Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Mai 2008
Wenn wir den Sinn des Fremdwortes „Ambivalenz" erfragen, gibt uns das Wörterbuch die Auskunft, dies sei gleichbedeutend mit Zwiespältigkeit und Zerrissenheit, ja auch vielleicht Widersprüchlichkeit. Man sagt auch Ambiguität. Der Ursprung des Wortes ist noch leicht vom Lateinischen her zu verstehen: nach beiden Seiten hin gültig. Als Fremdwort kam der Begriff erst so recht im 20. Jahrhundert auf. Dies ist wohl nicht zufällig. Es kennzeichnet in besonderer Weise einen Zug unserer Zeit, der näherer Betrachtung bedarf.
Nun sind wir Menschen durch unsere Unvollkommenheit und durch unsere Endlichkeit in gewisser Weise immer zwiespältig nach mehreren Seiten hin ausgestreckt und manchmal auch zwischen ihnen zerrissen. Wir sind nicht absolut und allmächtig, um gleichzeitig immer alles im Griff zu haben.
Aber wir finden uns damit nicht so leicht ab. Wir möchten gerne eine völlig übersichtliche Welt schaffen. Die Planung verspricht uns dies oft. Deshalb wollen wir ganz eindeutige und unumstößliche Ziele verwirklichen: Harmonie, Sicherheit, Wahrheit, Humanität. Gerade die Moderne hat jedoch tief erfahren, dass man auf diesem Weg oft nicht das ersehnte Ziel erreicht. Das Gegenteil ist der Fall, wie besonders alle Ideologien - in schrecklicher Weise der Nationalsozialismus und in seiner Folge der Holocaust - dies belegen. Man kann dem Teufelskreis der Ambivalenz nicht entkommen und nicht alles durchschaubar machen. Man kann diese Ambivalenz gerade in unserer modernen Welt nicht einfach ausschalten. Sonst droht rasch irgendeine Form der Diktatur.
Darum gibt es keine Bilanz mehr ohne Verlustseite. Man muss nüchtern die Rück- und Nachtseite allen so genannten Fortschritts bekennen und in Rechnung stellen. Vieles hat grundlegend ein doppeltes Gesicht: es ist zugleich Fluch und Chance.
Viele verherrlichen diese Entwicklung. Sie sprechen von einer illusionslosen Moderne. Es sei das Ende der Eindeutigkeit und der Abschied von Prinzipien überhaupt. Die Anerkennung von Ambivalenz und Ambiguität habe eine eigene Fruchtbarkeit, gewähre dem Menschen die Freiheit der Wahl und schaffe eine produktive Vieldeutigkeit. Dies sei ein Gewinn von Sinnfülle, Reichtum und Vielschichtigkeit unserer Wirklichkeit.
Soweit brauchen wir hier nicht zu gehen. Hier muss zweifellos noch vieles geklärt werden. Aber die aufgezeigte Ambivalenz kann uns im Alltag unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens helfen. Die Zweideutigkeiten verlassen uns nicht. Wenn wir glauben, Biosprit sei das Heilmittel für die notwendigen ökologischen Einschränkungen, dann spüren wir bald - wie in unseren Tagen - auch die negativen Nebenwirkungen. Der Streit für oder gegen ein Kohlkraftwerk zeigt, wie schwer die Entscheidung auch für Experten ist. Wir bezahlen immer einen hohen Preis, wenn wir die Doppelseitigkeit und Vieldeutigkeit unserer Prozesse nicht in Rechnung stellen, sie gar verdrängen.
Was kann man daraus lernen? Zuerst einmal müssen wir noch viel ernster nehmen, was wir in der Tat auch schon immer wissen: jedes Ding hat zwei Seiten. Aber dies ist viel grundsätzlicher geworden. Wenn wir dies beachten, können wir auch viele Probleme und Lösungsvorschläge im Wissen um ihre Vorläufigkeit und Brüchigkeit leichter angehen und anderen Vorschlägen toleranter begegnen. Die Ambivalenz verträgt keine ideologisch motivierte Eindeutigkeit. Dies kann uns im oft so undurchschaubaren Gewirr unseres Alltags vorsichtiger und behutsamer machen. Wir kommen dann eher zu einvernehmlichen Lösungen und sind in ganz besonderer Weise darauf angewiesen, offener miteinander zu sprechen und besser aufeinander zu hören. Wir entdecken dann auch die positiven Seiten anderer Positionen.
Dies muss und darf nicht unser ganzes Lebensgefühl bestimmen. Auch wenn „Ambivalenz" ein wichtiges Kennzeichen unserer Epoche ist, so darf sie nicht alle unsere Lebensverhältnisse bestimmen. Es gibt in unserem Leben auch Entschiedenheit und Verlässlichkeit, Treue und Rückhalt im Glauben. Diese Kräfte brauchen wir bei so viel Ambivalenz erst recht. Aber wir können sie gerade auch als Kirche nur dann glaubwürdig und realistisch verkünden, wenn wir zugleich nüchtern sehen, in wie tiefe Ambivalenzen die Menschen heute verstrickt sind.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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