ARMES EUROPA

Gastkommentar in der Kirchenzeitung von Dezember

Datum:
Donnerstag, 18. Dezember 2003

Gastkommentar in der Kirchenzeitung von Dezember

Vor der letzten Chance

pätestens seit dem 20. Juni dieses Jahres, als der Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa präsentiert wurde, gibt es viele Diskussionen zum Thema. Mancher mag es nicht mehr hören. Dennoch entscheidet sich viel in dieser letzten Phase, seitdem die Regierungskonferenz der künftig 25 Mitgliedstaaten eine letzte Abstimmung untereinander versucht.

Dabei geht es im Augenblick ärgerlich und geradezu erbärmlich zu. Die FAZ-Sonntagsausgabe formulierte am 30.11.: „Von Ideen spricht keiner mehr im Geschachere um Macht und Einfluss." Es ist verständlich, dass um Macht und Einfluss zwischen allen Beteiligten gerungen wird. Auch die künftigen Mitglieder mischen hier kräftig mit. Aber leider dominiert eben weitgehend der Kampf um Vorteile: Die Frage der Gewichtung der einzelnen Länder bei Abstimmungen, die Form des Mehrheitsbeschlusses, die Zuteilung von Führungspositionen (Kommissare) an alle Mitgliedstaaten usw. Die grundlegenden Fragen nach der Struktur und dem Fundament des künftigen Zusammenlebens geraten in den Hintergrund. Dies gilt ganz besonders für die in den letzten Monaten öfter erörterten Fragen eines Gottesbezugs und eines Hinweises auf die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas.

Diese Auseinandersetzungen geben ein klägliches Bild ab. Sie sind Ausdruck einer grundlegenden Schwäche des neuen Europa. Es traut sich nicht, sich zu seinen Grundlagen zu bekennen, auf denen es steht. Dies ist aber nicht nur in historischer Hinsicht eine eigentlich ganz unverständliche Verleugnung seiner Herkunft. Bei anderen Kontinenten ist die Frage nach dem geistigen Ursprung schwieriger zu beantworten. Für Europa lässt sich die Beteiligung des jüdisch-christlichen Glaubens, durch die Bibel auch tief verwurzelt in der ganzen Kultur, nicht leugnen.

Aber es geht nicht nur um die historische Herleitung Europas. Der Gottesbezug und ein Hinweis auf die konkret benannten religiösen Wurzeln haben auch eine große Bedeutung für unsere Gegenwart, ja gerade für heutige und künftige Probleme. Der Gottesbezug weist den Menschen – unabhängig von seiner näheren Ausgestaltung – auf eine Instanz hin, die dem Menschen ein Richtmaß und eine Grenze setzt. Er kann nicht über alles aus der Perspektive nur seiner eigenen Interessen verfügen. Er muss auch Grenzen einhalten in Rücksicht auf andere. Er darf der mahnenden Stimme seines Gewissens nicht ausweichen. Dies alles ist in einem Gottesbezug mitgesagt. Wie aktuell solche Bezüge sind, wird erkennbar, wenn man an die Entscheidung zur Erlaubnis verbrauchender Forschung mit embryonalen Stammzellen denkt, die in diesen Tagen fällt.

Es ist fast grotesk. Denn Europa verzichtet entgegen der Verwurzelung der eigenen Geschichte auf ein Maß, das ihm ungeachtet aller Religionsfreiheit helfen würde, ein verlässliches Fundament zu finden. Dies könnte wiederum helfen, die jetzigen Auseinandersetzungen um bestimmte Machtverhältnisse etwas zu dämpfen und auf das richtige Maß zurückzuführen.

Armes Europa, so könnte man angesichts seiner Geschichte ausrufen. Aber vielleicht ist es doch noch nicht zu spät.Gerade im Advent wollen wir die äußerste Hoffnung nicht aufgeben und die Verantwortlichen nochmals um die Überprüfung der letzten Chance bitten. Sonst könnte es eines Tages mehr Europa- verdrossene geben. Jedenfalls fragen uns manche Völker, die nach Europa tendieren: In welches Europa kommen wir denn?

(c) Bischof Karl Kardinal Lehmann

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz