Die Menschheit hat lange gewartet. Die Adventszeit hat uns ein wenig daran erinnert. Nun ist die Erfüllung da, aber sie ist anders eingetroffen, als die allermeisten Religionen und Heilserwartungen es dachten. Gott kommt nicht mit augenfälliger Macht und eindruckstarker Herrlichkeit. Er kommt leise. Er kommt dadurch, dass er sich hilflos und ohnmächtig in einem Kind mitteilt. Aber dieses Kind ist nicht der langersehnte, verheißene Erbe eines Herrschergeschlechts, sondern am Ende stirbt er am Kreuz.
Aber diese Ohnmacht darf nicht verdecken, dass Gott selbst in diesem Ereignis der Selbsterniedrigung zu uns Menschen kommt und Wohnung bei uns nimmt. Die Kirche feiert dieses Geheimnis an Weihnachten – auch nach der Liturgiereform des 2. Vatikanischen Konzils – in drei verschiedenen Gottesdiensten: am Heiligenabend bzw. noch in der Heiligen Nacht, am Morgen und am Tag. Die Texte führen uns auch in der Tat vom Kommen Jesu Christi im Stall von Betlehem über den Jubel des einfachen Hirtenvolkes zur vollen Entfaltung des Geheimnisses der Geburt Jesu. Dies zeigen auch die Texte dieses Gottesdienstes (vgl. als Evangelium Joh 1, 1-18).
In diesen theologisch anspruchsvollen Aussagen wird der Sinn von Weihnachten für die ganze Welt erhellt. Die Linien seiner Bedeutung werden voll ausgezogen. So ist es auch mit den vorgesehenen Texten aus dem Hebräerbrief (vgl. 1, 1ff)und dem Titusbrief. Ihn wählen wir heute als Kernaussage mit dem zentralen Satz: „Als aber die Güte und die Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschienen ..." (Tit 3, 4).
Man kann die ganze Wucht dieses Satzes nur recht mitvollziehen, wenn man den ganzen Gegensatz zum bisherigen Leben der Menschen ins Auge fasst. Die Welt ändert sich durch diese Nacht ganz grundlegend: „Denn einst waren auch wir ohne Einsicht, ungehorsam, in Irrtum befangen, Sklaven von vielerlei Begierden und Lüsten, in Bosheit und Neid dahinlebend, verhasst und voll Hass gegeneinander." (3,3)
Wer lange gewartet hat und immer wieder versucht hat, aus dem Elend herauszukommen, spürt den Unterschied von „einst" und „heute". (vgl. ähnlich 1 Kor 6, 9-11; Kol 3,7-8; Eph 2, 2-10; 1 Petr 1, 14-21). Es sind nicht nur die heidnischen Laster, denn leider haben auch die bekehrten und getauften Christen immer wieder gefehlt. Um so stärker empfinden die Menschen und unter ihnen auch die Glaubenden, dass es des göttlichen Erbarmens, seiner Langmut und Milde bedarf, um überhaupt zu überleben. Gott ist wirklich der Retter schlechthin, der Heiland der Welt. Diese Rettung wird gerne auch mit dem Bild des heilenden Arztes umschrieben, manchmal auch mit einer geduldigen Erziehung des Volkes durch Gott hin zur Erkenntnis der Wahrheit (vgl. Tit 1,2; 2, 11-14; 1 Tim 2, 7).
Es gibt noch andere herausragende Eigenschaften des rettenden Gottes. Dabei ist es nicht schwer zu erkennen, dass auch die Erfahrungen im Umgang mit weltlichen Herrschern im Hintergrund steht. Zu diesen Tugenden zählt der Titusbrief in ganz besonderer Weise „Güte" und „Menschenfreundlichkeit". In der jüdischen Theologie, die sich auf dem Grund des Alten Testaments entwickelt, wird dies auch schon von Gott selbst ausgesagt. Es sind Wesenszüge Gottes, wie die Herrlichkeit, das Erbarmen und die Langmut (vgl auch Röm 2, 4 ; 11, 22; Eph 2, 7). „Güte" und „Menschenfreundlichkeit" (in der griechischen Sprache findet sich das uns bekannte Fremd- und Lehnwort „Philanthropie") werden auch nicht selten zusammen genannt.
„Menschenfreundlichkeit" sagt zunächst einmal so viel wie ein freundliches Verhalten, dass man zu jemand wohlwollend ist. So wird z.B. Paulus als Gefangener auf der Fahrt nach Rom wohlwollend behandelt (vgl. Apg 27, 3). Ähnlich erging es ihm nach dem Schiffbruch bei der Insel Malta, wo es heißt: „Die Einheimischen war uns gegenüber ungewöhnlich freundlich; sie zündeten ein Feuer an und holten uns alle zu sich, weil es zu regnen begann und kalt war." (Apg 28, 2). Es ist erstaunlich, dass dieses Wort von der Menschenfreundlichkeit sowohl der Menschen, ob sie nun auch Herrscher sind oder nicht, und Gottes im Neuen Testament äußerst selten vorkommt. Es ist nämlich, wie jemand gesagt hat, „ein Schlüsselwort der Epoche". Kann man die neue christliche Humanität nicht besser umschreiben als mit diesem Wort, das wir auch heute noch für das Motiv säkularer Wohltätigkeit benutzen?
Das Wort hat bestimmt auch damals seine Grenzen. Es erinnert immer wieder an die Herrscher. Da klingt Menschenfreundlichkeit nicht selten auch etwas herablassend, wie man sich eben zu Untergebenen verhält. Dennoch wagt der Verfasser des Titusbriefes dieses Wort, das die Christen erst später (ab dem 3. Jh.) öfter und weniger zurückhaltend benutzen. In diesem theologisch prägnanten Sinn ist es ja nur der Titusbrief, der es in unsere Lesung zentral und entscheidend verwendet (vgl. eine gewisse Nähe zu Weish 7, 25, auch 1, 6 und 7, 23).
Aber bei genauerem Zusehen zeigt sich auch, wie dieses Wort verwendet wird: „Als aber die Güte und die Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschienen ..." Es geht ganz und gar nicht um eine Menschenfreundlichkeit, wie wir sie längst zu kennen scheinen. Wir wollen nicht leugnen, dass es sie wirklich auch gibt. Man denke z.B. nur an die den Flutopfern zugekommene Hilfsbereitschaft. Aber sonst gibt es unter den Menschen ein Hauen und Stechen. Der Titusbrief, hinter dem gewiss ein Schüler des heiligen Paulus steht nimmt kein Blatt vor den Mund über die Zustände unter den Menschen und immer wieder geißelt er bei Jungen und Alten die Zustände (vgl. 3,1ff; 2, 1ff).
Aber nicht nur dies. Wir Menschen sind immer wieder versucht gottähnliche Eigenschaften den Menschen zuzuerkennen. Mancher Starkult hebt die Menschen in das Überirdische. Es sind nicht immer die Herrschenden, sondern die von uns Menschen geradezu göttlich Verehrten. Star heißt Stern, und Diva heißt „die Göttliche". Die Menschen schaffen sich oft ihren Gott nach dem eigenen Ebenbild. Vielleicht ist auch deshalb das Neue Testament vorsichtiger mit einem allgemeinen Gebrauch des damals als Modewort gebrauchten „Philanthropie".
Statt dessen wird aber nun in aller Klarheit gesagt, dass diese Menschenfreundlichkeit keine natürliche Eigenschaft des Menschen ist. Wir gehen nicht vom Menschen aus. An zwei wichtigen Stellen heißt es im Titusbrief: „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten." (2, 11), „Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschienen ... (3, 4). Das Wort von der Erscheinung und von Erscheinen täuscht. Es ist kein abgegriffenes Wort des Alltags. „Epiphanie" das Wort, das für die Bezeichnung von Weihnachten besonders im Osten in Gebrauch ist, ist ganz zentral. Es meint das geschichtlich fassbare Eingreifen und auch den Sieg Gottes in einer Auseinandersetzung. Die Bibel meint an unserer Stelle gewiss nicht nur das Kommen des Weltenrichters am Ende der Tage, sondern ganz gewiss auch die Menschwerdung Gottes. Dies ist die Gnade, die allen Menschen zugute kommt. Epiphanie meint das ganze Spektrum göttlicher Heilszuwendung zum Menschen, besonders das helfende Eingreifen Jesu Christi in seiner Menschwerdung und sein künftiges Handeln als Richter und Herr der Welt. So ist er auch jetzt gegenwärtig.
Dieses Kommen Gottes in unsere Welt ist das Evangelium selbst, die Offenbarung. Gott selbst enthüllt sich in seinem Sohn und schenkt sich uns schließlich, vor allem durch die Rechtfertigung, „durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist" (3, 5). Es sind nicht „unsere Werke", unsere Bemühungen und Anstrengungen allein, die uns retten, sondern am Ende ist es nur die Erlösung durch seine Gnade, die allein zum Ewigen Leben beruft (vgl. 3, 7).
Damit ist das Entscheidende für uns gesagt: Wir Menschen haben oft die wirkliche Menschenfreundlichkeit verloren, auch wenn wir das Wort von der Liebe oft genug im Mund führen und es auch durch andere Wörter ersetzen (Nächstenliebe, Caritas, Solidarität). Manche können es deshalb nicht mehr hören. Gott selbst zeigt uns ganz unerwartet, was Menschenfreundlichkeit ist, indem er Mensch wird und sich mit einem konkreten Menschenkind identifiziert. Er hat die kleinen Leute und die Erniedrigten und Bedrängten in ihrer Mühsal und Not wahrgenommen. Er teilt selbst das Leben der Menschen, die aus Ungerechtigkeit unter die Räder kommen. Das menschliche Leben, auch das wehrlose, auch das unvollkommen, sogar das misslingende, erhält von Gott her eine ganz neue Würde. Gott zeigt uns, was der Mensch bedeutet und was in ihm steckt. Sonst könnte nicht Gott Mensch werden. Darum zeigt uns Weihnachten gerade auch die Größe des Menschen, wenn er fähig ist, – wie die Theologen aller Zeiten sagen – Gott in sich auszunehmen. Weil es den Sohn Gottes gibt und wir uns Söhne des Sohnes heißen dürfen, sind wir untereinander Schwestern und Brüder. Darum entsteht an Weihnachten auch eine neue Nähe zum Menschen, so dass wir gründlich umlernen müssen im Umgang mit ihm: bereits mit den Menschen vor seiner Geburt, mit dem beschädigten und behinderten Menschenleben, mit den Kranken, mit den seelisch Verwundeten, mit den Armen und unter Gewalt Leidenden dieser Welt und schließlich mit den Sterbenden. Wir rufen stets nach einer neuen Humanität im Umgang mit diesen Situationen. Hier wird sie uns geschenkt. Wir bekommen Anteil an Gottes Menschenfreundlichkeit. Nicht zuletzt darum sammeln wir heute auch unsere Gaben und unsere Liebe für die Menschen in Mittel- und Südamerika (Adveniat). Aber es gilt überall, auch und gerade in unseren nächsten und engsten Beziehungen, das was Weihnachten uns mit diesem Wort der Güte und Menschenfreundlichkeit besonders zuruft: Mach´es wie Gott, werde Mensch! Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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