Vortrag bei der Matinée anlässlich des 100. Geburtstages von Alfred Delp „Das letzte Wort haben die Zeugen“ am 27. Oktober 2007 in Mainz (Erbacher Hof)
I.
Der Name Alfred Delps ist eng mit drei Städten unseres Landes verbunden. Friedrich Alfred ist am 15. September 1907 in Mannheim geboren. Er hat in München am 24. Juni 1937 die Priesterweihe empfangen und war in München Mitarbeiter in der Redaktion der „Stimmen der Zeit“ und Rektor an der Kirche St. Georg in München-Bogenhausen. Schließlich war er nach seiner Verhaftung vom 6. August 1944 an in Berlin, wo er am 2. Februar 1945 hingerichtet worden ist. Zwischendurch gibt es viele einzelne Aufenthalte während seiner Ausbildung und im Zusammenhang mit Reisen.
Dabei darf man nicht vergessen, dass die Diözese Mainz seine Heimat ist und dass er während seiner Kindheit und Jugend hier die Hälfte seines Lebens verbrachte (19 Jahre von insgesamt fast 38 Lebensjahren). Die Unkenntnis darüber hängt zunächst einmal damit zusammen, dass Alfred Delp in einer Klinik der Stadt Mannheim (Luisenheim) geboren wurde und auch dort auf Drängen der Mutter in der katholischen Oberen Pfarrei bereits am 17. September 1907 die Taufe empfing. Noch am selben Tag ging die Mutter mit dem Kind nach Hause in das hessische Hüttenfeld bei Lampertheim. Lampertheim gehört zum Bistum Mainz, während Mannheim im Erzbistum Freiburg liegt. Im Taufregister ist Delps Vater, Johann Adam Friedrich (1876–1958), ein Kaufmann, der bei der Ortskrankenkasse in Bensheim und Lampertheim arbeitete, noch nicht genannt, da die Eltern erst am 15.10.1907 heirateten. Offensichtlich gab es wegen der Konfessionsverschiedenheit der beiden Eltern in der Familie – die Mutter hieß Maria Bernauer (1881–1968) – Auseinandersetzungen und darum auch eine Verschiebung der Heirat. Alfred Delps Vorfahren bekannten sich mütterlicherseits alle zum katholischen Glauben und waren beruflich als Landwirte oder Schuhmacher tätig; sie stammten aus dem Odenwald. Dagegen waren die Ahnen väterlicherseits fast durchweg evangelischen Glaubens. Sie verdienten sich als Forstwart oder Gastwirt ihr Brot und kamen aus Lampertheim, näherhin Hüttenfeld, teilweise auch aus Laudenbach im Odenwald. Die evangelischen Vorfahren hatten in Darmstadt namhafte theologische Führungsämter inne.
Die junge Familie Delp wohnte ab 1907 in Hüttenfeld, dicht an der Grenze zum heutigen Baden-Württemberg, und zog 1914 in das unmittelbar benachbarte Lampertheim. Die konfessionelle Problematik in der Ehe zeigte sich erstmals deutlich, als im Jahr 1913 entschieden werden musste, in welche Volksschule am Ort Alfred gehen sollte. „Der Vater hatte zwar einst der Mutter die katholische Erziehung der Kinder versprochen, später (1915) aber durchgesetzt, dass seine Kinder in die evangelische Volksschule geschickt wurden.“ Alfred Delp wurde schließlich am 29. März 1921 konfirmiert. Der junge Alfred kam in Konflikt mit dem evangelischen Pfarrer – er kam nämlich zu spät in die Religionsstunde und erhielt eine Ohrfeige – und war deswegen tief gekränkt. In Lampertheim hatte der katholische Pfarrer Johannes Unger (1868–1935), heute noch ein fast legendärer Mann, engen Kontakt mit der Familie Delp. Es waren insgesamt sechs Kinder, Alfred war der Älteste. Pfarrer Unger gab Alfred die katechetische Einführung zur Erstkommunion, die er am 19. Juni 1921 empfing. Am 28. Juni 1921 wurde er vom Mainzer Bischof Ludwig Maria Hugo gefirmt.
Von einer „Konversion“ im strengen Sinne, wie öfter in der Literatur zu lesen ist, kann nicht die Rede sein. Die Kränkung, das Lebensalter in der Pubertät und der schwierige Familienhintergrund waren zunächst wohl die entscheidenderen äußeren Faktoren für die Hinwendung zur katholischen Kirche. Mit Recht schreibt R. Bleistein: Die Umstände „sprechen zusammen genommen gewiss zuerst von einer schwierigen konfessionellen Situation, von einer mäßigen Ökumene zwischen den Kirchen, wie sie eben um 1920 noch gang und gäbe war. Sie verraten aber auch, ohne dass man sich auf allzu große Interpretationskünste einlässt, vom Stolz und vom Eigenwillen des Alfred Delp. Man kann es sich auch einfach machen und sagen, Delp habe im katholischen Pfarrer einen Ersatz für seinen Vater gefunden, der nicht zu Hause war [er war bis 1920 in Kriegsgefangenschaft; K.L.]; und die Ohrfeige habe ihm nur die Gelegenheit gegeben, sich ganz an die Seite dessen zu stellen, den er zeitlebens bewundert.“ An diesem Neuanfang hat Alfred Delp immer festgehalten. Bei aller späteren Kritik an der Kirche war er glücklich, in der katholischen Glaubensgemeinschaft zu sein. Hier ist aber auch sein grundlegendes ökumenisches Anliegen verwurzelt.
Alfred kam im Jahr 1922 durch die Initiative der Mutter, die großen Wert darauf legte, dass Alfred im „richtigen“ katholischen Glauben erzogen wurde, in das Bischöfliche Konvikt nach Dieburg (ca. 40 Kilometer nordöstlich von Lampertheim). In diesem bekannten Marienwallfahrtsort hatte Bischof von Ketteler 1869 ein Knabenkonvikt gegründet. Jeder junge Mensch, der den geistlichen Beruf oder auch einen anderen Beruf anstrebte, sollte dort studieren können. An diesem Wechsel zum Studium in Dieburg war gewiss auch Pfarrer Unger beteiligt, der die Wachheit und Begabung des Jungen früh erkannte. Alfred bereitete sich privat – vor allem mit Hilfe des Pfarrers – auf die Goetheschule in Dieburg vor, übersprang mehrfach eine Klasse und machte im März 1926 als Klassenbester das Abitur. Er galt als ein herausragender Schüler. „Mit einem so hervorragenden Schüler hatte Pfarrer Unger anscheinend seine Pläne. Er war mit den zuständigen kirchlichen Stellen im Gespräch, um ihm für das Schuljahr 1926 einen Studienplatz am Collegium Germanicum in Rom zu sichern. Doch die Dinge sollten sich anders entwickeln.“
Alfred war in Dieburg in enge Beziehung getreten zur jugendbewegten Neudeutschland-Gruppe (ND). Der Jugendbund ND und vor allem sein Mitbegründer Pater Ludwig Esch SJ (1883-1956) hatten einen großen Einfluss auf ihn. So ist es nicht verwunderlich, dass Alfred seiner Mutter in einem Brief aus Dieburg mitteilte, er habe sich zum Eintritt in den Jesuitenorden entschlossen und fühle sich dazu berufen. „Sie soll ihm nicht böse sein, und sie sollte diesen Entschluss Pfarrer Unger mitteilen. Er selbst hatte offensichtlich nicht den Mut, zum Pfarrer zu gehen. Auch die Mutter wagte es einige Tage lang nicht, die Hiobsbotschaft weiterzusagen.“ Schließlich sagte die Mutter dem etwas aufgebrachten Pfarrherrn: „Alfred meinte, dass der Herrgott ihn dort haben möchte.“ Da habe der Pfarrer „gebrummt“, und sie sei still weggegangen. Leider sind alle Dokumente aus dieser Zeit bei den Bombenangriffen auf Mainz ein Opfer der Flammen geworden. Eine gewisse Rolle beim Eintritt in den Orden spielte gewiss auch Pater Martin Manuwald SJ (1882-1961), der Verfasser und Interpret des Hirschbergprogramms des ND war, zugleich später lange Zeit ein weithin wirkender Spiritual im Priesterseminar Mainz (1936-1961). Aufschlussreich ist der Fragebogen für die Kandidaten der Gesellschaft Jesu, den Delp 1926 ausfüllte. „Dieser Fragebogen gibt einen entscheidenden Einblick in den Charakter Delps. Es wird darin seine Entschiedenheit und Geradlinigkeit sichtbar, wie im Übrigen auf Fotos aus dieser Zeit auch zu erkennen ist. Seine knabenhafte Art täuscht eher über seinen Ernst hinweg. Er weiß, was er will, und er ist entschlossen, sein Lebensziel ungestüm zu erreichen.“
Das dritte große Datum, das mit dem Bistum Mainz verbunden ist, ist die erste hl. Messe in Lampertheim nach der Priesterweihe. Alfred Delp wurde am 24. Juni 1937 in St. Michael in München durch Michael Kardinal Faulhaber zum Priester geweiht. Später (1941) entfaltet er seine Gedanken zur Priesterweihe , die noch ganz von der Erinnerung an seine eigene Weihe zeugen. Am 4. Juli 1937 fand die feierliche Primiz mit seiner Heimatgemeinde St. Andreas in Lampertheim statt. „Die noch erhaltenen Fotos bringen Pracht, Freude und Ergriffenheit in den Blick. Als Delp beim Primizmahl das Wort ergriff, sagte er unter anderem: ‚Es hat sich gelohnt’, ein Wort, das viele seiner Zuhörer beeindruckte. Delp mag dabei an seine merkwürdige ‚Heimkehr’ in die katholische Kirche vor 16 Jahren und an die Mühen und Nöte einer ihm zu lang erscheinenden Ausbildung gedacht haben.“ „Es hat sich gelohnt“ ist auch später immer wieder eine Erfahrungsweisheit aus dem Munde Alfred Delps, gerade wenn Schwierigkeiten zu überstehen waren. Zwei Schriftaussagen auf dem Primizbild kennzeichnen sein Selbstverständnis als Priester auch für die kommende Zeit: Auf der Vorderseite findet man aus dem Johannesevangelium das Wort „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32), der Primizspruch selbst lautet: „Niemand kann einen anderen Grund legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.“ (1 Kor 3,11) . Nach Priesterweihe und Primiz kehrte Alfred Delp wohl nach Frankfurt, St. Georgen zurück.
Wichtige Daten aus der Lampertheimer Heimat kenne ich sonst nicht. Die Mutter Alfred Delps ist 1968 gestorben. Pfarrer Unger verstarb 1935, also noch vor Delps Priesterweihe und Primiz. In Lampertheim gibt es in St. Andreas, in der Pater-Alfred-Delp-Kapelle und auch sonst immer wieder Hinweise auf Alfred Delp, z. B. auch eine Gedenktafel am Elternhaus. Pfarrer Peter Hammerich, seit 1970 in der Pfarrei St. Andreas, gab und gibt sich größte Mühe, auch durch Nachforschungen und Veröffentlichungen das Andenken an Alfred Delp lebendig zu erhalten. Ich danke ihm herzlich dafür. Im Bistum Mainz erinnert ein Portrait von Karlheinz Oswald im Erbacher Hof an den großen Sohn des Bistums . Das Bistum hat im Jahr 1996 im Park des Bischof-Ketteler-Hauses Dieburg, dem ehemaligen Knabenkonvikt, eine von Thomas Duttenhoefer entworfene Gedenkstätte errichtet .
II.
Es ist hier nicht der Ort, um das weitere Leben von Alfred Delp im einzelnen zu skizzieren. Es gibt auch außer der schon genannten großen Biographie von Roman Bleistein viele ausgezeichnete Hilfen. Immerhin sollen einige Stationen zur Erinnerung genannt werden. Alfred Delp trat, wie schon erwähnt, fünf Wochen nach dem Abitur in den Jesuitenorden ein und absolvierte in Tisis bei Feldkirch/Vorarlberg das Noviziat. Dem Novizenmeister fielen zwei Dinge auf: der starke Nachklang protestantischer Argumente im Gespräch über den Glauben und Delps ziemlich unleserliche Handschrift. Seine Mitnovizen erinnern sich an seine Fröhlichkeit, seine lebhafte vitale Art und an sein lautes Lachen. Innerhalb der politischen Interessen berührten ihn soziale Fragen besonders stark. Aus dieser Zeit resultiert auch das freundschaftliche Verhältnis zu seinem Lateinlehrer in Tisis, kein geringerer als Karl Rahner. Die Beziehung blieb bis zum gewaltsamen Tod Delps bestehen.
Alfred Delp übersiedelte 1928 zum Philosophiestudium in das Berchmans-Kolleg nach München (1924 – 1926 errichtet). In diesen Studienjahren (1928–1931) legte er wichtige Grundlagen für sein späteres Engagement. Dem jungen Delp, der von Sturm und Drang erfüllt war, fiel dies anfangs nicht leicht. Später schreibt die heute hochbetagte, in den USA lebende Witwe von Helmuth James Graf von Moltke über Alfred Delp: „Ich sah P. Delp zum ersten Mal in Kreisau, als er mit anderen unserer Freunde zu einer Besprechung auf ein langes Wochenende zu uns kam. [...] Er war jugendlich und feurig, ja, er erschien von allen der Jüngste, er war heiter und lebensfroh. Der entschlossene Ernst, der seinen Charakter bestimmte, verschwand hinter der Wärme und Freundlichkeit seines Wesens, die allen menschlichen Belangen voll zugewandt waren.“ So ist es verständlich, dass Delp schon früh eine große Disziplin üben musste. Er musste sich nämlich in die Gemeinschaft des Ordens und der Ausbildung einfügen. „Für seine geistige Schulung sollte vor allem das Studium der scholastischen Philosophie ... nachhaltige Wirkungen auslösen. Zwar war Delp schon vorher vielseitig geistig interessiert, aber das Studium gab ihm jetzt eine Methode und eine klare Ausrichtung mit einer lebendigen Einübung eigenen Denkens. Er las viel, er diskutierte intensiv und hartnäckig.“ Delp lernte so in einer gewissen Spannung zu seinem Temperament die Unerlässlichkeit grundsätzlicher Überlegungen sowie die Klärung von Prinzipien und Kategorien. Gegenüber einer starken Komponente direkter Spontaneität in seinem Charakter, die er freilich nie verleugnete, kamen jetzt die tieferen Voraussetzungen für solide und gut begründete Antworten zum Tragen, gerade wenn es um Tagesfragen und aktuelle Probleme ging. Delp hat sich bewusst dieser Disziplin unterworfen. Das unmittelbar zupackende Naturell setzte sich freilich auch immer wieder durch, so dass Delp für seine Oberen kein einfacher Partner war und er sich auch immer wieder zu Äußerungen verführen ließ, die er danach ergänzen und korrigieren musste.
In der Ausbildung der Jesuiten gab es dann vor der Aufnahme der theologischen Studien im engeren Sinne die Tätigkeit als Erzieher in den Internaten der deutschen Jesuiten, besonders in Feldkirch und in St. Blasien. Die Aufgabe eines Präfekten war es, für Disziplin und die ordnungsgemäße Gestaltung des Internatslebens zu sorgen, aber auch gute pädagogische Programme für die Freizeit und die Schulferien vorzubereiten. Delp war bei den Zöglingen sehr beliebt. So schrieb er z. B. ein Theaterstück, das er auch inszenierte. Im Jahre 1934 musste die Belegschaft der „Stella Matutina“ – so hieß das Internat in Feldkirch – auf Befehl der nationalsozialistischen Regierung nach St. Blasien/Schwarzwald umziehen. Hier hat Alfred Delp die älteren Schüler zur nüchternen Betrachtung und Skepsis gegenüber dem Nationalsozialismus erzogen. Aus dieser Zeit stammt sein Spitzname „Bullus“, wie ihn auch Karl Rahner später noch liebevoll bezeichnen wird.
Ab Herbst 1934 setzte Alfred Delp sein Theologiestudium fort in Valkenburg in Holland, wo schon seit langer Zeit herausragende Lehrer, wie der spätere Kardinal Bea, waren, und in der Folgezeit große Ordenangehörige studierten, wie Karl Rahner und der später Jesuitengeneral Pedro Arrupe. Delp war von seinen Mitschülern und Lehrern wegen seiner raschen Auffassungsgabe sehr geschätzt. Im Übrigen setzte sich Delp sehr intensiv mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus auseinander. In Valkenburg schrieb Delp sein erstes Buch, das eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger wurde, nämlich „Tragische Existenz. Zur Philosophie Martin Heideggers“ (1935). Er fing ein zweites Buch an, das den Titel haben sollte „Der Aufbau. Die Existenzmächte des deutschen Menschen“ . Delp wollte mit diesem Buch die Ansätze im Aufbruch von 1933 christlich überdenken, musste aber bald einsehen, dass dies nicht möglich war. Immer mehr musste er feststellen, dass die Vorstellungen der „Deutschen Glaubensbewegung“ nicht vereinbar waren mit dem katholischen Glauben. Delp hat sich auch in Predigten damit auseinandergesetzt. Im Herbst 1936 begab sich Delp nach Frankfurt, St. Georgen, um an der dortigen Hochschule seine theologischen Studien fortzusetzen. Er setzte die Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten fort und wollte schließlich Alfred Rosenberg („Der Mythus des 20. Jahrhunderts“) besuchen und mit ihm diskutieren, wozu ihm freilich sein Provinzial, Pater Augustin Rösch SJ, keine Erlaubnis gab. Im Laufe des Frühjahrs 1937 wird Delp im Frankfurter Dom zum Subdiakon und Diakon geweiht. Von der Priesterweihe in München am 24. Juni und von der Primiz in Lampertheim am 4. Juli 1937 war schon die Rede.
Im Juli 1938 beendete Delp das letzte theologische Studienjahr in St. Georgen mit dem Lizentiat. Aus dieser Zeit ist eine kleine Schrift wichtig, „Skizze eines jesuitischen Menschenbildes“, in der er die Hoffnung und Erwartung zum Ausdruck brachte, „dass jede geschichtliche Stunde die entsprechenden Menschen finde, bereit und fähig, den fälligen Typ, die fällige Gestalt jesuitischen Menschentums zu leisten und zu verwirklichen.“ Traditionell schloss sich an die theologischen Studien das sogenannte „Terziat“ an, ein eher spirituell ausgerichtetes „Probejahr“. Delp verbrachte es auf der Rottmannshöhe am Starnberger See, streckenweise auch in der Stella Matutina in Feldkirch. Eine geplante Immatrikulation an der Philosophischen Fakultät der Universität München zum Weiterstudium wurde Ende Juli 1939 negativ beschieden: „Die Zulassung des Angehörigen des Jesuitenordens Alfred Delp zur Doktorprüfung an der philosophischen oder an der staatswissenschaftlichen Fakultät kann nicht genehmigt werden.“ Jesuiten waren in der neuen nationalsozialistischen Gesellschaft nicht willkommen. Auch Delps Angebot, als Kriegspfarrer an der Front zu dienen, wurde abgelehnt. Dieses Angebot zeigt, dass in jener Zeit Delp die Kategorien „Heimat“ und „Volk“ durchaus wichtig waren; so findet sich auch ein Artikel „Der Krieg als geistige Leistung“ . Das nationale Element ist nicht zu übersehen, ist aber nie eine letzte Größe.
Im Juli 1939 ging Alfred Delp zur Redaktion der „Stimmen der Zeit“ in der Veterinärstraße in München, unmittelbar bei der Ludwig-Maximilians-Universität. Er übernahm dort die Behandlung der sozialen Frage im wirtschaftlichen und politischen Leben. Diese Aufgabe war Delp geradezu auf den Leib zugeschnitten, denn für die Verarbeitung aktueller politischer und sozialer Probleme im Licht solider philosophischer und theologischer Grundsätze war er wie geschaffen. Er veröffentlichte insgesamt neun Beiträge in den „Stimmen der Zeit“. In dieser Zeit arbeitete Delp auch intensiv mit der „Hauptstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit“ in Fulda zusammen. Er war einer der wichtigsten Mitarbeiter dieser Zentralstelle (zwischen 1940 und 1943). In dieser Zeit bemüht sich Delp um ein positives, jedoch nüchternes Weltverständnis. Dies ergab auch Kontakte zur „Katholischen Arbeiterbewegung“. Zu ihr gehören so wichtige Mitglieder der Widerstandsbewegung, die ihr Leben verloren, wie Nikolaus Groß und Bernhard Letterhaus. Über das Kölner Ketteler-Haus der Westdeutschen KAB hatte Delp wohl engere Kontakte zu Anhängern der Widerstandsbewegung im Umkreis des 20. Juli 1944.
Als das Haus „Stimmen der Zeit“ beschlagnahmt wurde, mussten die Patres verschiedene Unterkünfte suchen. Pater Delp wurde im Juni 1941 Kirchenrektor an St. Georg in München-Bogenhausen. Damit beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Er hält viele Predigten und hat viel Zeit zum Schreiben. Dazu gehören die Arbeiten „Der Mensch und die Geschichte“ (1941), „Der Mensch vor sich selbst“ (1941), „Die dritte Idee“ (1944 verfasst, aber verloren gegangen). Er hält in dieser Zeit viele Vorträge auf Tagungen und Konferenzen. In der Pfarrei Heilig Blut, zu der St. Georg gehört, hält er Fastenpredigten, regt zur Bildung von Familienkreisen an und ermutigt die Laienarbeit, ganz besonders die Männerseelsorge. Delp war in dieser Zeit auch ein ungewöhnlich praktischer Mensch: nach Bombenangriffen half er in einem Arbeitsanzug beim Aufräumen der Trümmer, wobei z. B. verschüttete Familien ausgegraben wurden. Zu gleicher Zeit hat er sich auch für verfolgte Juden engagiert. Im Rückblick schrieb Delp später aus dem Gefängnis in Berlin-Tegel an Stadtpfarrer Max Blumschein (1884 – 1965) von Heilig Blut: Bogenhausen sei seine Gesellenzeit gewesen. „Meisterprüfung konnte ich dort nicht mehr machen, die muss ich hier machen.“
In dieser Münchener Zeit geschieht jedoch auch ein ziemlicher Wandel in den Beziehungen. Delp bricht vieles ab, weil er sich nun vorwiegend einer Sache widmen will. Er will seine neuen Freunden auch nicht gefährden. Seit 1940 trafen sich Männer und Frauen um Helmuth James Graf von Moltke, um sich über eine neue Ordnung nach dem Krieg in Deutschland Gedanken zu machen, denn sie waren überzeugt, dass der Untergang des Nationalsozialismus absehbar war. Mit seinem Provinzial Augustin Rösch SJ und seinem Ordensmitbruder Lothar König SJ gehörte Delp dem Münchener Zweig des „Kreisauer Kreises“ an. Rösch bahnte die Kontakte mit Graf von Moltke spätestens im Frühjahr 1942 an. Delp befasste sich vor allem mit der sozialen Gesellschaftsordnung nach dem Ende des Dritten Reichs und brachte die Forderungen der kirchlichen Sozialenzykliken den Mitgliedern des Kreisauer Kreises nahe. Delp arbeitete in dieser Zeit an einem Projekt „Die dritte Idee“. Er suchte eine Lösung der sozialen Frage jenseits von Kapitalismus und Marxismus. Er wollte einen „personalen Sozialismus“ schaffen als Grundlage für ein neues, demokratisches Nachkriegsdeutschland. Das Manuskript, das bis heute als verloren gelten muss, wurde im Jahr 1944 im Umfang von ca. 80 Seiten noch vor der Verhaftung Delps am 28. Juli fertig. Es war für eine Veröffentlichung im Alsatia-Verlag in Colmar bestimmt. Vermutlich haben die Mitbrüder diesen Text aus Sicherheitsgründen nach der Verhaftung vernichtet. Freilich lassen sich die Grundideen einigermaßen rekonstruieren. Ich verzichte jedoch hier auf eine nähere Darstellung von Delps Aktivitäten im „Kreisauer Kreis“ und überhaupt auf seine Rolle im Widerstand, da dies im Referat von Prof. Dr. Michael Kißener „Widerstand ohne Glauben?“ zur Darstellung kommt.
P. Delp wurde am 28. Juli 1944 als Mitglied des „Kreisauer Kreises“ verhaftet und war vom 7. August bis 27. September 1944 in der brutalen Gewalt der Gestapo. Anschließend war er in der Haftanstalt Berlin-Tegel, wo er am 8. Dezember vor Pater Franz Graf von Tattenbach seine letzten Ordensgelübde ablegen konnte. Der Prozess vor dem Volksgerichtshof in Berlin am 9. und 10. Januar endete am folgende Tag (11. Januar) mit dem Todesurteil wegen Hoch- und Landesverrates. Pater Delp wurde am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee am Galgen hingerichtet. Er durfte kein Grab erhalten. Die Asche seine Leichnams wurde auf Himmlers Befehl in den Rieselfeldern um Berlin zerstreut. Man wollte so das Andenken an ihn regelrecht auslöschen. P. Paul Bolkovac SJ hat unmittelbar nach dem Krieg die wichtigsten Texte von Alfred Delp, die aus dem Gefängnis in Berlin-Tegel herausgeschmuggelt worden waren (die „Kassiber“), in einem eindrucksvollen Band versammelt und herausgegeben: Im Angesicht des Todes. Geschrieben zwischen Verhaftung und Hinrichtung 1944-1945, Frankfurt 1947 (Verlag Josef Knecht), in 12. Auflage neu erschienen unter dem Titel „Mit gefesselten Händen. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis“ (Freiburg i.Br. 2007).
Nicht unerwähnt bleiben soll die besondere Feindseligkeit, die P. Delp als Jesuit immer wieder entgegenschlug. Dies gilt besonders für die „Verhandlung“ vor dem Volksgerichtshof mit dem hasserfüllten Stil von Roland Freisler, der einen besonderen Zorn auf die Jesuiten hatte. Deswegen ist die Bilanz der Opfer aus dem Jesuitenorden auch erschütternd: „Wie sehr die Jesuiten unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatten, machen die Zahlen deutlich: Von 380 deutschen Patres, die dem Zugriff der Nazis ausgesetzt waren, wurden 266 aus ihren Häusern vertrieben. Insgesamt hatten 80 Jesuiten unter den Übergriffen der Nazis zu leiden, die bestanden aus: Predigtverbot und -überwachung, Verhör, Verhaftung, Schutzhaft, Entzug der Unterrichtserlaubnis, Passverweigerung, Telefon- und/oder Postüberwachung, Hausarrest, Redeverbot, Beschlagnahme von Briefen, Schriften und Akten, Verwarnung, Zimmerdurchsuchung, Wehrunwürdigkeit, Aberkennung der Deutschen Staatsbürgerschaft, Landesverweis.“
III.
Die Monate in Berlin 1944/45 brachten nach dem Urteil vieler eine große Veränderung bei Alfred Delp. Der temperamentvolle, impulsive Mensch hat sich sehr gewandelt. Die Meditationen aus dem Gefängnis, gerade auch in der Advents- und Weihnachtszeit, offenbaren eine sehr große spirituelle Tiefe und Originalität. Man liest sie heute noch wie am ersten Tag. Ich denke etwa an die Betrachtung zum Dreikönigsfest 1945, also wenige Tage vor dem Prozess. Delp machte sich nichts vor über sein Schicksal, wenn er auch bis zuletzt hoffte – darum auch das Gnadengesuch.
In der Zeit der Haft hat er sich nie in sein eigenes Schicksal eingeschlossen. Es ist ganz erstaunlich, wie er in dieser äußersten Bedrängnis immer wieder über sich hinauszuschauen vermag. Wenige Tage vor seiner Hinrichtung schrieb er in einem Kassiber: „Wenn der Herrgott diesen Weg will – und alles Sichtbare deutet darauf hin –, dann muss ich ihn freiwillig und ohne Erbitterung gehen. Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“ Hier tut sich eine große Ähnlichkeit auf mit Dietrich Bonhoeffer und dessen Briefen und Notizen aus dem Gefängnis. Ein faszinierendes Beispiel ist der Brief Bonhoeffers mit den Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge aus Tegel Ende Mai 1944, wo es Bonhoeffer um die Zukunft der Familie, der Kirche und überhaupt der Menschen geht. Es ist eben kein Zufall, sondern spricht für die innere Glaubensverwandtschaft von Bonhoeffer und Delp, wenn auch Alfred Delp aus dem Gefängnis einen ähnlichen, freilich kürzeren Brief an den neugeborenen Sohn Alfred Sebastian des Rechtsanwaltes Dr. Ernst Kessler am 23. Januar 1945, also nach der Verurteilung, schreibt: „Du hast dir für den Anfang deines Lebens eine harte Zeit ausgesucht. Aber das macht nichts. Ein guter Kerl wird mit allem fertig. Du hast gute Eltern, die werden dich schon lehren, wie man die Dinge anpackt und meistert.“
Aber es geht nicht nur um die Zukunft einzelner Menschen. Es geht um die Zukunft aller Menschen und besonders auch der Kirche. Delps „Reflexionen über die Zukunft“ aus Berlin verraten auch in ihren kritischen und skeptischen Betrachtungen über die Gesellschaft, den Humanismus oder das Schicksal der Kirchen und Orden eine bange Ungewissheit vor dem, was werden wird. Hier zeigt sich, dass Delp bereit war, sich selbst zu vergessen, um dem Ernst gegenüber den größeren Aufgaben der Zeit vor aller persönlichen Sorge den ersten Platz einzuräumen. Auch die Haft, der Prozess und die Verurteilung minderten Alfred Delps Sorge um die Zukunft von Welt und Kirche nicht. Die Überlegungen unter dem Titel „Rechenschaft und Abschied“ aus den letzten Tagen nach der Verurteilung sind von einer besonderen Eindringlichkeit.
Manches in dieser Zeit klingt wie eine Prophetie, z.B. die Worte über die Zukunft der Kirche, über die Notwendigkeit der Ökumene und die tiefe Chance der Diakonie. Delp ist zutiefst davon überzeugt, dass die Zeitgenossen im Grunde ihres Wesens „gottunfähig“ sind. Er findet hier scharfe, aber auch sehr nüchterne Worte. Darum macht er sich auch keine Illusionen über die Zukunft der Kirche. Hier gibt es manchmal harte Worte. „Innerhalb ihrer selbst müssen die Kirchen um ihrer Existenz willen entschieden fertig werden mit der Schwärmerei und dem nachgeholten auflösenden Liberalismus. Hierarchie als echte Ordnung und Führung muss sein. Die Kirche soll dies wissen von ihren Ursprüngen her. [...] Man muss wieder wissen und spüren und erfahren, dass sie (die Hierarchie) die Rufe der Sehnsucht und der Zeit, der Gärung und der neuen Aufbrüche hört und beantwortet, dass die Anliegen der jeweils neuen Zeiten und Geschlechter nicht nur in den Aktenschränken abgelegt werden, sondern als ‚Anliegen’, d.h. Sorgen und Aufgaben gewertet und behandelt werden.“ Er blickt auch wachsam und kritisch auf die Geschichte der Kirche: „Wir haben durch unsere Existenz den Menschen das Vertrauen zu uns genommen. 2000 Jahre Geschichte sind nicht nur Segen und Empfehlungen, sondern auch Last und schwere Hemmung. Und gerade in den letzten Zeiten hat ein müde gewordener Mensch in der Kirche auch nur den müde gewordenen Menschen gefunden. Der dann noch die Unehrlichkeit beging, seine Müdigkeit hinter frommen Worten und Gebärden zu tarnen.“
Alfred Delp sieht hier geradezu wie ein Visionär zwei Sachverhalte, von denen es abhängig sein wird, „ob die Kirche noch einmal einen Weg zu diesen Menschen finden wird“. Dabei geht es um die Zerrissenheit und Einheit der Kirche und um den Dienst, die Diakonie am Menschen. Man muss schon die Texte selbst hören: „Das eine gleich vorweg: dies ist so selbstverständlich, dass ich es gar nicht weiter eigens aufzähle. Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben. Wir sollen uns damit abfinden, die Spaltung als geschichtliches Schicksal zu tragen und zugleich als Kreuz. Von den heute Lebenden würde sie keiner noch einmal vollziehen. Und zugleich soll sie unsere dauernde Schmach und Schande sein, da wir nicht imstande waren, das Erbe Christi, seine Liebe, unzerrissen zu hüten.“ Delp hat selbst dieses ökumenische Anliegen bei den Gesprächen im Kreisauer Kreis im Blick auf die Neuordnung Deutschlands umgesetzt.
Was die Diakonie angeht, dürfe die Kirche nicht weiter am ausgeraubt an der Straße liegenden Menschen vorbei ins Heiligtum eilen, wie der Priester und der Levit im Gleichnis Jesu vom Samariter (Lk 10, 25-37). Die Folgen wären schlimm: „Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen. Der Mensch heute ist krank. [...] Und der Mensch heute ist zugleich auf vielen Gebieten des Lebens ein überragender Könner geworden, der den Raum menschlicher Macht und Herrschaft sehr ausgeweitet hat. Er ist noch ganz benommen von diesem seinem neuen Können. Er spürt noch nicht manche innere Einbuße und Organverkümmerung, die er dafür eintauscht. Und er braucht sie auch anfangs noch gar nicht zu spüren. Vor allem: man braucht sie ihm nicht dauernd zu sagen und vorzuhalten. Eine kluge und weise Führung wird sie in Rechnung setzen, aber nicht dauernd davon reden. Dieser könnende und weltkluge Mensch ist sehr empfindlich gegen jede vermeintliche oder wirkliche Anmaßung.“ Schließlich wird diese Forderung einer Rückkehr in die „Diakonie“ mit unvergesslichen und weit vorausschauenden Worten umschrieben: „Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Stationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte und Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. ‚Geht hinaus’ hat der Meister gesagt, und nicht: ‚Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt.’ Damit meine ich die Sorge auch um den menschentümlichen Raum und die menschenwürdige Ordnung. [...] Damit meine ich die geistige Begegnung als echten Dialog, nicht als monologische Ansprache und monotone Quengelei.“ In diesem Zusammenhang fordert Delp „die Bereitschaft zu einer Revolution, das heißt, die Bereitschaft zu einer sozialen Umwälzung, damit eine Ordnung wieder wird, die es dem Menschen ermöglichst, menschgemäß und somit gottoffen und gottesbereit zu leben. Das frömmste Gebet kann leicht zur Blasphemie werden, wenn es unter Abfindung mit Zuständen oder gar unter ihrer Förderung gebetet wird, die den Menschen töten, ihn gottunfähig machen, ihn notwendig an seinen geistigen und sittlichen und religiösen Organen verkümmern lassen. Diese Bitte will Großes von Gott, ja letztlich ihn selbst. Sie entlässt den Menschen aber zugleich in eine große Verantwortung. Von deren Übernahme und Erfüllung hängt es ab, ob es sich wirklich um ein Gebet oder nur um frommes Gerede handelt.“ An Weihnachten 1944 kommt Delp auch kritisch auf die Kirche zu sprechen. Schon seit Anfang der 40er Jahre bezeichnet er Deutschland als Missionsland.
Dies alles wird von einem tiefen Ernst im Wissen um Größe und Grenzen der menschlichen Freiheit gesagt. Sie darf nicht allein betrachtet werden. „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.“ Für Delp, den Mann mit den gebundenen Händen, ist die Stunde der Begegnung mit Gott die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit. „Der Mensch muss sich selbst hinter sich gelassen haben, wenn er eine Ahnung von sich selbst bekommen will. [...] Man muss die Segel in den unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind.“ Es folgen die großen unvergesslichen Worte: „Adoro und Suscipe sind die beiden Urworte der menschlichen Freiheit. Das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen. [...] Mensch, lass dich los zu deinem Gott hin, und du wirst dich selbst wiederhaben. Jetzt haben dich andere, sie quälen dich und erschrecken dich und jagen dich von einer Not in die andere. Das ist dann die Freiheit, die singt: – uns kann kein Tod nicht töten. Das ist dann das Leben, das da ausfährt in die grenzenlose Weite. Adoro und Suscipe: Ihr Urworte des Lebens, ihr geraden und steilen Wege zu Gott, ihr Tore in der Fülle, ihr Wege des Menschen zu sich.“
IV.
Alfred Delp ist nicht selig- oder heiliggesprochen. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass irgendwo – zuerst an seinem Todesort Berlin oder in München, das mindestens von 1939–1944 seine wichtigste Heimat geworden war – ein Verfahren geplant wäre. Die Jesuiten Deutschlands haben sich intensiv für die Seligsprechung von P. Rupert Mayer SJ, dem Apostel Münchens, eingesetzt, der am 3. Mai 1987 von Johannes Paul II. im Münchener Olympia-Stadion seliggesprochen wurde. Er ist nach dem hl. Petrus Canisius, dem Kirchenlehrer und „Zweiten Apostel der Deutschen“, der zweite deutschsprachige Jesuit, der in den Kanon der Seligen und Heiligen aufgenommen worden ist.
Es mag angesichts der faszinierenden Gestalt von P. Alfred Delp überraschen, dass er nicht zu dieser Schar der offiziellen Seligen und Heiligen gehört. Aber wir finden dies ja öfter, gerade auch bei großen Gestalten der Mainzer Kirchengeschichte. Man denke nur an Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler und den Mainzer Pfarrer Franz Adam Landvogt. Ich will hier nicht näher darauf eingehen. Es gibt jedenfalls heiligmäßige Männer und Frauen, die durchaus auch einzelne menschliche Unvollkommenheiten haben. In jüngster Zeit hat es Aufsehen erregt, dass die 2003 seliggesprochene Mutter Teresa in ihrem Leben schwere Glaubensanfechtungen und vielleicht sogar Glaubenszweifel zu bestehen hatte. Es ist bekannt, dass Alfred Delp bei nicht wenigen gerade wegen seiner Spontaneität und Leidenschaftlichkeit als schwierig galt, vor allem auch bei seinen Oberen. Aber schließlich ist es höchst eindrucksvoll, in welcher Weise er in der Zeit zwischen Verhaftung und Hinrichtung menschlich und spirituell, nicht zuletzt auch als Priester und Jesuit gewachsen ist, oder noch genauer gesagt: gerade angesichts der Abgründe des drohenden Todes in eine tiefe Gleichförmigkeit mit Jesus Christus hineingewachsen ist. An seinem einmaligen Charisma kann kein Zweifel bestehen.
Mir scheint es unbestreitbar zu sein, dass Alfred Delp den Titel des Märtyrers verdient , auch wenn dafür bis jetzt kein formelles Selig- bzw. Heiligsprechungsverfahren stattgefunden hat. Unwillkürlich wird man an die Ankündigung Jesu in Mt 10,16–39 erinnert, die er an die Zwölf richtet: „Wenn man euch vor Gericht stellt, macht euch keine Sorgen, wie und was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde eingegeben, was ihr sagen sollt. Nicht ihr werdet dann reden, sondern der Geist eures Vaters wird durch euch reden.“ (10,19) Deswegen galt schon in der frühen Kirche das öffentlichen Zeugnis gefangengenommener Christen – das „Martyrium“ im ursprünglichen Sinne – als Charisma, das heißt als besondere Gabe des Heiligen Geistes und nicht als menschliche Leistung; Gottes Kraft erweist sich hier oft gerade in menschlicher Schwäche (vgl. 1 Kor 1,27). Delp hat bis zuletzt auf das „Wunder“ seiner Errettung vor dem Tod gehofft, ohne sich dabei über die Möglichkeit eines gegenteiligen Ausgangs hinwegzutäuschen. So schrieb er am Tag nach Verkündigung des Todesurteils: „Soll ich weiter hoffen? Will der Herrgott das Opfer, das ich ihm nicht versagen will oder will er die Bewährung des Glaubens und Vertrauens bis zum äußersten Punkt der Möglichkeit? ... Ist es Erziehung zur ganzen Freiheit und vollen Hingabe? Will er den ganzen Kelch bis zum letzten Tropfen und gehören dazu diese Stunden des Wartens und eigenartigen Advents? ... Ehrlich und gerade: ich würde gerne noch weiterleben und gern und jetzt erst recht weiter schaffen und viele neue Worte und Werte verkünden, die ich jetzt erst entdeckt habe. Es ist anders gekommen. Gott halte mich in der Kraft, ihm und seiner Fügung und Zulassung gewachsen zu sein.“
Jesus ist bei seiner Gefangennahme und Vernehmung durch Pilatus (vgl. Joh 18,28–19,19) bis zur Vollstreckung des Todesurteils an ihm den Weg als Zeuge allen vorausgegangen. Diesem „treuen Zeugen“ (griechisch „martys“, vgl. Offb 1,5) Jesus folgt der Märtyrer nach. „Wie zu dem Begriff des Märtyrers gehört, dass er von den öffentlichen, staatlichen Gewalten zur Rechenschaft gezogen wird ..., dass er einem öffentlichen Gerichtsverfahren und den Strafen des öffentlichen Rechtes unterworfen wird, so gehört auch das öffentliche Bekenntnis zum Namen Jesu wesentlich zum Begriff des Märtyrers. Indem aber der Märtyrer vor Gericht, im Bereiche der staatlichen Öffentlichkeit, sich zum dem bekennt, der in der Glorie des Vaters öffentlich wiederkommen wird, um diese Welt ... zu richten, sprengt er in seinem Bekenntnis den Öffentlichkeitsbegriff dieser Welt und macht in seinen Worten den Öffentlichkeitsanspruch einer anderen, einer kommenden, einer neuen Welt kund. Er, der sich auf Erden öffentlich zu Jesus bekennt, wird in dem Augenblick seines Bekenntnisses von Jesus im Himmel öffentlich bekannt ... Weil es ein Bekenntnis und kein Geständnis ist, darum sind die Worte des Märtyrers, die er vor den Organen der staatlichen Öffentlichkeit spricht, auch nicht menschliche Worte, sondern Worte, die der Heilige Geist des Vaters im Himmel in den Bekennern Jesu Christi spricht.“
Vor diesem Grundsatz ist Alfred Delp selbstverständlich – mit oder ohne Selig- bzw. Heiligsprechungsverfahren – ein wahrer Märtyrer, das heißt ein Zeuge Jesu Christi, der mit seiner ganzen Existenz für ihn eintritt. Man muss nur an die „Verhandlung“ vor dem Volksgerichtshof denken. Karl Rahner entfaltet dies für uns: „Heute, da wir bloß reden, leiden Unzählige um des Namens Jesu willen, leiden glaubend und duldend, unbekannt und ungerühmt, sühnend auch unsere Schuld der feigen Gleichgültigkeit, der Glaubensschwäche und der genusssüchtigen Mittelmäßigkeit. Sie sind die Opfer, von denen wir leben, sie gehen den Weg, der plötzlich auch für uns der einzige werden kann, der zum Leben führt, sie erfahren, welche Berufung in der Tiefe der Wirklichkeit auch uns zuteil wurde, da wir in der Taufe in den Tod Christi hineingetauft wurden und im Sakrament des Altares den Leib empfingen, der für uns in den Tod dahingegeben wurde. Sie sind die wahren Nachfolger des Herrn.“
Darum ist gerade Alfred Delp kein Mann für das Archiv oder das Museum. Er lässt sich nicht musealisieren. Er bleibt auch heute ein herausfordernder, unbequemer und unangepasster Christ, Priester und Jesuit. Auch für seinen Orden ist er eine charismatische, prophetische Gestalt. Wir haben noch längst nicht ausgeschöpft, was man von Alfred Delp lernen kann. Manchmal müssen viele Jahre vergehen, bis wir einen schon Verstorbenen in seiner Bedeutung wiederentdecken. Alfred Delp selbst kam es immer mehr auf seine Botschaft an: Ohne Gott kann man nicht richtig Mensch sein. Oder mit den Worten Erik Petersons: „Wir werden in dem Maße Mensch, als wir uns in unserer Existenz dem Menschensohne nähern. Die höchste Form der Annäherung an den Menschensohn in der Nachfolge ist aber die des Märtyrers. Er realisiert das, was Kierkegaard ‚die Gleichzeitigkeit mit Christus’ genannt hat. Von dem Märtyrer kann man also sagen, dass er am meisten ‚Mensch’ ist.“
Alfred Delps letztes Wort (Kassiber vom 30. Januar 1945) sprach aus, was er mit seinem ganzen Leben bezeugt hatte: „Beten und glauben. Danke!“
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
Der Beitrag erscheint (mit Fußnoten und Anmerkungen) in der Reihe "Mainzer Perspektiven".
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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