Abbé Franz Stock: ein unglaublicher Pionier wird wiederentdeckt

Datum:
Montag, 2. März 1998

Als der deutsche Pfarrer Franz Stock mit noch nicht 44 Jahren am 28. Februar 1948 beerdigt wurde, folgte nur ein knappes Dutzend Menschen seinem Sarg. Im Gewirr von Unkraut und Brennesseln wurde sein Sarg in ein Grab des ausgedehnten Friedhofs Thiais im Süden von Paris gelassen. Neben den vielen dort beerdigten deutschen Soldaten fand er die letzte Ruhe. Die Behörden hatten verboten, den Tod, die Stunde und den Ort der Beerdigung bekannt zu geben. Niemand von der Familie konnte an der Beisetzung teilnehmen. Franz Stock blieb der Militärbehörde unterstellt und bekam nie seinen Personalausweis zurück.

Was ist das heute für ein anderes Bild! Frankreich hat nun in weiten Teilen Abbé Franz Stock wiederentdeckt. Man will wieder gutmachen, was man ihm gegenüber an Fehlern gemacht hat. Man verehrt ihn in Frankreich bis jetzt sehr viel mehr als in Deutschland. Dies zeigt vor allem auch die Tatsache, daß der Platz vor dem französischen Nationalen Denkmal für die Gefallenen in Paris nach ihm benannt ist. Der Platz liegt auf dem Mont Valérien, wohin er nach seinen eigenen Angaben über zweitausend vor allem französische Widerstandskämpfer zur Hinrichtung begleitet hat. Dies war eine Geste von weitreichender Bedeutung. Denn oben auf dem Mont Valérien, der zum Bereich Suresnes gehört, tat sich die tiefste Kluft auf zwischen Deutschen und Franzosen: Wo die Gewaltherrschaft am meisten tobte, hat sich ein deutscher Priester dazwischen gestellt und gezeigt, daß es über den Schrecken, den Terror und das Unrecht hinaus noch etwas anderes gibt. So war Franz Stock in der düstersten Stunde der Entfremdung zwischen unseren Völkern bereits ein Pionier der Versöhnung und der Freundschaft. Franz Stock hat in seinem Leben die unglaubliche Vision verwirklicht, daß es trotz allem in einem vereinten Europa eine Aussöhnung geben kann.

Vielen deutschen Priestern ist Abbé Stock heute noch als Regens des sogenannten Stacheldraht-Seminars von Chartres bekannt. Abbé Stock begab sich freiwillig in ein Gefangenenlager für rund 38.000 deutsche Soldaten bei Chartres und wurde dort auf seinen eigenen Willen hin wie ein Gefangener behandelt. Zwischen 1945 und 1947 haben fast 1000 Gefangene das Abitur nachgemacht und begannen mit Hilfe ebenfalls gefangener Dozenten das Theologiestudium. Es ist eine unglaubliche Sache, daß das Gefangenenseminar damit zum größten Priesterseminar der Geschichte wurde. Drei Bischöfe und einige hundert Priester sind aus dem Stacheldraht-Seminar hervorgegangen. Der große Theologe und spätere Kardinal Yves Congar und der deutsche Philosoph Prof. Max Müller aus Freiburg i. Br. hielten Vorträge.

Es gereicht heute noch der Theologischen Fakultät von Freiburg i. Br. und der ganzen dortigen Universität zur Ehre, daß sie die Abschlußprüfungen in Chartres anerkannte und dafür ein deutsches Zeugnis mit dem Siegel der Universität ausgestellt hat. Sie hat auch bald nach der Auflösung des Seminars im Juni 1947 Abbé Stock im Dezember desselben Jahres den Ehrendoktor der Theologie verliehen. Vier Wochen vor seinem Tod erhielt er die Urkunde. Unvergessen sind auch eine Botschaft „Von der Gefangenschaft und Freiheit des Christen" und ein Sonett, die der auch in Freiburg lebende Dichter Reinhold Schneider in diesen Jahren den Gefangenen schenkte.

So gingen zwar nur wenige vor 50 Jahren am Tag der Beerdigung mit, aber doch haben auch in jener Zeit einige seinen ganz unbestreitbaren Rang entdeckt, darunter der damalige Nuntius in Frankreich Angelo Roncalli und spätere Papst Johannes XXIII., der am Tag der Beerdigung bei der Einsegnung das berühmte Wort prägte: „Abbé Franz Stock das ist kein Name - das ist ein Programm."

Menschen wie Abbé Franz Stock haben das neue Europa vorbereitet. Große Politiker haben die Anstöße aus christlichem Geist aufgenommen. Christen haben aus der Versöhnung am Kreuz heraus das neue Europa aufgebaut. Müßten wir heute nicht mehr Mut haben, uns im Einsatz für Europa neu als Christen zu bewähren? Ich möchte dem Dichter Reinhold Schneider aus einem Brief vom 17. Januar 1940 an Abbé Stock das letzte Wort geben: „Die Hoffnung auf die Wiederherstellung des eigentlichen Europa kann ich jedoch noch nicht aufgeben; Europa könnte auch der Sinn dieses Krieges sein, nur ist es ungewiß, ob es den Menschen zur rechten Zeit noch aufgeht ... Daß sich die geistigen Menschen Europas im Wesentlichen noch mehr vereinigen könnten und daß dann die große christliche Mission wieder ergriffen werde: dies wäre alles, was man sich für das Erdenschicksal der Völker wünschen könnte."

 

(Deutsche Fassung des Beitrags für La Croix, 2.3.1998)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz