Adveniat-Forum „Gerechtigkeit in Lateinamerika – Konsequenzen für unser Handeln“

am 8. Oktober 2007 in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz in Berlin auf Einladung des Bistums Mainz und der Bischöflichen Aktion Adveniat

Datum:
Montag, 8. Oktober 2007

am 8. Oktober 2007 in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz in Berlin auf Einladung des Bistums Mainz und der Bischöflichen Aktion Adveniat

Die Adveniat-Aktion 2007 steht unter dem Thema „Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten“. Dieses biblische Wort, einer der Visionen des Propheten Jesaja (Jes 9,6) entnommen, soll auch in unserer Zeit die Sorge um das Wachsen des Reiches Gottes inspirieren. Adveniat lenkt den Blick dabei auf Lateinamerika – ein Kontinent, dessen wechselvolle Geschichte ebenso wie seine krassen sozialen Gegensätze die Frage nach mehr Gerechtigkeit besonders dringlich machen.

Gerade die Katholische Kirche, der die Mehrzahl der Lateinamerikaner angehört, weiß sich hier herausgefordert. Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Lateinamerika hat denn auch unter dem Stichwort der „Option für die Armen“ deutlich herausgearbeitet, dass die Botschaft vom Reich Gottes unabweisbare ökonomische und politische Implikationen und Konsequenzen hat. Gleichwohl erschöpft sich die biblische Vorstellung von Gerechtigkeit nicht in rein diesseitigen Gerechtigkeitskonzepten. Sie weist vielmehr auf den allem Gerechtigkeitsstreben der Menschen vorausgehenden Heilswillen Gottes hin. Dessen Verwirklichung ist letztlich unverfügbar. Zugleich stellt er aber die tiefste Motivation für die Bemühungen um eine gerechtere Welt dar. Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1 Tim 2,4).

Die Abschlussbotschaft der Fünften Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischöfe im Mai 2007 in Aparecida (Brasilien) hat deren Hoffnung für Lateinamerika und die damit einhergehende Selbstverpflichtung auf die Formel gebracht: „Wir hoffen, aus diesem Kontinent ein Modell der Versöhnung, der Gerechtigkeit und des Friedens zu machen.“ Dies ist ein schwerer Weg, zeigt doch die jüngste Entwicklung, dass sich die ökonomischen und politischen Spannungen auf diesem Kontinent eher noch verschärfen:

Wirtschaftlich scheinen sich die lateinamerikanischen Volkswirtschaften seit 2004 gut zu entwickeln; Wachstumsraten von 4 – 5 % werden auch für die Jahre 2007 und 2008 erwartet. Allerdings ist der wirtschaftliche Aufschwung der zurückliegenden Jahre in hohem Maße durch die boomende Nachfrage nach Rohstoffen und Agrarprodukten auf dem Weltmarkt begünstigt worden und kommt nicht allen Ländern gleichermaßen zu Gute. Auch ist eine Wachstumsstrategie, die vorrangig auf der Nutzung von Naturressourcen basiert, kaum nachhaltig. Denn erstens wird das mangelhafte Umweltmanagement in Lateinamerika auf kurz oder lang extrem negative Effekte für Umwelt und Bevölkerung zeitigen. Und zweitens zeigt die internationale Entwicklung, dass die größten Wertschöpfungszuwächse dort erzielt werden, wo viel Know-how in die Produktionsprozesse einfließt. Um im globalen Wettbewerb bestehen zu können, sind die lateinamerikanischen Volkswirtschaften deshalb auf ein in der Breite funktionierendes Ausbildungssystem und auf die Fähigkeit zu technologischer Entwicklung angewiesen. Man darf vermuten: Werden hier keine entsprechenden Weichenstellungen vorgenommen, können die sozialen Gegensätze innerhalb der Länder und des ganzen Kontinents nur schwerlich überwunden werden.

Auch politisch ist Lateinamerika heute stärker fragmentiert als noch zu Beginn der Dekade. In einigen Staaten wie Bolivien, Ecuador oder Venezuela haben sich ein politischer Populismus und ein ökonomischer Nationalismus etabliert. Darüber hinaus erleben wir eine Machtverschiebung zugunsten der Länder mit eigenen Energievorkommen. Es wird sich noch zeigen müssen, ob die neuen politischen Konstellationen zu tragfähigen Kooperationsstrukturen führen, die dazu geeignet sind, den sozialen Problemen wirksam zu begegnen. Eine gesunde Skepsis ist vorläufig angebracht.

Vor dem Hintergrund dieser Fragen hat die Generalversammlung der Bischöfe in Aparecida die vorrangige Option für die Armen eindrucksvoll unterstrichen. Ausdrücklich wurde sie dazu auch von Papst Benedikt XVI. ermutigt. Was bedeutet diese Option in der heutigen Situation Lateinamerikas? Ich will versuchen, dazu drei kurze, keineswegs erschöpfende Hinweise geben.

1.Die Kirche in Lateinamerika muss pastorale Räume eröffnen, in denen sich die Menschen als selbstverantwortliche Christen erfahren können, die ihre Glaubenserfahrungen und Überzeugungen in Kirche und Gesellschaft selbstbewusst einbringen. Dies macht kirchliche Strukturen erforderlich, die das gemeinschaftliche Leben an der Basis fördern. Aber auch die innerkirchliche Solidarität zwischen den einzelnen Diözesen und Ländern muss wachsen.

2.Eine freiheitliche und gerechte Wirtschafts- und Sozialpolitik setzt eine funktionierende Demokratie und gute Regierungsführung (good governance) voraus. Die Kirche in Lateinamerika steht hier vor der Aufgabe, im politischen und gesellschaftlichen Diskurs, der vor allem über die Medien ausgetragen wird, ein erneuertes, auf diese Ziele hin ausgerichtetes politisches Selbstverständnis zu fördern.

3.Aufgrund ihres übernationalen Charakters ist die Kirche geradezu prädestiniert, zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Ländern Brücken der Verständigung zu schlagen. Besonders muss dies heute für die Integration der Indígenas und Afroamerikaner gelten, die auch mehr als 500 Jahre nach der europäischen Kolonialisierung noch immer zu den sozial Benachteiligten am Rande der Gesellschaft gehören.

Wie kein anderes Hilfswerk hat sich Adveniat um die Unterstützung der Kirche in Lateinamerika verdient gemacht. Dabei hat man sich stets an der Mahnung des Zweiten Vatikanischen Konzils orientiert, dass es Sache aller Christen und jedes Bischofs ist, „die Nöte unserer Zeit nach Kräften zu lindern, und zwar nach alter Tradition der Kirche nicht nur aus dem Überfluss, sondern auch von der Substanz“ (Gaudium et spes, Art. 88). Die sozialen und pastoralen Herausforderungen in Lateinamerika sind seit der Konzilszeit nicht geringer geworden, wohl aber haben sie teilweise eine neue Gestalt angenommen. Adveniat braucht deshalb auch in Zukunft viel Neugierde und Wachsamkeit, um auf die „Zeichen der Zeit“ wirkungsvoll antworten zu können.

Ich freue mich, dass wir die diesjährige Adveniat-Aktion 2007, die der Kollekte an Weihnachten den Boden bereitet, von Mainz aus am 1. Adventssonntag, 2. Dezember 2007, bundesweit eröffnen können. Darum möchte ich mich auch beim Land Rheinland-Pfalz und seiner Vertretung in Berlin, Herrn Staatssekretär Dr. Karl-Heinz Klär sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses, für die freundliche Einladung sehr bedanken.

(c) Karl Kardinal Lehmann 

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz