem Hymnus im zweiten Kapitel des Philipperbriefes gehört haben. Dahin gehören die unvergesslichen Verheißungen des Johannes-Evangeliums, die auf dem Fundament des Kreuzes für buchstäblich alle begründete Hoffnung verkünden: "Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird." (3,16f.)
An dieser Stelle stehen wir auch heute am Beginn des dritten Jahrtausends. Es ist gut, wenn wir mitten in den Herausforderungen dieser Tage innehalten. Wir haben genügend zu danken. Ich möchte Ihnen im Bistum Limburg, ganz besonders ihrem Bischof Franz Kamphaus und Weihbischof Gerhard Pieschl, mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Gang durch diese manchmal schwere Zeit als Nachbar und im Namen der deutschen Bischöfe für manche Schritte, die sie manchmal vor uns, auf jeden Fall immer für uns gemacht haben, von Herzen danken. Dies gilt auch für viele Aufträge, die das Bistum für die Kirche unseres Landes stellvertretend erfüllt. Ich sage auch als Bischof von Mainz und gewiss für alle Mitbrüder ein herzliches Vergelt´s Gott für das gute Zusammenwirken in Hessen und Rheinland-Pfalz.
Dies gibt Mut für den weiteren Weg. Dafür sollen wir uns jetzt geistlich und leiblich stärken, damit wir in den Wüsten dieser Zeit nicht untergehen. Wie Elija ruft der Herr uns zu: "Steh auf und iß! Sonst ist der Weg zu weit für dich." (1 Kön 19,7) Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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