„Am Leben teilhaben“

Grußwort zum 100. Gründungsjubiläum des heutigen Fachverbandes „Caritas-Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP), im Franz Sales-Haus in Essen am 7. Juni 2005

Datum:
Dienstag, 7. Juni 2005

Grußwort zum 100. Gründungsjubiläum des heutigen Fachverbandes „Caritas-Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP), im Franz Sales-Haus in Essen am 7. Juni 2005

Vor 100 Jahren, im Oktober 1905, wurde in diesem Haus der Verband Katholischer Einrichtungen für Lern- und Geistigbehinderte (VKELG) gegründet. Dieses Jubiläum ist heute Anlass für die Nachfolgeorganisation, den Fachverband „Caritas-Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V.“, mit dem Leitwort „Am Leben teilhaben“ diesen Jubiläums-Fachkongress zu veranstalten. Ich danke herzlich allen, die im letzten Jahrhundert mit ihrer Arbeit für und mit behinderten Menschen einen wichtigen Dienst christlicher Nächstenliebe geleistet haben und weiter leisten. Im Namen der Deutschen Bischofskonferenz und besonders auch persönlich gratuliere ich Ihnen herzlich und wünsche Ihnen für die kommenden Jahre Gottes reichen Segen. Ich möchte hier nicht den Festvortrag von Professor Dr. Mieth vorwegnehmen. Daher erlauben Sie mir, nur einige wenige Worte zu sagen zum Thema dieses Jubiläums, das wir heute feiern.

Für behinderte Menschen ist im Blick auf die materielle Seite der Rehabilitation (Gesetze, Finanzen, Personal, Bauten) in verhältnismäßig kurzer Zeit sehr viel mehr geschehen als in langen Zeiträumen vorher. Dies soll nicht bedeuten, der Ausbau würde auch in dieser Hinsicht nicht noch sehr viel mehr erfordern. Spätestens im 19. Jahrhundert hat man Anstalten für Behinderte mannigfacher Art gegründet, entweder auf staatliche oder auf kirchliche Initiative hin. Man hat die damit gegebene Aufgabe zunächst so gelöst, dass man alle diejenigen, die eine bestimmte Form der Behinderung hatten, in eigens für sie errichtete Häuser zusammengefasst hat. Diese räumliche und organisatorische Zusammenfassung hat einerseits eine fachspezifische Hilfe gewährt, wie sie unumgänglich geworden ist; aber zugleich entstand ein anderes Problem, nämlich die Gefahr einer sozialen Isolierung der Behinderten von der Gesellschaft. Bewusst war dies wohl nicht beabsichtigt. Aber man kam dadurch auch - mindestens heimlichen - Bedürfnissen der Gesellschaft entgegen. Die Gesellschaft hatte nämlich schon früh gegen Glieder, die mit einem Leiden behaftet sind, ein ambivalentes, ja nicht selten sogar feindseliges Verhalten ausgebildet. Die so genannten „Gesunden“ sind froh, wenn sie die Leidenden nicht zu sehen brauchen. Dieser Gesichtspunkt wird später nochmals aufgegriffen werden müssen.

In der Situation einer solchen Isolierung stehen sich Behinderte und vor allem Betreuer gegenüber. Es ist ganz unvermeidlich, dass sich durch diese Struktur eine bestimmte Mentalität ausprägt. Der Umgang mit Behinderten erschöpft sich unter Umständen allein in der Fürsorge. Man darf dies nicht von vornherein negativ sehen: Man hat einiges für den Behinderten getan. Man konnte seine Lebensbedingungen verbessern, man konnte eine erste Stufe der Verelendung überwinden. Aber dieses fürsorgliche Gegenüber von Behinderten und Betreuern kann sehr kühl bleiben. Diese Möglichkeit kann sich sogar unter den heutigen Arbeitsbedingungen trotz der gesetzlichen Gleichstellung nur zu leicht steigern: Ich denke an die Bedeutung technisch apparativer Prozesse, den Rang organisatorischer Abläufe, funktionale Gesichtspunkte und das Zurücktreten personaler Vollzüge (sofern sie überhaupt möglich sind), die Vielzahl von spezialisierten Betreuern und andere Dinge.

An dieser Stelle hat das zwar schon etwas ältere, jedoch noch nicht erledigte Schlagwort von der „partnerschaftlichen Hilfe“ sein Recht. Der Helfende hat sich als Partner des Hilfsbedürftigen zu sehen. Es ist ein leicht aggressiver Begriff, da ihm als Gegenpol immer die Betreuung des Behinderten als „Objekt“ gegenübersteht. Auch wenn man sich noch so partnerschaftlich bemüht, so bleibt der Behinderte dadurch doch in der Gefahr, als distanziertes, anderes Gegenüber in eine Ausnahmesituation gedrängt zu werden. Behinderte werden zu einer Sondergruppe, die man nachträglich mit den „Gesunden“ zusammenbringt.

Wenn diese Isolierung bemerkt wird, ertönt der Ruf nach „Integration“. Das ist zunächst ein gut gemeintes Programm. Es geht darum, dem Behinderten im Maße der gegebenen Möglichkeiten die Rollen für ein relativ „normales“ Leben in der menschlichen Gesellschaft zurückzugeben. Dieses „Einfügen“ in die Lebensbedingungen der Gesellschaft wird immer wieder und sehr bald an seine Grenzen stoßen. Noch fragwürdiger ist jedoch eine Integration in ein „Gefüge“, das man oft in seinem Selbstverständnis und in seiner Ausrichtung gar nicht befragt. Nur die Nicht-Eingefügten stellen ein Problem dar. Die Gesellschaft, d.h. wir selbst, stellt sich nicht in Frage. Ihre Lebensbedingungen werden mit einer Selbstverständlichkeit z.B. nach dem Grad der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ausgerichtet.

Es zeigt sich, dass ein wirklich gemeinsamer Boden fehlt. Es wird kaum gefragt, was wir, d.h. Behinderte und Nicht-Behinderte, eigentlich sind. Weitgehend verläuft alles nach einer Einbahnstraße des Versorgens und des Gebens. Ich habe schon früher mit dem Stichwort „heilende Gemeinschaft“ versucht, ein umfassenderes Fundament zu legen. Auf diesem Grund sind zwei eng zusammengehörende Dimensionen zu entfalten: Die Behinderten einerseits brauchen als ihre Heimat eine heilende Gemeinschaft mit den Nichtbehinderten, um aus ihrer Isolation befreit zu werden und um wenigstens bis zu einem gewissen Grad für ihr Leben eine Anerkennung zu finden. Die „Gesunden“ anderseits brauchen die Behinderten, um sich der Fesselung durch die selbstverständlichen Maßstäbe des gesellschaftlichen Lebens bewusst zu werden und zu einem neuen Lebensstil zu finden. Dies gilt nicht nur privat-individuell, sondern auch im Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Zusammenlebens.

Es ist ein sehr verkürztes Menschenbild, wenn Behinderung schlechthin als das Schockierende und Entsetzliche gilt - und alles Weitere gar nicht zur Sprache kommt. Allein schon die bloße Existenz Behinderter und ein Minimum an Gemeinschaft mit ihnen kann aber für die „Gesunden“ heilend sein, weil sie dadurch aus einer höchst fragwürdigen Sicht ihrer selbst und der Welt befreit werden und auch das Gefährdete und Bodenlose ihrer eigenen Existenz entdecken können. Falls ein solches Menschenbild auch noch „Gott“ zum Garanten der Ordnung des immer Erfolgreichen und Stärkeren macht, wird sein Name ideologisch missbraucht. Der biblische Gott sagt Ja zu jedem Menschen. Dieser ist auch als Behinderter ein letzter Zweck in sich selbst und darf nicht nur nach der Übernahme gesellschaftlicher Rollen und einem dazugehörigen Effektivitätsdenken beurteilt werden. Christlich verstandene Personalität transzendiert jede Rolle. „Gott“ ist nicht ein anderer Name bloß für den Sieg und den Erfolg. „Gott“ geht nicht auf in der Summe unserer Erwartungen. Weil er zu jedem Menschen Ja sagt, liebt er auch das beschädigte oder beeinträchtigte Leben. Der biblische Gott ist in besonderer Weise ein Helfer der Schwachen und Hinfälligen. Gott kann Not und Leid nicht schlechthin beheben, aber er kann es erträglicher machen.

Der mit der Schwäche und den Grenzen der Kreatur leidende Gott offenbart sich voll und ganz in Jesus Christus. Er nimmt all unsere Schwäche an, vor allem die vom Menschen verursachten Folgen der Sünde in der Welt. So leidet er auch stellvertretend an unserer Stelle und für uns. Er nimmt unsere Schwäche an, damit wir stark werden. Er wird arm, damit wir reich werden. Nach diesem Gesetz der Stellvertretung kann einer des anderen Last annehmen. Hier liegt ein Grundprinzip der christlichen Zuwendung zum Behinderten und zu allem, was als schwach gilt: „Darum nehmt einander an, wie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes“ (Röm 15,7). Hierdurch werden die herrschenden Normen und die Erfolgszwänge verändert.

Die Kirche ist nur dann Gemeinde Jesu Christi, wenn sie in seinem Geist lebt und auch in den von ihr getragenen Einrichtungen davon etwas zur Sprache bringt. Sie muss also in der Gesellschaft am meisten den Mut haben, den falschen Menschenbildern zu widersprechen und neue Maßstäbe sichtbar zu machen. Die Kirche muss darum zu einer besonderen Stätte heilender Gemeinschaft zwischen Behinderten und Nichtbehinderten werden. Dies gilt nicht nur für spezielle Behinderteneinrichtungen, sondern für jede christliche Gemeinde. Es ist jedoch noch sehr viel aufzuholen, weil zwischen Pastoral und Diakonie / Caritas als Grundfunktionen der Gemeinde zumeist eben doch eine große Lücke besteht. Hier müssen wir weiter im Gespräch bleiben. Es fängt oft schon im Kleinen an, etwa in unserer Wortwahl bei der Rede von „den Behinderten“. Es geht immer um konkrete Menschen mit ihrer Geschichte, ihren Hoffnungen und ihrem konkreten Alltagsleben. Am Leben teilzuhaben ist kein Gnadenerweis, den wir durch eigene Macht von außen anderen Mitmenschen gewähren könnten. Wir müssen diese Gnade Gottes für alle Menschen in einem gerechten Verhältnis ermöglichen, zumindest aber nicht verhindern. Oft stehen wir uns dabei selbst im Weg.

Das Schlusswort soll einem Briefauszug gehören, den der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig hinterließ. In einem Brief an seine Schwester, die offenbar behindert ist, schreibt er; „Meine liebe kleine Schwester, ich danke dir für deine lieben Worte. Weißt du, dass es dir gar nicht leid zu tun braucht, dass du nicht selbst die Kraft hattest, dir 'die Wahrheit mal richtig zu sagen, dir zu helfen'? Denn kein Mensch hat diese Kraft. Kein Mensch kann sich selber helfen. Die Welt ist zwar voller Leute, die sich das einreden, aber es gelingt ihnen allen so wenig, wie Münchhausen gelang, sich an seinem eigenen Schopfe aus dem Sumpfe zu ziehen. Jeder kann immer nur den andern, der ihm gerade zunächst im Sumpfe steckt, beim Schopfe fassen. Dies ist der ‚Nächste’, von dem die Bibel redet. Und das Wunderbare dabei ist nur, dass jeder selber im Sumpf steckt und trotzdem kann er den Nächsten herausziehen oder vielmehr vor dem Versinken bewahren. Boden unter den Füßen hat keiner, jeder wird nur gehalten von andern ‚nächsten’ Händen, die ihn beim Schopf packen, und so hält einer den andern und oft, ja meist ganz natürlich (denn sie sind ja gegenseitig sich ‚Nächste’) beide sich gegenseitig. Diese ganz mechanisch unmögliche gegenseitige Halterei ist dann freilich erst möglich dadurch, dass die große Hand von oben alle diese haltenden Menschenhände selber bei den Handgelenken hält. Von ihr her und nicht von irgendeinem gar nicht vorhandenen ‚Boden unter den Füßen’ kommt allen Menschen die Kraft, zu halten und zu helfen. Es gibt kein Stehen, nur ein Getragenwerden.“

Diese Wahrheit ist dem alten und neuen Gottesvolk gemeinsam. Auch der Jünger Jesu Christi kann es nicht besser sagen, worauf es ankommt. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen und uns Gottes reichen Segen für diesen wichtigen Dienst am Menschen. Nur wenige Menschen - Helfer, Lehrer oder betroffene Eltern und Geschwister - haben regelmäßigen Kontakt mit behinderten Menschen. Dieser tägliche Umgang und die berufsmäßig erlernte Hilfe sind etwas ganz anderes als eine gelegentliche und fast zufällige Begegnung. Leider wird dieser Umgang allzu leicht als „Problem“ auf die so genannten „Fachleute“ abgeschoben. Dabei kann die Begegnung für alle Beteiligten zur Bereicherung werden, zur gemeinsamen Teilhabe am Leben. Das ist unser Auftrag. Umso herzlicher sei Ihnen heute „Vergelt’s Gott!“ gesagt.

© Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz