I.
Die so genannte Säkularisierungsthese, wonach die Religion im Zuge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung einem zunehmenden und unaufhaltsamen Bedeutungsverlust im Raum der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, gehörte über Jahrzehnte zum scheinbar gesicherten Repertoire der Sozialwissenschaften. Inzwischen haben sich die Zeiten gründlich geändert. Die Säkularisierungsthese wird allenfalls noch mit erheblichen Einschränkungen und Differenzierungen vertreten. Zu offenkundig und mit Macht ist die Religion auf die globale Bühne zurückgekehrt, sofern sie diese denn überhaupt je wirklich verlassen hatte. Mit gewissen Einschränkungen gilt dies auch für die westliche Welt.
Erwartungen und Befürchtungen richten sich deshalb heute nicht mehr auf das Verschwinden einer öffentlich wirksamen Religion, sondern, wie z.B. bei Samuel Huntington, auf einen „Kampf der Kulturen“, wobei diese als wesentlich religiös bestimmt oder jedenfalls mitbestimmt wahrgenommen werden. Die Reaktionen Tage auf die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. im September 2006 zeigen einmal mehr, wie sehr die Religionen den öffentlichen Diskurs zu mobilisieren vermögen.
Es ist vor diesem Hintergrund alles andere als verwunderlich, dass – vor allem seit dem 11. September 2001, dessen Bilder der Zerstörung tief in das Bewusstsein der heutigen Menschheit eingelassen sind – weitgesteckte Erwartungen mit einem Dialog der Religionen verbunden werden. Er soll die Spannungen entschärfen, die in der internationalen Staatengemeinschaft, in der Weltgesellschaft und in einzelnen Ländern herrschen, und zum gemeinsamen Zeugnis der Religionen für den Frieden führen.
II.
Während sich das „Projekt Weltethos“ von H. Küng prinzipiell an alle Religionen wendet, richtet sich das weltweite öffentliche Interesse derzeit vor allem auf das christlich-muslimische Gespräch oder aber auf den Dialog der so genannten abrahamitischen Religionen, also auf Judentum, Christentum und Islam, die sich allesamt auf den in der Bibel und im Koran bezeugten Urvater Abraham rückbeziehen. Dies hat – wie unschwer zu erkennen ist – mit den Konfliktlagen zu tun, die den Nahen Osten und das Verhältnis zwischen Orient und Okzident bestimmen. So führen die islamistischen Kämpfer, die sich dem heiligen Krieg gegen die Ungläubigen verschworen haben und letztlich die Errichtung eines totalitären Gottesstaates anstreben, ihren Krieg gegen „Zionisten“ und „Kreuzfahrer“ – d.h. gegen den jüdischen Staat Israel und den Westen, der aller Entkirchlichung und multireligiösen Durchmischung zum Trotz als „christlich“ interpretiert wird. Die konfliktbehaftete Nähe zwischen den drei Religionen wird zudem besonders anschaulich im Streit um den Status von Jerusalem, das Juden, Christen und Muslimen heilig ist. Auch die Integrationsprobleme mit muslimischen Migranten in Westeuropa, von denen sich manche Jüngere aus der 2. und 3. Einwanderergeneration islamistischem Gedankengut verschreiben und einige wenige sogar auf den Weg der Gewalt abdriften, berühren nicht nur die christliche Mehrheitsbevölkerung, sondern auch die hier lebenden Juden. Dem Antisemitismus in den Randzonen der traditionell ansässigen Bevölkerung hat sich längst eine antizionistisch motivierte Judenfeindlichkeit zugesellt, die an manchen Stellen ideologisch mit dem klassischen Rechtsextremismus verschmilzt.
All dies macht den Ruf nach einem Dialog zwischen Islam, Christentum und Judentum – den „abrahamitischen Religionen“ – gut verständlich. Indes ist es wichtig, die Möglichkeiten eines solchen Dialogs sorgfältig auszuloten und dabei auch der Grenzen einsichtig zu werden. Falsche Erwartungen können den Dialog belasten, stören und sogar unfruchtbar machen. Enttäuschungen und Frustrationen werden damit geradezu programmiert.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass bislang weder von einem „Kampf der Kulturen“ noch gar von einem Kampf der Religionen die Rede sein kann. Der westliche „Kulturkreis“ (um hier einmal die Terminologie von Huntington aufzugreifen) wird von islamistischen Terroristen angegriffen, nicht von den muslimischen Staaten und auch nicht vom Islam als Religion. Vielmehr sind auch die muslimisch geprägten Länder Opfer der Gewalt, weil sie sich der Ideologie und den Machtansprüchen der Dschihadisten widersetzen. Die augenblickliche Krisensituation beruht also wesentlich auch auf einem innerislamischen Konflikt, der nicht einfach auf dem Wege eines interreligiösen Dialogs gelöst werden kann. – Und ebenso wenig vermag das Gespräch der Religionen die fundamental politische Auseinandersetzung über Gebietsansprüche und die staatliche Existenz der Völker im Heiligen Land zu überwinden. Der Kern des Konflikts im Nahen Osten ist nicht religiöser Natur.
Das heißt nun aber nicht, dass die Religionen im Ringen um die heute bedrängenden Friedensfragen einfach abseits stehen müssten oder auch nur dürften. Richtig ist vielmehr: Gerade indem die Grenzen des interreligiösen Gesprächs für die Klärung dieser Probleme sorgfältig bestimmt werden, treten die den Religionen gestellten Aufgaben umso deutlicher und präziser hervor.
Es zeigt sich dann: Zwar kann die Überwindung der dschihadistisch-islamistischen Ideologie letztlich nur innerhalb des Islam selbst erfolgen. Im Gespräch zwischen den Religionen können aber die Fehlwahrnehmungen der jeweils anderen Religion korrigiert werden. Damit wird verhindert, dass es kleinen extremistischen Gruppen schließlich doch gelingt, die Mehrheiten in den Religionsgemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen. Im Dialog können darüber hinaus wechselseitig kritische Fragen gestellt werden, die die Selbstreflexion innerhalb der Religionen voranbringen. Damit verbunden müssen die Religionen vor allem auch daran arbeiten, die Verzweckung der Religionen für politische Ziele und zur Legitimation politischer Gewalt aufzudecken und ihr gemeinsam entgegenzutreten. Indem sie sich freimachen von politischer Instrumentalisierung, bewahren die Religionen ihr eigenes Wesen davor, von sekundären Interessen verdunkelt zu werden. Gerade so dienen sie auch dem Frieden.
III.
Grundsätzlich muss vor der etwas naiven, jedoch weit verbreiteten Vorstellung gewarnt werden, der interreligiöse Dialog sei eine Art Hilfsaggregat der Politik, das sich jederzeit zur Beruhigung internationaler und innergesellschaftlicher Konflikte anwerfen lasse. Die Begegnung zwischen den Religionen wird vielmehr nur dann auf lange Frist fruchtbar und damit auch friedensförderlich sein, wenn sie die Mitte der Religionen und die der Religion insgesamt eigenen Grundfragen berührt. Die vom Zweiten Vatikanischen Konzil am 28. Oktober 1965 verabschiedete „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ – nach ihren Anfangsworten „Nostra aetate“ genannt – sieht das Verbindende der Religionen gerade darin, dass diese sich den gleichen Fragen nach den „ungelösten Rätseln“ des Lebens stellen: „Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ (Art. 1). Diese Fragen sind den Menschen zu allen Zeiten aufgegeben. Hier wird nicht nach diesem und jenem gefragt. Das Geheimnis menschlicher Existenz selbst spricht sich darin aus. Der Mensch ist sich selbst als Frage aufgegeben, ohne sich doch selbst Antwort geben zu können.
Diese jedem Menschen aufleuchtenden Grundfragen können durchaus als philosophisch bezeichnet werden. In ihnen kommt die menschliche Vernunft in ihrer eigentlichen Tiefe und Weite zum Ausdruck. Wenn aber die Vernünftigkeit des menschlichen Fragens nach sich selbst und nach dem Grund und Ziel aller Wirklichkeit anerkannt wird, dann stellt sich damit auch das Problem der Vernünftigkeit der Antworten, die die Religionen geben. Nach christlichem Glauben ist diese darin gegründet und verbürgt, dass der Logos – das schöpferische Wort, die Vernunft Gottes – die Schöpfung trägt und durchwaltet. Darauf hat Papst Benedikt XVI. in seiner viel beachteten Vorlesung am 12. September in Regensburg so nachdrücklich hingewiesen. Keineswegs ging es ihm darum, wie manche meinten, der Vernünftigkeit des christlichen Glaubens die fehlende Vernünftigkeit anderer Religionen – namentlich des Islam – entgegenzusetzen. Vielmehr ist hier darauf angesprochen, dass es auf Seiten aller Religionen der Reflexion auf die universale Verbindlichkeit der Vernunft bedarf, die somit auch die Religionen verbindet. Die Antworten auf die Fragen nach der Vernunft und nach der Vernunft der Religion werden gewiss nicht einfach gleichlautend ausfallen können. Auch die Vernunft ist kein Abstraktum, sondern weist ihre spezifischen geschichtlichen Prägungen auf. Gerade so aber ist ein den Religionen gemeinsamer Spannungsraum gegeben, der Gemeinsames und Trennendes umfasst und die Möglichkeit eröffnet, sowohl die theologischen Fragen (vor allem die nach dem Gottesbild) als auch die ethischen Herausforderungen, denen sich die Religionen in unserer Zeit stellen müssen, im Dialog aufzugreifen.
IV.
Diese Überlegungen gelten letztlich für alle Religionen. Dennoch steht das Christentum zu den verschiedenen Religionen der Welt in unterschiedlicher Nähe, was für den Dialog nicht ohne Auswirkungen bleiben kann. Judentum, Christentum und Islam sind dabei in besonderer Weise aufeinander bezogen. Regional und historisch entstammen sie einem gemeinsamen Zusammenhang. Teilweise rekurrieren sie auf die gleichen religiösen Erfahrungen und Erzähltraditionen. Abraham wird von allen als Urvater des Glaubens verehrt. Das Christentum hat die jüdische Überlieferung als erstes Buch seiner Bibel übernommen. Der Islam greift auf die Tradition der Patriarchen und Propheten zurück und erkennt auch Jesus als Propheten an. Alle drei Religionen bekennen sich zum Glauben an Einen Gott, der die Welt erschaffen hat und den Menschen als sich erbarmender Retter, aber auch als Richter gegenübertritt.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten der drei Religionen ist und bleibt das Christentum dem Judentum jedoch in einer grundlegend anderen Weise verbunden als dem Islam. Schon Paulus wusste, dass Christen, wenn sie die Treue Gottes zu seinem auserwählten Volk Israel bestreiten, die Grundlage ihres eigenen Glaubens zerstören (vgl. Röm 11). Die Kirche ist durch ein untrennbares Band mit dem Judentum verbunden. Sie wurzelt konstitutiv im Judentum. Die Herkunft Jesu aus dem Judentum ist nicht zufällig, sondern bestimmt seine – und damit auf bestimmte Weise auch der Christen – Identität. Jesu Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – der Gott des auserwählten Volkes. Kein anderer ist der Gott der Christen. Die Katholische Kirche ist heute überzeugt, dass der Bund Gottes mit dem Volk Israel durch den in Christus begründeten „neuen Bund“ nicht aufgehoben ist. So überrascht es auch nicht, dass Papst Johannes Paul II., der unendlich viel für ein neues Verhältnis der Kirche zum Judentum getan hat und dabei mit großer Eindringlichkeit auch von den Verbrechen gesprochen hat, deren sich Christen im Laufe der Zeiten an Juden schuldig gemacht haben, diese als die „älteren Brüder“ der Christen bezeichnen konnte.
Ein solches Verwandtschaftsverhältnis besteht zwischen Christentum und Islam nicht. Zwar gibt es eine Nähe zwischen beiden Religionen, die schon daraus resultiert, dass Mohammed seine Lehre in Auseinandersetzung mit der Kirche formulierte und dabei den Anspruch erhob, die Verkündigung Jesu von Verfälschungen der Christen zu reinigen. Die Beziehung zum Islam kann aber für die Kirche niemals eine konstitutive, theologisch im eigentlichen Sinne grundlegende Bedeutung erlangen. Das ist der entscheidende Unterschied.
V.
Allen drei Religionen gemeinsam ist die Verehrung des Abraham (in der muslimischen Tradition Ibrahim genannt). Religionsgeschichtlich markiert er die Entstehung des Monotheismus, des Glaubens an den Einen und einzigen Gott. Sowohl die Bibel als auch der Koran berichten, wie sich Abraham mit den „Götzen“, den vielen Göttern, die in seiner Familie und Umgebung verehrt wurden, auseinander setzte. Für die Überlieferung wesentlich wurde die unbedingte Bereitschaft Abrahams, sich dem Wort des ihn ansprechenden Einen Gottes bedingungslos anzuvertrauen und zu unterwerfen. Einen besonders dramatischen Ausdruck findet dies darin, dass er dem Auftrag Gottes folgend sogar seinen Sohn Isaak (in der muslimischen Tradition möglicherweise Ismael, den Stammvater der Araber) zu opfern bereit ist – eine vielschichtige Erzählung, die auch vom Ende des Menschenopfers in den monotheistischen Religionen handelt. Gerade als „Vater des Glaubens“, an dem ansichtig wird, was Glauben bedeutet, gehört Abraham so zum Gemeinsamen der jüdisch-christlichen und der muslimischen Tradition. Papst Johannes Paul II. hat dies 1985 in einer Rede vor jungen Muslimen in Casablanca in die Worte gefasst: „Abraham ist für uns ein Modell des Glaubens an Gott, der Hingabe an seinen Willen und des Vertrauens in seine Güte.“
Für das Gespräch von Juden, Christen und Muslimen ist Abraham aber nicht nur von Belang, weil die Religionen an ihm ihre Gemeinsamkeit entdecken. An der theologischen Deutung des Abraham werden vielmehr auch Unterschiede der Religionen deutlich, die im Dialog aufgegriffen werden sollten, um ein gemeinsames Verstehen und Lernen zu ermöglichen. In der jüdischen Deutung des Abraham tritt der Gedanke der Wanderung und der Verheißung in den Vordergrund. So heißt es im Buch Genesis (12,1-5): „Der Herr sprach zu Abraham: ‚Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. … Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen’“. Die Religion, das Gottesverhältnis der Menschen, ist damit auf sich verändernde Räume und Zeiten, auf eine Geschichte hin geöffnet. Abraham ist zur Wanderschaft, zur Bewegung gerufen. Auf seinem Weg in eine ihm eröffnete und offene Zukunft will Gott ihm nahe sein.
Anders im Islam. Dort ist die wahre Religion schon Adam, dem ersten Menschen, von Gott vollständig geoffenbart. Etwas inhaltlich Neues, eine neue Gestalt oder gar eine neue Qualität der Begegnung Gottes mit den Menschen ist damit von vorne herein ausgeschlossen. Geschichte bedeutet von daher nicht das Beschreiten neuer Horizonte im Vertrauen auf Gott, der diese Wege begleitet. Sie ist vielmehr charakterisiert durch immer wiederkehrenden Abfall vom monotheistischen Glauben und den wiederholten Ruf Gottes, zum Urpakt zurückzukehren. In eben diesem Sinne werden Gestalt und Funktion des Abraham im Koran gedeutet.
Auch zwischen Juden und Christen gibt es Unterschiede in der theologischen Interpretation und heilsgeschichtlichen Einordnung der Gestalt Abrahams. Entscheidend ist, dass aus der Sicht des Neuen Testaments das auf Abraham genealogisch zurückgehende Volk Israel mit dem Christusereignis aufgehört hat, der exklusive Träger der göttlichen Offenbarung zu sein. Das ist gemeint, wenn Johannes der Täufer im Matthäus-Evangelium (3,9) die Phärisäer mahnt: „Meint nicht, ihr könnt sagen, wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen“. Die Segensverheißung an die Völkerwelt, die mit dem Namen Abrahams verknüpft ist, geht mit der Ablehnung Jesu durch die Mehrzahl der Juden auf die Kirche aus allen Völkern und Sprachen über, wenngleich der Bund mit Israel nicht aufgehoben wird.
In der Frage des Geschichtsverständnisses sind sich Juden und Christen hingegen nahe, während Christen und Muslime hier über strukturell unterschiedliche Grundmodelle verfügen. Dies ist alles andere als ein akademisches Thema. Man darf nämlich mindestens vermuten, dass die muslimische Deutung von Geschichte eine produktive Auseinandersetzung des Islam mit der modernen Welt und die Herausbildung einer tragfähigen Synthese zwischen der Moderne und den traditionellen Orientierungen in den islamisch bestimmten Ländern jedenfalls erschwert. In diesen Zusammenhang gehören auch das Verständnis des Korans als Wort Gottes und die Vorstellung von der unabänderlich wörtlichen Geltung des muslimischen Gesetzes, der Scharia.
Ein Dialog zwischen Christen, Juden und Muslimen muss solche grundsätzlichen Fragen aufgreifen. Noch einmal zeigt sich hier, dass gerade der offizielle, amtliche Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften sein eigentliches Thema und Ziel verfehlen würde, wenn er sich von bloßer Aktualität leiten ließe. Der interreligiöse Dialog muss seine eigene Agenda und seinen eigenen Rhythmus entwickeln. Er muss als ernsthaftes und in die Tiefe gehendes Gespräch von Glaubenden entwickelt werden – und eben nicht als routinierte Begegnung von Glaubensmanagern, die dem Interessenkalkül der eigenen Gemeinschaft entsprechen und vor dem Forum der Öffentlichkeit punkten wollen. Ein solches bloßes Schauspiel des Dialogs bliebe leer und fruchtlos. Es diente schließlich niemandem.
VI.
Ich will nun noch einmal zurückgehen auf den interreligiösen Dialog überhaupt und nicht nur bei dem Gespräch zwischen Christen, Juden und Muslimen bleiben.
Dabei gibt es gewiss verschiedene Phasen in diesem Versuch einer Begegnung und des Gesprächs mit den Religionen. Von katholischer Seite aus möchte ich dabei einstweilen vier Phasen unterscheiden: eine intensive Bemühung vor allem der Theologie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil um eine neue Theologie der Religionen; die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Thema, vor allem in der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“; nachkonziliare Bemühungen um das Verständnis der außerkirchlichen neuen Religiosität; Neuansatz zum interreligiösen Dialog. Dabei sollte man auch den unterschiedlichen Stand des Dialogs mit den Gesprächspartnern ins Auge fassen. Der interreligiöse Dialog muss unterschieden werden von der Ökumene, die sich um die Aussöhnung der verschiedenen christlichen Kirchen und Gemeinschaften bemüht.
Nicht in allen Ländern ist dieser Dialog intensiver aufgenommen und geführt worden. Man hat im Ürbrigen wenig Kenntnis, dass mitten im Zweiten Vatikanischen Konzil und aufgrund der oben genannten Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen bereits im Jahr 1964 von Papst Paul VI eine entsprechende Einrichtung gegründet worden ist. Es hieß damals „Sekretariat für die Nichtchristen“. Kein geringerer als der Erzbischof von Wien, Franz Kard. König, ein namhafter Religionswissenschaftler, war der erste Präsident dieser Institution; sie heißt seit 1980 bzw. 1988 „Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog“. Papst Paul VI hat in seiner großen Enzyklika „Ecclesia suam“ vom 6. August 1964 über den Dialog der Kirche mit der Welt erklärt, „unsere respektvolle Anerkennung gegenüber den geistlichen und moralischen Werten der verschiedenen nichtchristlichen Religionen nicht mehr verweigern zu wollen“, und darüber hinaus mit dieser Einrichtung diejenigen Ideale fördern und verteidigen zu wollen, die auf den Gebieten religiöser Freiheit menschlicher Brüderlichkeit, der Kultur, der Wohltätigkeit und der Zivilisation gemeinsam sind. Im Hinblick auf diese gemeinsamen Ideale ist ein Dialog unserseits möglich, und wir werden es nicht versäumen, zu ihm einzuladen, wo er in wechselseitigem und loyalem Respekt wohlwollend angenommen werden wird (vgl. AAS, 56, 1964, 560).
Vor diesem Hintergrund möchte ich nur darauf hinweisen, dass die Dokumente, die zum interreligiösen Dialog aufrufen, und zwar Dokumente des Konzils, der Päpste sowie der in Rom mit diesen Fragen befassten Institutionen, insgesamt einen Band mit 1763 Seiten füllen. Wir sind der damit vielfach beschriebenen Aufgabe noch längst nicht gerecht geworden
VII.
Ähnliches könnte man gewiss auch von anderen Kirchen und Religionen berichten. Die katholische Kirche musste- wie schon gesagt – immer schon diese Frage des Dialogs mit den nichtchristlichen Kirchen in betonter Weise aufgreifen, da sie als Weltkirche vor Ort immer schon in Begegnung und Auseinandersetzung mit den anderen Religionen lebte.
Vor diesem allgemeinen Hintergrund möchte ich nun in einer Art von Thesenform einige Überlegungen in prinzipieller Zuspitzung vortragen:
1.Das Gespräch und die Begegnung der Religionen setzen einen universalen und menschheitlichen Horizont voraus. Man muss ins Auge fassen, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur unbegrenzten Gemeinschaft untereinander führt. Dazu gehört auch, dass man sich in gleicher Weise als Menschen anerkennt und annimmt, was in der selben Menschenwürde und in den Menschenrechten für alle Ausdruck findet. Keine Religion darf sich von dieser Basis entfernen. Ein Dialog ist nur dann möglich, wenn man sich – unbeschadet aller Unterschiede – zunächst einmal als Ebenbürtiger unter Ebenbürtigen akzeptiert („par cum pari loquitur“). Der Dialog darf nicht durch Machtansprüche jeglicher Art verzerrt werden.
Das Fundament für diese Gemeinsamkeit ist nicht nur das eine Menschengeschlecht, das auf dem ganzen Erdkreis wohnt und eine einzige Gemeinschaft darstellt. Die Religionen sehen in Gott den Ursprung und das Ziel der Menschheit. Die Güte und Liebe Gottes beziehen sich auf alle Menschen, die Gott einmal in Freiheit und Frieden zum gemeinsamen Mal der Völker vereinen möchte.
2.Gerade heute müssen die Religionen zwar auf ihre Weise, aber doch in einem gemeinsamen Bemühen gegenüber den Fragen und Herausforderungen, aber auch angesichts der Nöte und Leiden der Menschen Zeugnis dafür ablegen, warum es überhaupt Religion gibt und warum sie dem Menschen dienlich ist. Die elementaren Antworten auf die Frage „Wozu Religion?“ müssen jeweils in Wort und Tat überzeugen. Diese Herausforderungen haben einen durchaus philosophischen Kern, der umschrieben werden könnte: Woher kommt der Mensch? Wohin geht sein Weg? Gibt es einen Sinn des Lebens auch jenseits des Todes? Man kann aber dies auch stärker in religiöser Hinsicht formulieren. Ich wiederhole die Worte des Konzils: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus der wir kommen und wohin wir gehen?“ (Nostra aetate 1)
Diese Fragen stellen die Menschen seit jeher. Sie ändern sich nicht grundlegend, auch wenn der geschichtliche Horizont und die konkreten Problemstellungen sich ändern. Auch in unserer Zeit stellen Menschen diese Fragen. Freilich beherrschen sie weniger als früher die Öffentlichkeit unseres Lebens, werden aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und erst recht aus dem staatlichen Raum eher ausgeklammert und der persönlich-privaten Haltung und Beantwortung übereignet. Mindestens gilt dies sehr stark für die Menschen und Religionen, die in Ländern mit einer hohen wissenschaftlich-technischen Zivilisation leben. Aber auch da kann die Religion auf Dauer nicht einfach verdrängt werden, wie nicht zuletzt nach dem Terrorakt des 11. September 2001 und auch bei verschiedenen Katastrophen deutlicher erkennbar wird.
Die Religionen müssen dafür sorgen, dass dieser Grund für ihre Existenz auch dem heutigen Menschen einsichtig wird. Dies darf nicht nur apologetisch geschehen, sondern muss geistig offensiv für Gegenwart und auseinanderklaffen, Wort und Tat sich nicht decken, sondern sogar eher widersprechen, ist dies für jede Religion von Grund auf schädlich. Da sie auf die Überzeugungskraft in Wort und Tat, in Theorie und Praxis angewiesen ist, erleidet sie eine große Einbuße an Glaubwürdigkeit, wenn dieser Riss zwischen Anspruch und Erfüllung zu groß wird. Dann entsteht notwendigerweise Religionskritik. Dialog und Argumentation, unterstützt von Lebenszeugnis, sind im Gegenzug die wichtigsten Wege.
3.Alle Religionen geben eine Orientierung in der Unübersichtlichkeit und in den Wechselfällen des menschlichen Lebens. Dies muss heute gewiss zwar von der Erfahrung der Menschen ausgehen, aber eben doch mit Hilfe möglichst rationaler Argumentation einsichtig gemacht werden. Aber es geht nicht nur darum, kognitive Orientierungssysteme aufzustellen, sondern in der Religion geht es immer auch um die praktische Wahrheit, nämlich um die Bewährung der religiösen Überzeugung in der Tat des Lebens. Im Johannesevangelium heißt dies schlicht: „die Wahrheit tun“. Deshalb ist Religion immer auch eine Einheit von Theorie und Praxis, von Erkennen und Handeln, von Frömmigkeit und Nächstenliebe. Für die allermeisten Menschen ist eine Religion nur überzeugend, wenn beide Dimensionen zur Deckung kommen und auf diese Weise verstärkte Evidenz erhalten. Religion spricht darum auch Herz und Sinne an.
4. Die Kritik der Religion kann bis zum Vorwurf der Heuchelei gehen. Damit können auch andere als religiöse Interessen – z.B. Macht politischer oder finanzieller Art – verbunden sein, sodass gegenüber der Religion ein massiver Verdacht und oft großes Misstrauen entstehen können. Oft sind in der Tat auch handfeste Interessen auf verborgene Weise beteiligt. Deshalb muss jede Religion aufmerksam auf sich selbst bleiben, ob sich in ihrem Anspruch letztlich solche Interessen an die erste Stelle schieben oder mindestens auf verborgene Weise wirksam sind. Darum gibt es eine notwendige Unterscheidung zwischen Wesen und Unwesen jeder Religion. Darum gehört zur Religion von Grund auf eine stetige Erneuerung (Reform), die zuerst einen überzeugenden spirituellen Grund, aber auch konkrete Auswirkungen haben muss für Organisation und Institution. Sonst kann eine Religion dem Verdacht, letztlich eine Ideologie zu sein und konkrete Interessen weitgehend zu verdecken, nicht genügend entgegentreten.
Nach meinem Urteil gilt dies grundsätzlich für alle Religionen. Darum gibt es wohl auch in jeder Religion immer wieder Erneuerungsversuche und Reformbewegungen aus dem eigenen Inneren. Aber gewiss sind das geistige Klima und die kulturelle Prägung eines Landes sowie einer Gesellschaft wichtig, in welcher Form eine Religion in dieser Hinsicht in Frage gestellt wird und ob bzw. wie sie darauf reagiert. Am überzeugendsten wirkt dabei das gelebte Zeugnis der Anhänger einer Religion selbst, nicht zuletzt auch aus den authentischen Reformbewegungen (vgl. die verschiedenen Formen der Mystik und des Mönchtums).
5.Dieser Horizont ist maßgebend, wie die Religionen miteinander umgehen. Sie müssen sich auch gegenseitig angesichts der Verneinung von Religion und ihrer vielfachen Bestreitung wechselseitig kritisch betrachten. Es geht nicht nur um die abstrakte Gemeinsamkeit einiger religiöser Elemente, sondern auch darum, wie eine Religion als ganzes von anderen verstanden wird und gesellschaftlich in Erscheinung tritt.
VIII.
Dafür gibt es nach meiner Meinungsbildung einige Kriterien, die mir gerade heute wichtig zu sein scheinen:
·In jeder Religion muss erkennbar bleiben, dass sie ganz auf Gott als Grund und Ziel unseres Lebens bezogen ist. Ihm allein gebührt Ehre und Anbetung. Er darf nicht verwechselt werden mit der Absolutsetzung endlicher Dinge. Dies wären nur Idole und Götzen. Damit ist auch gegeben, dass der Name Gottes nicht instrumentalisiert werden darf für offene oder verkappte andere Interessen. Alle, die für eine Religion sprechen und für sie eintreten, müssen davon Zeugnis geben.
·Kein wahrer Glaube ist einfachhin weltlos. Er möchte seine Überzeugungen bei aller Vorläufigkeit und Unvollkommenheit in dieser Welt und Zeit verwirklichen. Aber es muss auch zweifellos feststehen, dass die Religion sich nicht in den Interessen innerhalb von Raum und Zeit erschöpft, sondern nach einem verlässlichen, unerschütterlichen Sinn jenseits des Todes sucht. Eine Religion erfüllt nur die Erwartungen der Menschen, wenn sie wirklich auf die oben erwähnten existentiellen Fragen (vgl. Nr. 2) eingeht und eine überzeugende Antwort gibt. Darum muss es auch eine Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit, Geschichte und Transzendenz, Menschenherrschaft und Gottesherrschaft geben, die die Religion vor einer Instrumentalisierung schützen hilft.
·Eine Religion, die die gleiche Würde der Menschen verletzt und den Rang und Wert der Menschen nach Rasse und Klasse, Herkunft und Stand, Bildung und Reichtum, ja nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion einschätzt und absolut setzt, gefährdet sich fundamental selbst und zerstört am Ende jede Religion in der einen Welt, in der wir immer mehr auch andere Religionen leben.
·Jede Religion muss die recht verstandene Freiheit der Menschen fördern. Gewiss kennt jede Religion Ordnung und Bindung an ethische Normen und religiöse Weisungen. Auch gehören Gehorsam und Gemeinschaftsverpflichtung zu jeder Religion. Aber ein maßgeblicher Beweggrund für jede Religion besteht in der Überwindung infantiler Bevormundung und in der Förderung wahrer Freiheit zu einem guten Leben. Darum möchte die Religion immer auch die Menschen von falschen Autoritäten, Magie und Aberglauben befreien und ihn zu seiner eigenen Verantwortung führen. Zugleich soll der rechte Gebrauch von Freiheit, die in ihrer Zügellosigkeit und Willkür für alle schädlich werden kann, eingeübt werden. Bei aller Notwendigkeit von Orientierung und Weisung, Führung und Autorität darf ihre Ausübung nicht zur Unmündigkeit und zum Verlust personaler Verantwortung führen. Die eigene Kritik- und Denkfähigkeit müssen gefördert und vertieft werden. Begeisterung, die dies auslöschen würde und ein blinder Fanatismus können deshalb auch sehr fragwürdige Gestalten innerhalb einer Religion werden.
·Jede Religion möchte dem einzelnen Menschen und den religiösen Gemeinschaften zum Finden eines unverlierbaren Lebenssinnes und auch zu einer letzten Geborgenheit verhelfen. Sie möchte auch die Annahme und das Bestehen der Grundrisiken des menschlichen Lebens ermöglichen, wie sie in Armut und Not, Krankheit und Leid sowie im Tod auf den Menschen zukommen. Die Religion soll den Menschen angesichts dieser oft radikalen Lebensgefährdungen vor jeder Verzweiflung bewahren. Sie macht den Menschen darum nicht weltflüchtig, sondern hilft ihnen, die Gefährdungen dieses Lebens zu bestehen und an ihnen nicht zu zerbrechen.
So sehr die Religion dabei dem einzelnen Menschen und dem im Glauben verbundenen Gemeinschaften hilft, so sehr muss sie bestrebt sein, diesen Sinn des Lebens in Wort und Tat auch anderen Menschen zu vermitteln. Religion steht so fundamental im Dienst des Menschen und darf sich nicht nur zur Pflege der eigenen Interessen und Ziele zurückziehen. Zu ihr gehören Sendung und Dienst. Aber ihre missionarische Ausrichtung darf nicht dazu führen, dass sie die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben gefährdet oder verletzt. Missionarische Sendung gehört zu einer Religion, wenn und solange sie überzeugt ist, dass sie ihre Orientierung, die den eigenen Mitgliedern und Anhängern kostbar und wertvoll ist, auch anderen zu ihrem Nutzen weitergeben möchte. Aber in dem Augenblick, in dem diese missionarische Sendung in irgendeiner Weise mit Gewalt verbunden wird, ist nicht nur die Würde und Freiheit des Menschen, sondern auch der Religion zerstört.
Das Gewaltproblem ist in jeder Religion von ganz elementarer Bedeutung. Wer seine Überzeugungen mit Macht und Gewalt durchsetzen möchte, scheidet sich selbst aus jedem verantwortungsvollen Dialog der Religionen untereinander aus. Hier muss sich auch jede Religion prüfen, wie weit ihr Gottesbild mit dem Ideal einer gewalttätigen Durchsetzung von Glaubensüberzeugungen oder Interessen einhergeht. Dies kann unter Umständen sehr subtil sein. Dies hängt auch eng damit zusammen, wie eine Religion das Verhältnis des Leidens und des Leides zu Gott sieht.
·Es gibt im Dialog freilich ein entscheidendes Element, das vielleicht eher sogar zu den Voraussetzungen des Dialogs gehört. Dies ist die theoretische und praktische Frage der Religionsfreiheit, und dies im Sinne der negativen und positiven Religionsfreiheit. Nach meinem Verständnis ist das Eintreten für eine allseitige Religionsfreiheit und die praktische Verwirklichung dieser Religionsfreiheit ein ganz zentrales und wesentliches Kriterium für jeden interreligiösen Dialog. Das Zweite Vatikanische Konzil hat nach langen und sehr heftigen Debatten in der „Erklärung über die Religionsfreiheit“ Dignitatis humanae eine eindeutige Position bezogen. Dabei geht es um die unverletzlichen Rechte der menschlichen Person, aber auch um die rechtliche Ordnung der Gesellschaft. Die Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist ein Prüfstein dafür, ob eine Religion sich den Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens unter heutigen Bedingungen stellt und auch unterwirft. Im Übrigen ist wichtig: Die moralische Pflicht des Einzelnen, den wahren Glauben zu suchen und anzunehmen, wird durch die Gewährung der Religionsfreiheit keineswegs aufgehoben oder relativiert (vgl. DH 2 und 3), sondern lediglich von den Eingriffsmöglichkeiten staatlicher Gewalt kategorisch geschieden und gegen sie gesichert. In diesem Sinne hat die Religionsfreiheit eine zentrale und kritische Rolle auch für die anderen Menschenrechte. Nicht zuletzt deshalb haben sich viele Politiker, die persönlich nur ein schwaches Verhältnis zur Religion haben, für die exemplarische Rolle der Religionsfreiheit in Auseinandersetzung mit totalitären Systemen eingesetzt.
Dies schließt den Verzicht auf die geschichtlich überkommene Inanspruchnahme staatlicher Machtmittel für die Durchsetzung eigener Wahrheitsansprüche und Interessen sowie die Bereitschaft ein, zur Überzeugung anderer im Geist der Toleranz mit den Mitteln besserer Argumentation, überzeugenderer Praxis, bewegenderer Motivationen, attraktiverer sozialer Gemeinschaft und der Anwaltschaft für Arme und an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen zu arbeiten. Dies setzt eine selbstkritische Betrachtung der Religionen im Blick auf bestimmte Praktiken der Wahrheitsdurchsetzung voraus (für die christlichen Kirchen: Häresie, Inquisition, Mission, dazu A. Angenendt).
IX.
Unter diesen Voraussetzungen ist heute der interreligiöse Dialog unverzichtbar. Dabei sollte sich dieser Dialog nicht einfach auf eine minimale Gemeinsamkeit, auf die man sich einigen kann, beschränken. Dann würden wir von dem Reichtum verschiedener Entfaltungen des Glaubens in den einzelnen Religionen abstrahieren. Wir würden dann eigentlich alle ärmer. Es gibt eine fälschliche Interpretation, als ob die Aufklärung einen solchen abstrakten, verdünnten Rest, auf den man sich nun gemeinsam stützt, von Religiosität eher zulassen könnte. Dies wäre am Ende der Tod des interreligiösen Dialogs. Wir dürfen uns nicht scheuen, in diesem Dialog uns auch und gerade mit dem radikal Anderen und Fremden zu beschäftigen. Das Gespräch und die Auseinandersetzung damit öffnen uns die Augen, erweitern den Horizont und lassen uns die Mitmenschen besser verstehen.
Es scheint mir eine bessere Maxime zu sein, die das Zweite Vatikanische Konzil für den interreligiösen Dialog, zunächst gewiss für die Kirche, empfiehlt: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unabhängig aber verkündet sie und muss sie verkünden Christus, der ist ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Jo 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat. – Deshalb mahnt sie ihre Söhne (und Töchter), dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“ (DH 2) In diesem Zusammenhang wird auch nochmals mit aller Deutlichkeit jede Verletzung der Menschenwürde sowie die Förderung von Diskriminierung und Gewalt entschieden verurteilt (vgl. DH 5).
Ich würde auch einen Dialog unter den Religionen für schädlich halten, der im Grunde die religiöse Frage ausklammert und nur politisch und sozial relevante Themen in Angriff nimmt. Es wäre geradezu paradox, wenn der interreligiöse Dialog sich um alles kümmern würde, was zwischen Himmel und Erde ist, aber nicht um die Suche nach Wahrheit und die Erfüllung dieses Suchens im Glauben an Gott. Der interreligiöse Dialog braucht auch diese spezifische Herausforderung, denn er darf sich nicht gesellschaftlich oder politisch, aber auch nicht kulturell instrumentalisieren lassen. Dafür ist es gut, wenn er um die Unentbehrlichkeit der Gottesfrage weiß und sich dazu bekennt.
Unter dieser Voraussetzung ist es gewiss anzuerkennen, dass die Religionen sich gerade darum bemühen müssen, ein verbindendes Ethos zu fördern, das schwierige Konflikte meidet, ja sie sogar lösen hilft und Solidarität unter den Menschen schafft. In diesem Zusammenhang ist es klar, dass alle Fragen der Gewaltverhinderung oder wenigstens ihrer Minimierung, der Beendigung kriegerischer Verhältnisse, der Friedenssicherung, der Einhaltung der Menschenrechte usw. zu den vordringlichen Themen des interreligiösen Dialogs gehören muss. Hans Küng hat dafür seit vielen Jahren und mit der Unterstützung einer Stiftung dieses „Weltethos“ auf einen Nenner zu bringen gesucht. Seine fünf zentralen Imperative sind bekannt. Ich darf sie nochmals in Erinnerung rufen:
1.Kein Zusammenleben auf unserem Globus ohne ein globales Ethos!
2.Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen!
3.Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen!
4.Kein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung!
5.Kein globales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nicht-Religiösen!
Man kann gewiss von diesem „Weltethos“, das Hans Küng in vielen Veröffentlichungen entfaltet hat, ausgehen – und dies mitten in allen kulturellen Verschiedenheiten. Vielleicht sollten wir aber auch stärker mit einem bilateralen Dialog beginnen, bevor wir es multilateral versuchen. Beides schließt sich nicht aus. Aber lernen kann man zuerst und besser beim Gegenüber zweier Partner mit ihrem jeweiligen Profil. Die Polyphonie braucht mehr den Meister. Ökumenische Erfahrungen legen ein solches Vorgehen nahe. Aber verständigen kann man sich immer wieder über das gemeinsame Vorgehen.
Es gibt ja auch in der Tat echte ethische Gemeinsamkeiten. Ich möchte mit einem solchen Beispiel enden. Die „Goldene Regel“ ist ein wichtiges Exempel, das sich in vielen Kulturen, Religionen und ethischen Lebensentwürfen findet: Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. Damit kann man wenigstens einmal beginnen. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen zu sagen, dass man auch zunächst einmal einig sein kann in dem, was man ethisch gemeinsam verwirft. Dies lebt insgeheim von einem positiven Gegenentwurf, wie es – dies ist die andere Seite – die Goldene Regel ebenfalls formuliert: „Alles nun, was immer ihr wollt, das euch tun die Menschen, tut so auch ihr ihnen: Denn dies ist das Gesetz und die Propheten.“ (Mt 7,12)
·Kleines Konzilskompendium, hrsg. von K. Rahner/H. Vorgrimler, Freiburg 1966 u.ö.
·D. J. Krieger, Das interreligiöse Gespräch, Zürich 1986
·J. Zehner, Der notwendige Dialog. Die Weltreligionen in katholischer und evangelischer Sicht, Gütersloh 1992
·Christen und Muslime in Deutschland. Arbeitshilfe Nr. 106, Bonn 1993
·W. Huber, H. Küng u.a., Verantwortlich leben in der Weltgemeinschaft, hrsg. von J. Rehm, Gütersloh 1994 (zum Projekt „Weltethos“)
·P. Antes, Die Religionen der Gegenwart, München 1996
·S. Huntington, Der Kampf der Kulturen, München 1996
·W. Weidenfeld (Hg.), Dialog der Kulturen, Bellevue-Gespräche I, Gütersloh 1997
·Internationale Theologenkommission: Das Christentum und die Religionen 1996, veröffentlicht als Arbeitshilfe Nr. 136 der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1997
·H. Müller, Das Zusammenleben der Kulturen, Frankfurt 1998 (Fischer-Taschenbuch 13915)
·Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, hrsg. von R. Rendtorff/H. H. Henrix, Paderborn, 2. Auflage, 1998
·Johannes Paul II., Orientierung für das dritte Jahrtausend, Graz 1998
·Pontificio Consiglio per il Dialogo Interreligioso, Il Dialogo Interreligioso nel Magistero Pontificio, Documenti 1963-2005, a cura di Francesco Gioia, Città del Vaticano 2006, Libreria Editrice Vaticana, eine bis 1997 fortgeführte Ausgabe dieses Bandes existiert auch in französischer Sprache, Paris-Vatican 1998.
·Conseil Pontifical pour le Dialogue Interreligieux, Le Dialogue Interreligieux dans l´Enseignement Officiel de l´Eglise Catholique, (1963-1997), ed. par F. Gioia, Vatican-Solem, 1998 (Es existiert auch eine italienische und englische Ausgabe)
·Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2000.
·Einzigkeit und Universalität Jesu Christi im Dialog mit den Religionen, hrsg. von G. L. Müller und M. Serretti, Freiburg i.Br. 2001.
·F. Kardinal Arinze, Religionen gegen die Gewalt. Eine Allianz für den Frieden, Freiburg i.Br. 2002.
·A. Th. Khoury/G. Girschek, Das religiöse Wissen der Menschheit, 2 Bände, Freiburg i.Br. 2002
·H. Glaser (Hg.), Grundfragen des 21. Jahrhunderts. Ein Lesebuch, München 2002 (dtv 30847)
·A. Buckenmaier, Abraham. Vater der Gläubigen. Eine Glaubensbiografie, Augsburg 2003.
·K. Lehmann, Das Christentum – eine Religion unter anderen? Zum interreligiösen Dialog aus katholischer Perspektive, in: Zuversicht aus dem Glauben. Die Grundsatzreferate des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz mit den Predigten der Eröffnungsgottesdienste, Freiburg i.Br. 2006.
·A. Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 3. Auflage, Münster 2006.
·K. Lehmann, Chancen und Grenzen des Dialogs zwischen den „abrahamitischen Religionen“, in: Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, Kommentiert von Gesine Schwan, Adel Theodor Khoury, Karl Kardinal Lehmann, Freiburg i.Br., 97-133.
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